Der Krieg am Ende der Welt. Ich verstehe, wie es sein kann, dass Mario Vargas Llosa, der in literaturkritischen Fragen sich meist recht sicher bewegt, diesen Roman als sein formvollendetstes Werk bezeichnet haben soll. Und ich verstehe ebenso, warum man heute, wenn man über Llosas große Romane spricht, an diesen Text nur noch selten denkt.
Denn Der Krieg am Ende der Welt gehört definitiv unter die „großen Romane“, unter die Texte, die Llosa in seiner ersten großen Werkphase als „Totale Romane“ bezeichnet hat. Texte, die versuchen, eine Gesellschaft, oder von mir aus präziser eine momentane gesellschaftliche Lage, durch eine besondere Situation in ihrer Totalität zu begreifen. Das grüne Haus, Gespräch in der Kathedrale, sind anerkanntermaßen solche Texte. Sie untersuchen das Stadt-Land-Gefälle in Peru bzw. das städtische Peru in der Zeit der Odria-Diktatur. Des weiteren aber auch Der Geschichtenerzähler, das den Blick stärker auf die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung lenkt und Das Fest des Ziegenbocks, gewissermaßen ein vereinfachtes Gespräch in der Kathedrale mit Schwerpunkt Dominikanische Republik/Haiti. Zuletzt dann noch der unglaublich schwache Thesenroman Harte Jahre. Und eben Der Krieg am Ende der Welt. Jener nimmt den realen Krieg von Canudos zum Ausgangspunkt, um eine Geschichte rund um religiösen Fanatismus, Urkommunismus, den sich immer wieder wiederholenden Teufelskreis lateinamerikanischer Staaten zwischen Republikanismus, Wirtschaftsdiktatur, Monarchie bzw. Landoligarchie, Linker Gegenbewegung und sozialistischer Diktatur und die unerwarteten Bündnisse in einem solchen Kampf zu erzählen. Im Mittelpunkt stehen der „Ratgeber“ und seine Gefolgschaft, die in Canudos Land besetzen, das ökonomisch so uninteressant ist, dass die Besetzung anfangs noch nicht einmal gemeldet wird. Dort bauen sie eine charismatisch-christliche Gemeinschaft auf, in der liberale Kommentatoren kommunistische Momente erkennen. Geteilte Arbeit, geteilte Güte und etwas, worin man aus der fernen Hauptstadt „freie Liebe“ auszumachen glaubt.
Diese aufgeklärt Perspektive wird vor allem von einige Regierungsmitgliedern, Journalisten und dem durch die Welt driftenden italienischen revolutionär Galileo Gall eingenommen. Der wird dann von den Republikanern beauftragt, die Aufständischen mit Waffen zu versorgen, da die so hoffen, die noch schwache Republik zu stärken und die Monarchisten zu schwächen. Der Adel dagegen zeigt eine gewisse Solidarität mit den „Kommunisten“, weil er sich davon Vorteile erhofft. Was daraus an Entwicklungen bzw. Verwicklungen hervorgeht, liest man bei Interesse am besten selbst nach. Die Handlung folgt dabei wechselnd den zentralen Personen beziehungsweise Örtlichkeiten. Also dem Ratgeber, Gall, und zuerst der Rezeption der Besetzung aus der perspektive der Hauptstadt, und später einem Journalisten, der das Heer Richtung Canudos begleitet und der in der zweiten Hälfte immer stärker zur Hauptfigur avanciert.
Der Roman ist durchaus auch sprachlich und formal stark gearbeitet. Llosa bedient sich eines relativ ruhigen, ausgreifenden Stils, gesättigt von einem gewissen Pathos, das zwar nicht biblische Geschichten imitiert, doch an solche zumindest erinnert. Die Bilder, wenn der Ratgeber durchs Land reist und Gefolgschaft sammelt sind stark, ebenso, wenn Gall auf seine Mission aufbricht. Prärie, Gesetzlose, tiefer Glauben und absolute Skrupellosigkeit. Die Figuren, die sich auf Seiten des Ratgebers sammeln, sind interessant bis skurril. Ausgestoßene, Mörder ebenso wie Menschen, deren Familie ermordet wurde. Menschen mit körperlichen Besonderheiten, die sonst nirgends einen Platz finden. Einfache Bauern, für die es bisher wenig Unterschied gemacht hat ob sie in einer Monarchie oder einer Republik leben. Auch Indigene rund um das besetzte Canudos sympathisieren. Zwischenzeitlich verweilt die Erzählung länger in einem Zirkus, den es schließlich nach Canudos verschlagen wird. Und für all das ist die sprachliche Gestaltung wirklich absolut adäquat und am Anfang glaubt man ein monumentales und phänomenales Buch vor sich zu haben.
Und doch habe ich abseits der gröbsten Züge der Handlung von meiner ersten Lektüre fast alles vergessen. Und mit der Zeit stellt sich auch beim zweiten Lesen die Langeweile ein und ich fürchte am Ende wird wieder fast alles vergessen sein. Das Problem: Nachdem Llosa die entscheidenden Figuren und Momente richtig platziert hat, so etwa ab Seite 200 bis 300 von den insgesamt immerhin über 700 Seiten, ist das Verhängnis, das sich abzeichnet, absolut klar und der Roman zuerst ein einziges retardierendes Moment, dann ein langes großes Gemetzel. Das steht in der Tradition des „Indigenen Romans“ (nicht zwingend Romane, die von Indigenen verfasst sind), der angesichts der Verbrechen an den amerikanischen Ureinwohnern kaum anders enden darf, besonders spannend liest es sich allerdings nicht. Und dann stellt man fest, dass eben auch die Figuren die Handlung nicht wirklich tragen. Auch ihre Konflikte, wo sie bestehen, sind spätestens ab der Mitte des Buches weitgehend auserzählt. Ihnen fehlt die doppelte Lebendigkeit etwa von Das grüne Haus und Gespräch in der Kathedrale. Die innere: Sie wirken weniger stark realisiert, obwohl mehr Zeit auf einzelne Figuren verwendet wird. Und sozusagen die Äussere: jene Lebendigkeit, die durch das Aufbrechen der klassischen Romanform entstehen kann und die es in den beiden früheren Texten Llosa erlaubte, durch Andeutungen, Zeitsprünge und die Montage disparater Momente so viel mehr über eine Figur in deutlich weniger Worten zu erzählen. Und Llosa erkennt das Problem, deshalb schaltet er dem letzten Viertel des Romans immer wieder in bewährter Manier ein zurückblickendes Gespräch über Canudos zwischen dem Baron, einem enteigneten Großgrundbesitzer, und dem Journalisten ein, der dem Gemetzel entkommen ist. Das bedeutet aber auch: Noch mehr Text, ein nochmaliges Durchwalken von Dingen, die längst recht klar sind.
So sehr es seinen Grund hatte, dass Llosa nach seinen beiden großen Romanen zu einem einfacheren Stil zurückkehrte, so sehr hatte es eben durchaus seinen Grund, dass es fragwürdig wurde, in genau diesem Stil zu erzählen, insbesondere wenn ein Roman, wie Llosa es nennt, „total“ werden soll, also nicht nur eine nette Geschichte erzählen, sondern etwas begreifen. Und in diesem Fall sogar: Ein ziemlich großes Ganzes.
Nun könnte man sagen: Der Roman erzählt vom späten 19 Jahrhundert, warum nicht erzählen wie im späten 19 Jahrhundert? Doch Der Krieg am Ende der Welt will deutlich mehr sein als eine Geschichte von „früher“. Zum Glück. Es ist eine weitere Variation auf Llosas Kernfrage, „warum hat sich Lateinamerika in die Scheiße gesetzt?“ (Das Leitmotiv von Gespräch in der Kathedrale, damals am beispiel Perus). Und das wiederum gemeint als zeitlose Frage: Warum durchlaufen so viele lateinamerikanische Staaten diesen scheinbar nicht zu durchbrechenden Teufelskreis aus wenig nachhaltigen Revolutionen und Diktaturen? Wer theorielastige Antworten sucht, findet wahrscheinlich in Der Krieg am Ende der Welt mit die besten Versuche Llosas (kondensiert auf 444ff und 589-591 in der schwarzen Suhrkamp-Ausgabe), solche zu geben und das durchaus in einem insgesamt sauber und routiniert gearbeiteten Roman. Das ist, denke ich, der Grund, warum der Autor das Werk so hoch schätzt. Wer aber ein literarisches Kunstwerk sucht, das sich erzählerisch mit diesen Themen beschäftigt, findet bei Llosa mindestens drei, eher fünf bis sechs stärkere Werke. Das ist der Grund, warum man, wenn es um Llosas große Romane geht, so selten von Der Krieg am Ende der Welt spricht. Faszinierend ist der Text durchaus, und in ein bis zwei Jahrzehnten werde ich ihn nochmal wiederlesen, um mich zu erinnern, warum. Aber Llosa hat Texte verfasst, die man wirklich regelmäßig lesen will. Dazu gehört dieser nicht.
Bild: Wiki, gemeinfrei
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