Llosas „Tante Julia“ – Witzig-Chaotische Selbstparodie mit etwas zu viel Schmalz.

„Tante Julia und der Kunstschreiber“ gilt nach dem vergessenswerten „Der Hauptmann und sein Frauenbataillon“ als der zweite Roman der einfacheren Werkphase Vargas Llosas. An diesem Roman lässt sich einerseits gut zeigen, wie bewusst dieser Wechsel stattfand, andererseits, dass das mit der Einfachheit vielleicht selbst ein bisschen einfach gesprochen ist.

Einerseits handelt es sich scheinbar tatsächlich um eine relativ einfache Liebesgeschichte. Varguitas, ein junger Schriftsteller, verliebt sich in die deutlich ältere sehr attraktive Tante Julia. Diese bei Familie und Gesellschaft offenkundig nicht mit Freude aufgenommene Liebesgeschichte bildet zugleich den Rahmen für Varguitas Interesse am erfolgreichen Radio Drehbuchautor Camacho, seine Bekanntschaft und zunehmende Enttäuschung mit diesem Autor, dessen Aufgabe Varguitas in der Folge des Romans zeitweise übernimmt.
Camacho verfasst parallel zahlreiche Endlos-Seifenopern mit sich immer ähnelnden Hauptcharakteren (Adlernase, breite Stirn) sowie sich drastisch entwickelnden Handlungssträngen. Doch über dieser Jonglage bricht Camacho mit der Zeit zusammen, Figuren tauchen in den falschen Geschichten auf und das Handlungsgeflecht wird immer chaotischer. Man könnte aber auch sagen: immer enger verwoben. Offenkundig ist das gewissermaßen auch Selbstparodie oder vielleicht ein Seitenhieb auf Epigonen. Die Gewalt der Geschichten, die Camacho überwältigt, führt unfreiwillig zu einem Erzählstil, an dem Llosa ganz freiwillig über Jahrzehnte für seine beiden großen Meisterwerke „Das grüne Haus“ und „Gespräch in der „Kathedrale““ gefeilt hat. Ich glaube nicht, dass Llosa damit andeuten will, es handele sich bei diesen beiden Texten eigentlich nur um unförmiges Chaos, dafür hat der Autor viel zu hellsichtig die Theorien dargelegt, nach denen er diese beiden Werke komponiert hat. Aber ein augenzwinkerndes „bis hierhin und nicht weiter“ darf man im Nervenzusammenbruch des Camacho wohl durchaus sehen und muss gleichzeitig dennoch zugeben, dass die entgleisenden Geschichten zugleich der virtuosere und interessantere Teil des Romans sind.

Denn die Liebesgeschichte? Come on. „Ich war 17, und sie war 31?“ Das bekomme ich von Peter Maffay deutlich dichter präsentiert. Einen wirklichen Mehrwert zu dem Song bietet „Tante Julia und der Kunstschreiber“, würde man die Liebesgeschichte für sich nehmen, dann auch nicht. Und echt, das immer wieder betonen der Super-Keuschheit dieser Liebe und wie die beiden sich nur küssen, küssen, küssen, das kann mit der Zeit schon ziemlich auf die Nerven gehen. Wenn man das Buch liest, lässt sich sowas überfliegen, das Hörbuch ist aus diesem Grund teilweise schwer erträglich. Wir haben es kapiert. Ihr küsst euch immer. Können wir bitte wieder eine Geschichte von Camacho hören? Ja, es ist Camacho, der „Tante Julia und der Kunstschreiber“ zu einem doch deutlich überdurchschnittlichen Stück Literatur macht. Denn Camachos Geschichten drängen ja praktisch auch in die Hauptgeschichte, auch in dieser wird man immer wieder Motive finden, die die Frage erlauben: Verdammt, ist das nicht am Ende auch nur ein Stück Radio- Seifenoper? Und derweil übernimmt der reale Camacho immer mehr Marotten seiner Hauptfiguren und steigt gesellschaftlich ab, während unser Protagonist aufsteigt.

„Tante Julia und der Kunstschreiber“ ist ein nur bei oberflächlichem Lesen einfacher Roman, der es leider manchmal mit dem Schmalz etwas übertreibt. Schade, dass ausgerechnet dieser eines der wenigen auf Deutsch vorliegenden Hörbücher von Llosa ist.

Eine der Hörspielfiguren ist übrigens Sargento Lituma, was das Lituma-Universum nochmal ein Stück komplizierter macht.

Bild: Pixabay

Kurzbesprechung: „La Chunga“ – Llosas Theaterstück mit dem Ensemble von „Das Grüne Haus“.

1986 ließ Mario Vargas Llosa das Ensemble seines gefeierten Romanes „Das grüne Haus“ in einem Theaterstück wieder auferstehen. La Chunga ist kein Meisterwerk, aber doch solide. Mit Gewinn und ohne Fremdscham lesbar. Llosa konzentriert die Handlung größtenteils auf einen einzigen Raum einer Kneipe im Piura des Jahres 1945. Er schert sich wenig um „korrekten“ Anschluss an den Roman, sehr allerdings um die innere Geschlossenheit des Stückes. Llosas Chunga macht all das richtig, was Harry Potter und das verwunschene Kind falsch macht. Ein durchaus interessantes Kammerspiel mit einem dafür allerdings recht großen Ensemble, das vielleicht nicht ganz einer klassischen Dramenstruktur folgt, aber doch sehr bewusst als Stück angelegt ist und eine überzeugende Mehrecks-Geschichte um Chunga, Meche und die Unbezwingbaren erzählt. Lesenswert, allerdings sollte man gerade keinen dramatisierten Llosa-Roman erwarten, sondern eben ein unorthodoxes Stück, das für sich selbst steht und auch keine „Fortsetzung“ von „Das grüne Haus“ ist.

Bild: Green House at the Marketplace, zugeschnitten, John Hoey, (CC BY 2.0)

„Totaler Roman“ mit Handbremse: „Das Fest des Ziegenbocks“ von Mario Vargas Llosa.

Es ist jetzt etwa 16 Jahre her, dass ich Das Fest des Ziegenbocks von Mario Vargas Llosa zum ersten Mal gelesen habe und ich habe immer noch nicht wieder Lust, mir den Roman noch einmal vorzunehmen. Ich habe überlegt, dass für die Llosa-Serie zu machen, aber nein, die Zeit ist mir zu schade. Deshalb erfolgt die kurze Besprechung aus der Erinnerung.

Das Fest des Ziegenbocks ist sicher kein absolut schlechter Roman. Der Text ist vielmehr grundsolide. Die etwa 500 Seiten drehen sich um Aufstieg und Fall des Diktators und Massenmörders Rafael Molinas Trujillo. Es ist einer jener Romane, auf die ich in anderen Texten schon hingewiesen habe, als ein weiterer Versuch auf das, was Llosa den „Totalen Roman“ nennt, einen literarischen Text, der ein Gesellschaftssystem ästhetisierend begreifen und durchdringen soll. Allerdings: Mit jener Einfachheit und Zugänglichkeit, der sich Llosa seit den Siebzigern verschrieben hat und die vielleicht mit „kleineren“ Themen besser zurecht kommt, in denen durchaus ein größeres Ganzes als Idee aufgehoben sein mag, das aber nicht von allen Seiten bearbeitet wird.

Und vielleicht wirkt Das Fest des Ziegenbocks deshalb wie ein Werk, das mit grobem Werzeug erarbeitet wird. Alles ist nochmal da: Verschiedene Perspektiven, um möglichst weitläufig über die Dominikanische Republik erzählen zu können. Der Diktator selbst kommt zu Wort, die aus seinem engeren Umfeld stammenden Verschwörer, deren Anschlagsplanung wir verfolgen. Und sozusagen als Stimme des Volkes, als Leser Stand-In, die Rückkehrerin Urania, die zugleich auch noch ein Familiengeheimnis aufdeckt.

Die virtuosen Vielstimmigkeit des anderen großen Diktatoren-Romans, „Gespräch in der „Kathedrale““, weicht nun allerdings sehr übersichtlichen Groß-Kapiteln, die jeweils in der dritten Person mit einzelnem Fokus-Charakter erzählt sind. Die turbulenten Entwicklungen, all die Brutalität, die nationalen und internationalen Verstrickungen, das Politische, das Persönliche und dessen Schnittpunkte, all das soll nun hübsch abgepackt in kleinen übersichtlichen Paketen erzählt werden können und heraus kommt, was herauskommen muss. Ein überdurchschnittlicher aber relativ gewöhnlicher Politthriller mit Elementen des Familien- und des Gesellschaftsromans, der an keiner Front so wirklich zufriedenstellen kann.

Zu viel Geplänkel verwässert die Thriller-Momente, die persönlichen Geschichten wirken etwas aufgesetzt, wie um unbedingt etwas Größeres zeigen zu können, und das Gesellschaftliche wirkt bereits all zu geordnet referiert statt ästhetisch wirklich erfahrbar gemacht in all der Gewalt, die ihm doch innewohnen sollte. Das Fest des Ziegenbocks funktioniert anders als Harte Jahre als Roman aber noch relativ gut und als Unterhaltung für nebenbei würde ich es mir als Hörbuch noch einmal gefallen lassen. Aber die Lust, mich noch einmal durch die 500 Seiten zu lesen? Nein, sie stellt sich nicht ein.

Bild: Pixabay.

Brutale Jugendgeschichte mit schwieriger „Wir-Perspektive“.

Die jungen Hunde ist eine relativ kurze Erzählung aus der ersten Werkphase von Mario Vargas Llosa. Man könnte es gewissermaßen als ein verkleinertes Die Stadt und die Hunde betrachten. Auch hier eine Gruppe Jugendlicher. Auch hier gesellschaftliche Zwänge, durch die manövriert werden muss. Auch hier ein schulisches Umfeld. Doch stärker noch als im längeren Roman gilt in dieser Erzählung: Die Hölle, das sind die anderen.

Durch einen Vorfall mit dem Hund der Schule verliert Cuéllar sein Geschlechtsteil und zieht sich weitere Verletzungen zu. Nach längerer Zeit im Krankenhaus stößt er scheinbar wiederhergestellt wieder zu der Gruppe seiner Freunde. Es beginnt jene Zeit, in der man sich fürs andere Geschlecht interessiert, und Cuéllar will nicht so richtig mitziehen. In der Schule bekommt er den Spitznamen „Schwänzchen“ und mit der Zeit nennen ihn auch die Freunde so. Bei Cuéllar kommt es immer wieder zu Wutausbrüchen, doch irgendwann „reclaimed“ er den Begriff für sich und begeistert zugleich als Sportler und Draufgänger, während sein Verhalten jedoch immer aggressiver wird. Es ist nicht so, dass er anders als die Freunde nicht bei Frauen landen könnte. Er verweigert sich. Doch gleichzeitig spielt er immer wieder auf kleine Affären an. Während die Leben der anderen sich langsam auf den gesellschaftlich erwarteten Pfad begeben (Flirts, etwas Machismo, dann der ruhige Hafen der Ehe), kommt es bei Cuéllar schließlich zur großen Katastrophe…

Die jungen Hunde erzählt vom Kampf nicht in erster Linie mit gesellschaftlichen Institutionen wie Kadettenanstalt und Polizei. Noch nicht einmal mit bösartigen sozialen Zwängen. Die Freunde versuchen Cuéllar zu integrieren. Auch die späteren Freundinnen sind aufgeschlossen. Die Eltern unterstützen ihn, vielleicht sogar zu sehr. Es geht vielmehr um ein System subtiler Konventionen und ganz besonders auch internalisierter Erwartungshaltungen. Dem korrespondiert letztlich auch der ungewöhnliche Erzählstil, der einerseits einen Zeitraum von fast 20 Jahren auf etwa 90 Seiten kondensiert, ohne dabei den Eindruck großer Distanz zu vermitteln, der gleichzeitig stilistisch regelmäßig zwischen der dritten Person Singular Plural der ersten Person Plural wechselt. Solche Erzählperspektivwechsel können mehrfach in einem längeren Satz zu erfolgen und haben den Effekt, auch sprachlich gewissermaßen die Schlinge um das Erzählte immer enger zu ziehen. Das wir, das ich, das ihr, das er, alles verschmilzt zu einem erdrückenden Sprachkosmos, wie ein einziger, mündlicher Malstrom, der stark von der Dringlichkeit des Geschehens geprägt ist.

Ich glaube allerdings, dass das ähnlich wie die Zeitsprünge in Derborence im spanischen Original deutlich natürlicher wirken könnte. In der Übersetzung braucht es schon ein bisschen, bis man sich daran gewöhnt hat. Dann ist es aber nicht so, dass die Erzählweise regelmäßig aus dem Erzählten reißen würde. Im Gegenteil.

Bild: Pixabay

„Tod in den Anden“ und Anmerkungen zu Mario Vargas Llosas „Shared Universe“ rund um die Figur Lituma.

Ich habe in meinem Artikel über Vargas Llosas Die Stadt und die Hunde von der stilistischen Wende von 1973 gesprochen. Damit ist gemeint, dass der Autor von da an seine Versuche, all die disparaten Stilmittel der literarischen Moderne unter einen Hut zu bekommen und zu einem runden „totalen Roman“ (seine Worte) zu vereinen, der die erzählte Welt stilistisch in absoluter Weise durchdringt, aufgegeben hat und einfachere Werke verfasst. Und das bemerkenswerterweise eher nicht aus Verzweiflung sondern aus Erfolgsgründen. Viel näher dürfte man dem Ziel nicht mehr kommen können, als es Llosa mit dem Duo Das grüne Haus und Gespräch in der „Kathedrale“ gelungen ist. Was also jetzt? Selbstimitate, die wahrscheinlich nicht an diese beiden Meisterwerke herankommen werden? Das ganze zur Masche machen und als nächstes ein „Gespräch in der Kathedrale““ für die 80er und 90er Jahre anstreben?

Nein: Ganz grob gesprochen hat Llosa entschieden, die technische Raffinesse etwas zurückzufahren aber alles, was er zuvor an literarischen Verfahrensweisen entwickelt hat, weiter für sich nutzbar zu machen wie es gerade passt und sehr hintergründige kleinere Romane zu verfassen, die eine breitere Leserschaft intelligent unterhalten und zum Nachdenken anregen können. Natürlich ist das mit der Wende von 1973 etwas grob gesetzt, Der Geschichtenerzähler von 1987 etwa steht den Werken von vor dieser Zeit näher als vielen aus der Zeit danach. Und Tante Julia und der Kunstschreiber ist nicht einfach nur eine Abkehr vom Alten sondern in den Kunstschreiber-Kapiteln zugleich auch ein witziges Spiel damit.

Tod in den Anden derweil dürfte unter den tatsächlich einfach konstruierten Romanen einer der stärksten sein. Vielleicht zugleich mit Wer hat Palmino Molero umgebracht? Den aus Das grüne Haus bekannten Sargento Lituma hat es in ein kleines Andenorf verschlagen, wo es zu mehreren mysteriösen bestialischen Morden kommt. Lituma kämpft mit dem Aberglauben und zugleich auch der teils heftigen Ablehnung der Dorfbewohner ebenso sehr wie mit seinen eigenen Vorurteilen. Die, generalisiert, wiederum durchaus auch die Ablehnung der Dorfbewohner erklären. Denn die sind es eben gewohnt, dass die Städter auf sie sowieso nur herab schauen. Politisch im Zentrum der Handlung stehen die Aktivitäten des Leuchtenden Pfad, einer sehr gewalttätigen linken/indigenen Bewegung, gegen die sich Llosa als ehemaliger Linker früh und sehr aktiv positionierte. Während mittlerweile der leuchtende Pfad nur noch sehr wenige Sympathisanten hat auch in den radikalsten Teilen der Linken, brachte das Llosa damals nicht nur Freunde ein. Umso mehr dürfte schwarz-weiß Denker überraschen, dass diese Gruppierung und ihre Sympathisanten in Tod in den Anden nicht einfach als der Bösewicht erscheinen, dem der edle Lituma gegenüber steht. Im Gegenteil: Wie sich diese Gruppe herausbilden konnte und wieso sie durchaus auf Unterstützung besonders in der Landbevölkerung bauen konnte (gleichzeitig aber auch, dass eben längst nicht alle den Leuchtenden Pfad unterstützen und dass dieser natürlich auch eine gewaltige Drohkulisse aufbaute), all das wird durch die auf zwei Zeitebenen konstruierte Handlung gut nachvollziehbar, ohne dass es einmal nur eine längere dezidiert „politische“ Passage gäbe, also eine, in der Theorien ausgebreitet würden oder diskutiert. Und dabei könnte das wahrhafte Grauen des Romans sogar noch ein ganz anderes sein, das mit der Politsekte wenig zu tun hat… aber ich möchte euch nicht den ganzen Text spoilern.

Gemeinsam mit Das Grüne Haus, Palmino Molero, Maytas Geschichte, Tante Julia und der Kunstschreiber, Ein diskreter Held und La Chunga ist Tod in den Anden nicht zuletzt auch einer der Texte, die man als Lituma-Komplex bezeichnen könnte. Ein spannendes Unterfangen des Autors, in dem dieser durch das Einsetzen dieser Haupt- bzw. teilweise Nebenfigur Geschichten in unterschiedlichen Teilen des Landes quer durch die Zeit miteinander verbindet und so die Romane gewissermaßen in etwas ansiedelt, das man heute „shared universe“ nennen würde (was natürlich insofern Bullshit ist, als dass es in den meisten Romanen im Gegensatz zu dem, was etwa Karl-Heinz Bohrer behauptet, üblich ist, sie bezogen auf „unsere“ Realität zu denken, die Nicht-Anwesenheit Litumas in „Das Gespräch in der „Kathedrale““ also nicht bedeutet, dass dieser Roman nun in einer anderen Welt spielt). Es schärft aber eben zumindest den Blick für die Verbundenheit und damit auch dafür, wie sich ein Mensch und sein Blick auf die Welt ändern kann und wie sich die Welt ändert.

Bild: Pixabay. (Ja, ich weiß, das sind chilenische Anden. Finde kein freies Bild aus Peru…)

Llosas Romandebüt „Die Stadt und die Hunde“ liest sich heute wie ein erster Anlauf zu Größerem.

Die Stadt und die Hunde“ ist bekanntlich Vargas Llosas erster Roman. Er gehört zu den wenigen Texten des Autors, die sich mir nie für die Re-Lektüre aufgedrängt haben. Nicht, weil es unbedingt ein wirklich schwacher Text wäre wie „Maytas Geschichte“ oder „Der Hauptmann und sein Frauenbataillon“. Doch fast alles, was Llosa in „Die Stadt und die Hunde“ angeht, hat er anderswo gelungener vollendet. Das heißt nicht, dass der Text nicht zu beeindrucken vermag. Ich kann mir gut vorstellen, dass er bei der Veröffentlichung Aufmerksamkeit erregte und Llosa sofort als einen Schriftsteller etablierte, auf den man achten muss.

„Die Stadt und die Hunde“ erzählt von einer Kadettenanstalt, in der es zu einem Todesfall kommt, dessen Hintergründe anscheinend vertuscht werden. Hauptfigur, wenn man das so sagen kann, ist der tote Ricardo, von seinem Vater in die Anstalt gezwungen. Erzählerisch mehr Raum aber nehmen seine „Kameraden“ ein, von denen, neben einem Erzähler in der dritten Person, zwei als Ich- Erzähler auftreten. Deren Identitäten lassen sich aber erst im Verlauf der Handlung entschlüsseln. Vieles, was Llosa so vergleichsweise früh in seiner Karriere zur Vollendung bringt, das Spiel mit wechselnden Perspektiven, deren Montage ineinander und all das nicht als Selbstzweck sondern als Konfrontation der Lebensumstände verschiedener Gesellschaftsschichten in Peru, findet sich schon in etwas rustikalerer Weise in „Die Stadt und die Hunde“. Der Roman ist noch vergleichsweise einfach gebaut, aber nicht in jener Weise elegant, wie die späteren Roman Llosas nach der stilistischen „Wende“ der 70er Jahre. Es ist vielmehr der erste Anlauf zu dem, was mit „Das grüne Haus“ und „Gespräch in der „Kathedrale““ zum Abschluss gebracht wurde.

So richtig befriedigend ist das aber wie gesagt nicht. Man liest hier thematisch noch ein recht typisches Jugend-Buch, im Sinne eines Buches über Konflikte unter Jugendlichen, wenn auch mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und formal an ein erwachseneres Publikum gerichtet. Wie etwa „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder auch das ähnliche, thematisch wie stilistisch konzentrierter „Die jungen Hunde“ des selben Autors. Das Thema wirkt mit Techniken, die der Autor noch nicht so richtig beherrscht, dabei ein wenig überfrachtet. Je nachdem, in welcher Reihenfolge man an Llosa herangeht, könnte man dennoch etwas von der Begeisterung spüren, die Erstleser bei der Veröffentlichung gespürt haben mögen. Aber spätestens, wenn man sich fragt, ob man den Text ein zweites Mal lesen sollte, dürfte es vielen gehen wie mir und man sagt sich – Muss das jetzt sein?

Bild: Pixabay.

Llosas bester Roman (laut Llosa). Zumindest ein faszinierender Text: „Der Krieg am Ende der Welt“.

Der Krieg am Ende der Welt. Ich verstehe, wie es sein kann, dass Mario Vargas Llosa, der in literaturkritischen Fragen sich meist recht sicher bewegt, diesen Roman als sein formvollendetstes Werk bezeichnet haben soll. Und ich verstehe ebenso, warum man heute, wenn man über Llosas große Romane spricht, an diesen Text nur noch selten denkt.

Denn Der Krieg am Ende der Welt gehört definitiv unter die „großen Romane“, unter die Texte, die Llosa in seiner ersten großen Werkphase als „Totale Romane“ bezeichnet hat. Texte, die versuchen, eine Gesellschaft, oder von mir aus präziser eine momentane gesellschaftliche Lage, durch eine besondere Situation in ihrer Totalität zu begreifen. Das grüne Haus, Gespräch in der Kathedrale, sind anerkanntermaßen solche Texte. Sie untersuchen das Stadt-Land-Gefälle in Peru bzw. das städtische Peru in der Zeit der Odria-Diktatur. Des weiteren aber auch Der Geschichtenerzähler, das den Blick stärker auf die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung lenkt und Das Fest des Ziegenbocks, gewissermaßen ein vereinfachtes Gespräch in der Kathedrale mit Schwerpunkt Dominikanische Republik/Haiti. Zuletzt dann noch der unglaublich schwache Thesenroman Harte Jahre. Und eben Der Krieg am Ende der Welt. Jener nimmt den realen Krieg von Canudos zum Ausgangspunkt, um eine Geschichte rund um religiösen Fanatismus, Urkommunismus, den sich immer wieder wiederholenden Teufelskreis lateinamerikanischer Staaten zwischen Republikanismus, Wirtschaftsdiktatur, Monarchie bzw. Landoligarchie, Linker Gegenbewegung und sozialistischer Diktatur und die unerwarteten Bündnisse in einem solchen Kampf zu erzählen. Im Mittelpunkt stehen der „Ratgeber“ und seine Gefolgschaft, die in Canudos Land besetzen, das ökonomisch so uninteressant ist, dass die Besetzung anfangs noch nicht einmal gemeldet wird. Dort bauen sie eine charismatisch-christliche Gemeinschaft auf, in der liberale Kommentatoren kommunistische Momente erkennen. Geteilte Arbeit, geteilte Güte und etwas, worin man aus der fernen Hauptstadt „freie Liebe“ auszumachen glaubt.

Diese aufgeklärt Perspektive wird vor allem von einige Regierungsmitgliedern, Journalisten und dem durch die Welt driftenden italienischen revolutionär Galileo Gall eingenommen. Der wird dann von den Republikanern beauftragt, die Aufständischen mit Waffen zu versorgen, da die so hoffen, die noch schwache Republik zu stärken und die Monarchisten zu schwächen. Der Adel dagegen zeigt eine gewisse Solidarität mit den „Kommunisten“, weil er sich davon Vorteile erhofft. Was daraus an Entwicklungen bzw. Verwicklungen hervorgeht, liest man bei Interesse am besten selbst nach. Die Handlung folgt dabei wechselnd den zentralen Personen beziehungsweise Örtlichkeiten. Also dem Ratgeber, Gall, und zuerst der Rezeption der Besetzung aus der perspektive der Hauptstadt, und später einem Journalisten, der das Heer Richtung Canudos begleitet und der in der zweiten Hälfte immer stärker zur Hauptfigur avanciert.

Der Roman ist durchaus auch sprachlich und formal stark gearbeitet. Llosa bedient sich eines relativ ruhigen, ausgreifenden Stils, gesättigt von einem gewissen Pathos, das zwar nicht biblische Geschichten imitiert, doch an solche zumindest erinnert. Die Bilder, wenn der Ratgeber durchs Land reist und Gefolgschaft sammelt sind stark, ebenso, wenn Gall auf seine Mission aufbricht. Prärie, Gesetzlose, tiefer Glauben und absolute Skrupellosigkeit. Die Figuren, die sich auf Seiten des Ratgebers sammeln, sind interessant bis skurril. Ausgestoßene, Mörder ebenso wie Menschen, deren Familie ermordet wurde. Menschen mit körperlichen Besonderheiten, die sonst nirgends einen Platz finden. Einfache Bauern, für die es bisher wenig Unterschied gemacht hat ob sie in einer Monarchie oder einer Republik leben. Auch Indigene rund um das besetzte Canudos sympathisieren. Zwischenzeitlich verweilt die Erzählung länger in einem Zirkus, den es schließlich nach Canudos verschlagen wird. Und für all das ist die sprachliche Gestaltung wirklich absolut adäquat und am Anfang glaubt man ein monumentales und phänomenales Buch vor sich zu haben.

Und doch habe ich abseits der gröbsten Züge der Handlung von meiner ersten Lektüre fast alles vergessen. Und mit der Zeit stellt sich auch beim zweiten Lesen die Langeweile ein und ich fürchte am Ende wird wieder fast alles vergessen sein. Das Problem: Nachdem Llosa die entscheidenden Figuren und Momente richtig platziert hat, so etwa ab Seite 200 bis 300 von den insgesamt immerhin über 700 Seiten, ist das Verhängnis, das sich abzeichnet, absolut klar und der Roman zuerst ein einziges retardierendes Moment, dann ein langes großes Gemetzel. Das steht in der Tradition des „Indigenen Romans“ (nicht zwingend Romane, die von Indigenen verfasst sind), der angesichts der Verbrechen an den amerikanischen Ureinwohnern kaum anders enden darf, besonders spannend liest es sich allerdings nicht. Und dann stellt man fest, dass eben auch die Figuren die Handlung nicht wirklich tragen. Auch ihre Konflikte, wo sie bestehen, sind spätestens ab der Mitte des Buches weitgehend auserzählt. Ihnen fehlt die doppelte Lebendigkeit etwa von Das grüne Haus und Gespräch in der Kathedrale. Die innere: Sie wirken weniger stark realisiert, obwohl mehr Zeit auf einzelne Figuren verwendet wird. Und sozusagen die Äussere: jene Lebendigkeit, die durch das Aufbrechen der klassischen Romanform entstehen kann und die es in den beiden früheren Texten Llosa erlaubte, durch Andeutungen, Zeitsprünge und die Montage disparater Momente so viel mehr über eine Figur in deutlich weniger Worten zu erzählen. Und Llosa erkennt das Problem, deshalb schaltet er dem letzten Viertel des Romans immer wieder in bewährter Manier ein zurückblickendes Gespräch über Canudos zwischen dem Baron, einem enteigneten Großgrundbesitzer, und dem Journalisten ein, der dem Gemetzel entkommen ist. Das bedeutet aber auch: Noch mehr Text, ein nochmaliges Durchwalken von Dingen, die längst recht klar sind.

So sehr es seinen Grund hatte, dass Llosa nach seinen beiden großen Romanen zu einem einfacheren Stil zurückkehrte, so sehr hatte es eben durchaus seinen Grund, dass es fragwürdig wurde, in genau diesem Stil zu erzählen, insbesondere wenn ein Roman, wie Llosa es nennt, „total“ werden soll, also nicht nur eine nette Geschichte erzählen, sondern etwas begreifen. Und in diesem Fall sogar: Ein ziemlich großes Ganzes.

Nun könnte man sagen: Der Roman erzählt vom späten 19 Jahrhundert, warum nicht erzählen wie im späten 19 Jahrhundert? Doch Der Krieg am Ende der Welt will deutlich mehr sein als eine Geschichte von „früher“. Zum Glück. Es ist eine weitere Variation auf Llosas Kernfrage, „warum hat sich Lateinamerika in die Scheiße gesetzt?“ (Das Leitmotiv von Gespräch in der Kathedrale, damals am beispiel Perus). Und das wiederum gemeint als zeitlose Frage: Warum durchlaufen so viele lateinamerikanische Staaten diesen scheinbar nicht zu durchbrechenden Teufelskreis aus wenig nachhaltigen Revolutionen und Diktaturen? Wer theorielastige Antworten sucht, findet wahrscheinlich in Der Krieg am Ende der Welt mit die besten Versuche Llosas (kondensiert auf 444ff und 589-591 in der schwarzen Suhrkamp-Ausgabe), solche zu geben und das durchaus in einem insgesamt sauber und routiniert gearbeiteten Roman. Das ist, denke ich, der Grund, warum der Autor das Werk so hoch schätzt. Wer aber ein literarisches Kunstwerk sucht, das sich erzählerisch mit diesen Themen beschäftigt, findet bei Llosa mindestens drei, eher fünf bis sechs stärkere Werke. Das ist der Grund, warum man, wenn es um Llosas große Romane geht, so selten von Der Krieg am Ende der Welt spricht. Faszinierend ist der Text durchaus, und in ein bis zwei Jahrzehnten werde ich ihn nochmal wiederlesen, um mich zu erinnern, warum. Aber Llosa hat Texte verfasst, die man wirklich regelmäßig lesen will. Dazu gehört dieser nicht.

Bild: Wiki, gemeinfrei

(fast) Alle Romane Mario Vargas Llosas. Zum Einstieg: Zwei Rohrkrepierer und eine kluge Novelle.

Nachdem ich ein paar alte Rezensionen gesammelt habe, habe ich mich entschlossen, soweit als möglich das Gesamtwerk Mario Vargas Llosas zu besprechen. Die beiden bis heute gelungensten und bedeutendsten Romane habe ich bereits hier und hier besprochen, zu Gespräch in der ‚Kathedrale‘ gibt es hier noch eine weitere Notiz. Den dritten Roman, den ich wohl nie wieder lesen werde, findet man hier. Weitere Rezensionen werden folgen. Jetzt erstmal: Zwei Rohrkrepierer und eine kluge Novelle.

Maytas Geschichte

Maytas Geschichte ist einer von nur zwei (jetzt drei) Romanen Vargas Llosas, bei denen ich mir nicht vorstellen kann, dass ich sie noch einmal lesen werde. Die Geschichte an sich ist leidlich interessant, einmal mehr folgt der Autor den Desillusionierungen linker revolutionärer Vorstellungen. Ein chaotischer Aufstand im provinziellen Jauja wird als Vorgriff der späteren Barbarei des leuchtenden Pfades stilisiert. Ein Schriftsteller folgt dabei den Spuren des Revolutionärs Mayta Jahrzehnte später durch ein Peru der achtziger Jahre, das am Rande des Bürgerkriegs samt internationaler Intervention geschildert wird, also noch einmal deutlich übler als das reale zerrissene Peru der gleichen realen Zeit. Aber mit der Zeit ermüdet das immergleiche Chronistenschema, nach dem dem fiktiven Schriftsteller Bekannte Maytas über dessen Vergangenheit erzählen, dann in die vergangene Handlung gesprungen wird, als geschehe sie gerade, wobei das Erzählte teils bestätigt, teils konterkariert wird. Llosas in Das Grüne Haus so virtuos gehandhabtes Verfahren der Zeitsprünge, das ja den Kern der Erzählweise dieses Klassikers ausmacht, wirkt hier schrecklich aufgesetzt, als spiele ein Autor einfach seinen Stiefel herunter. Maytas Geschichte ist kein schlechter Roman, aber auch kein guter. Dutzendware, wie sie Llosas unwürdig ist.

Der Hauptmann uns sein Frauenbatallion

Auch Der Hauptmann uns sein Frauenbatallion ist im Vergleich mit dem übrigen Werk ein Totalausfall. Nicht, weil der Autor sich einem vordergründig „leichteren“ Ton zuwendet. Das war ja nach den beiden Romanen, in denen die Romanform zu ihrer heute überhaupt denkbar größten Komplexität ausgereizt wurde, kaum zu vermeiden. Den totalen Roman, wie der Autor sich ausdrückte, schreibt man nicht zweimal.
Der Hauptmann und sein Frauenbatallion hat eine groteske Prämisse, ein Hauptmann baut ein Prostituiertenbataillon auf um die sexuellen Übergriffe in der Selva (im peruanischen Dschungel also) zu bekämpfen. Das hätte eine bitterböse Satire auf Machismo bzw. Sexismus in der Truppe und in der peruanischen Gesellschaft werden können, ein Thema, das der Autor ja immer mal wieder angeht. Aber das Ganze wirkt schrecklich routiniert heruntergeschrieben. Größtenteils in Briefen und Tagesbefehlen, kaum mit jener dialogischen Spannung, die Llosa sonst auszeichnet. So bleibt das Ganze dann trotz der parallel erzählten Geschichte über eine Sekte, die sich in der Region breitmacht, über weite Strecken ein Thesenpapier anstatt eines Romanes.

Wer hat Palomino Molero umgebracht?

Sonst aber sind Llosas Romane fast immer überdurchschnittlich bis großartig. Das gilt auch für den eher schmalen Band Wer hat Palomino Molero umgebracht?, auch bereits aus der Zeit, in der sich der Autor an populäreren Formen versuchte (dazu mehr in späteren Artikeln). Das geschah durchaus aus der Konsequenz des Werkes heraus, mit Das grüne Haus und Gespräch in der Kathedrale hat der Autor sein Projekt des „totalen Romans“ zu einer Perfektion gebracht, die jeden weiteren Versuch in diese Richtung wie einen müden Abklatsch hätte wirken lassen. Aber in Palomino Molero kommt, anders als in den beiden zuvor besprochenen Texten, der hervorragende Takt zur Entfaltung, den Llosa in seinen großen Romanen entwickelt hat, der federleichte Wechsel zwischen knallharten Dialogen, bildhaften Beschreibungen und unaufdringlichen Rückblenden. Trotzdem ist es natürlich im Vergleich ein Leichtgewicht und wer die ganz großen Meisterwerke sucht wird immer wieder zum Llosa der sechziger Jahre zurückkehren.

Bild: Pixabay.

Spätere Bemerkung zu „Gespräch in der „Kathedrale““.

Zu Llosas Gespräch in der „Kathedrale“ habe ich schon mal eine längere Besprechung mit Auszügen aus einer alten Hausarbeit veröffentlicht. Die neuerliche Lektüre regt mich aber noch zu einigen weiteren Bemerkungen an. Da fällt einmal ins Auge, wie balanciert die einzelnen Plots dann doch von Anfang an sind. Ich tendierte bei der Ersten Lektüre, den Roman in erster Linie als die Geschichte von Santiago Zavalas Hinwendung zum Kommunismus und der folgenden langsam Aufkündigung dieser Liebe zu lesen. Ebenfalls prominent der langsame Abstieg Ambrosios von seiner Stelle als Chauffeur von Cayo Bermudez über die Familie Zavála bis hin zu seinem missglückten Busunternehmen und der gescheiterten Familiengründung mit Amalia. Liest man aber genauer, fällt auf, dass auch Amalia selbst von Anfang an sehr viel mehr Raum einnimmt, als ich das beispielsweise in Erinnerung hatte. Santiagos Haupthandlung ist gar keine, wird im Vergleich zur Gesamtlänge des Buches relativ rasch abgefrühstückt. Die drei Hauptstränge sind tatsächlich sehr gleichberechtigt, und welchen man als dominant erlebt mag viel mit der eigenen Lebenssituation zu tun haben. Im Wekr aber waltet ein wirklich beeindruckender Sinn für Balance.

Auch auf einen denkbaren Kritikpunkt möchte ich antworten: Dass nämlich bei näherem Hinsehen die Entfaltung des gesamten Romans aus dem zunehmend alkoholisierten Gespräch in der Kathedrale nicht gänzlich Sinn ergebe. Denn es wird immer wieder wörtlich wiedergegeben, was die Protagonisten höchstens vom Hörensagen wissen können, teils sogar Dinge, bei denen man sich fragt, wie sie überhaupt zu Santiago oder Ambrosio zu Ohren gedrungen sein könnten. Das stimmt sicherlich, ist aber letztendlich so relevant, wie der Vorwurf gegen eine, obschon strenge, musikalische Komposition, man könne ihren wahrscheinlichen Fortgang nicht aus den ersten fünf Noten, oder meinetwegen auch nur aus dem ersten Thema, deduzieren.

Entscheidend ist, wie ich auch im Unterricht für literarisches Schreiben immer wieder sage, dass das Werk als Ganzes am Ende plausibel wirkt. Gespräch in der „Kathedrale“ fühlt sich an wie ein aus einem einzelnen Gespräch immer weiter aufgeklappter Roman,der im Ganzen ein Gesellschaftsbild von Lima unter der Odria-Diktatur zeichnet. Die Brüche mit der an sich strengen Komposition stören dabei nicht, sondern verleihen dem Werk genau jene Momente an Rest-Unwägbarkeit, an Brüchigkeit auch in der Form, die einer Welt korrespondiert, die gewaltsam strukturiert und doch kaum kontrollierbar chaotisch ist. Gespräch in der „Kathedrale“ ist und bleibt einer der formal wahrscheinlich konsequentesten Romane.

Bild: La Taberna von Cristóbal Rojas, gemeinfrei

Die „großen“ Essays anderswo, VI: Mario Vargas Llosas El Hablador

Die ersten Wochen des neuen Jahres möchte ich nutzen, um ausführlichere Essays, die ich für andere Medien verfasst habe, hier zu sammeln. Heute: Vor 30 Jahren [jetzt:33] erschien Mario Vargas Llosas El Hablador (Der Geschichtenerzähler). Vielleicht nicht dessen stärkstes Werk liefert es doch aufschlussreiche Einblicke in die „Dialektik der Aufklärung“, die Arbeiten des Nobelpreiträgers durchzieht.

Mario Vargas Llosa gilt als einer der wenigen großen dezidiert liberalen Schriftsteller unserer Zeit. Sozusagen „aus Not“ zum Liberalen geworden, da doch ein freiheitsliebender Geist am realexistierenden Sozialismus wie an den Lateinamerikanischen Kommunismen und Sozialismen des 20. und 21. Jahrhunderts nur verzweifeln konnte, ist Llosa als Literat allerdings immer insofern Materialist geblieben, als dass er die gesellschaftlichen Bedingungen des Fortschritts und die brutale Notwendigkeit, mit der dieser auch immer wieder die eigenen Ideale untergräbt, schonungslos reflektiert. Wie Llosa sich so literarisch einer „Dialektik der Aufklärung“ annähert, die dem blinden Romantizismus der Indigenisten und ihrer staatssozialistischen Freunde ebenso eine Absage erteilt, wie einem Fortschrittsdenken, das mitleidslos über jene hinwegsieht, über die es fortschreitet, soll der folgende Text anhand des recht zugänglichen Romans El Hablador untersuchen, der als eine Brücke zwischen Llosas hochkomplexer erster Schaffensphase (bis Das Grüne Haus und Gespräch in der ‚Kathedrale‘) und den meist vordergründig vor allem auf Unterhaltung abzielenden zeitgenössischeren Texten gesehen werden kann.

Ein Erzähler und zwei halbe

Der Plot des hablador speist sich aus zwei Erzählsträngen, die jeweils von
unterschiedlichen Erzählern erzählt werden. Während der erste namentlich unbekannte Erzähler, ein Schriftsteller und Ethnologe, die Rahmenhandlung vorgibt, erzählt der zweite Erzähler als „Hablador“ der Machiguenga, des „Volkes, das geht“, eine Variation eines alten Mythos, den Llosa nur zu Teilen aus originären Quellen entwickeln konnte. Nach und nach enthüllt sich die Identität des „Hablador“ als höchstwahrscheinlich die Saúl Zuratas‘, eines Freundes des ersten Erzählers. Niemals abschließend klar allerdings wird der Weg, der Saúl zu den Machiguenga hätte führen können.

Saúl ist in der peruanischen Oberschicht Außenseiter, als „Halbkreole“, „gebrandmarkt“ durch ein Muttermal im Gesicht, und nicht zuletzt aufgrund seiner jüdischen Herkunft mütterlicherseits passt er scheinbar nie wirklich in die Gesellschaft. Oder er nimmt zumindest diese Rolle ein, denn auch auf der Universität, da es ihm frei stünde als Klassenerster der Ethnologie und Liebling der Professoren den befriedigenden Weg der Kompensation, Auslandsstipendium, Karriere, Wohlstand, zu gehen, verschließt er sich weiterhin und verschwindet schließlich in den unsicheren Gefilden des Gerüchts. Ist Saúl wirklich nach Israel ausgewandert, was ihm gar nicht ähnlich sähe? Hat er sich einfach zurückgezogen? Ist er tot?

Der (erste) Erzähler entdeckt viele Jahre später in Florenz (nicht umsonst zeichnet Llosa Florenz als Stadt, die sowohl mit der Blüte Roms als auch mit der Hochzeit der Renaissance assoziiert wird, die gleichzeitig weit mehr der Erinnerung an zivilisatorischer Errungenschaften als dem Fortschritt heute verpflichtet scheint), in einer Ausstellung ein Photo, das einen Hablador der Machiguenga zeigt, einen Geschichtenerzähler. Für diese im sozialen System der Machiguenga besonders bedeutsame Figur, deren Existenz allerdings kaum gesichert ist, hatte sich der Jugendfreund Saúl stets besonders begeistern können. Für den Erzähler scheint eine überraschende Ähnlichkeit zwischen dem Photo und Saúl Zuratas zu bestehen, und er schreitet zur literarischen Aufarbeitung der Jugend.

Laut El Hablador nimmt der Geschichtenerzähler bei den Machiguenga nicht nur die Rolle des Nachrichtenüberbringers ein, sondern er agiert vor allem als Träger des „kulturellen Gedächtnisses“. In seinen Geschichten vereinigt er aktuelle und vergangene Erlebnisse, Anekdoten und Mythologie. Dabei bleibt der Hablador des Hablador allerdings fiktionales Konstrukt. Der Versuch des Romans, sich an die Rolle des Hablador anzunähern, muss vor dem Geheimnis desselben, der Tatsache, dass die Machiguenga bis heute wenig bis nichts über den Geschichtenerzähler enthüllen, kapitulieren, wie der Erzähler im Roman.

Nun geht es aber Llosa in El Hablador gerade darum nicht: Um die möglichst korrekte investigativ-positivistische Wiedergabe eines Faktums, sondern um die Exploration der Rolle des Einzelnen in verschiedenen Gesellschaftsformen. Llosa fiktionalisiert im Hablador eine empirisch so weit es eben geht fundierte Dialektik der Aufklärung, die sich auf lange Sicht sowohl den naiven Fortschrittsglauben, als auch eine Glorifizierung „indigener“ Gemeinschaft versagt.

Saúl Zuratas…

…auf der einen Seite zeigt eine beinahe kindliche, schwer zu greifende Begeisterung für die „indigene“ Kultur Lateinamerikas, insbesondere für die Gruppe der Machiguenga. Diese Begeisterung scheint jedoch in erster Linie aus einem negativen Bezug zur fortschreitenden Kolonisierung durch die westliche Zivilisation herzurühren, wobei Saúl sowohl die Bestimmung dessen, was „westlich“ ist, als auch jegliche Frage danach, wer zu den Indigenen zählt, welche Kultur zu verteidigen ist, welche anzugreifen, schuldig bleibt. Sowie er sich auch nie an einer ökonomischen und/oder ethischen Analyse sowohl des Kolonialismus als auch der vorkolonialen Herrschaftsverhältnisse versucht. Moderne Akkulturation wird dann als lineare Fortführung der Conquista angesehen, die Einheit der Machiguenga mit ihrer Umwelt, die behauptete Identität mit sich selbst, wird positiv besetzt. Dahingegen werden etwa die „Kolonisation“ und Unterwerfung vieler kleiner Stämme durch die Inka, die an andren Stellen im Roman angesprochen werden, von Saúl größtenteils unterschlagen.

Oder: Weniger unterschlagen, als übergangen, denn speist sich zumindest anfangs Saúls Anteilnahme am Schicksal der Machiguenga noch aus tätigem Mitleid, so übernimmt schon bald eine unmittelbare Identifikation, die möglicherweise aus der teils selbst gewählten Außenseiterrolle zu erklären wäre, die Kontrolle. Dabei hält Saúl selbst eine Bewahrung der indigenen Tradition unter pragmatischen Gesichtspunkten für kaum realistisch, und über moralische Implikationen äußert er sich nicht. Entsprechend scheint seine Begeisterung im Kern unbegreiflich, und angesichts seines späteren (behaupteten) Überschreitens der „kulturellen Grenze“ muss jeder Rationalisierungsversuch scheitern.

weiterlesen auf Postmondän

Bild: Pixa, gemeinfrei