„Der Schrecken von Arlingen“ beginnt stark im Sinne eines gotischen Schauerroman. Ein abgelegenes Dorf an der Küste. Hohe Klippen, Sturm, wütendes Meer, Finsternis, Nebel. Dazu eine seltsame Mordserie und ein kleiner Adliger mittleren Alters, der mit seinem väterlichen Freund ausgezogen ist, die Mordserie aufzuklären. An den Aberglauben der Dorfbewohner rund um Dämonen und Ähnliches glaubt er nicht, es müsse etwas Menschliches dahinter stecken. Dieses Dorf und die Landschaft sind von Anfang an in starken Bildern gemalt, so rustikal wie poetisch:
“Ich blickte ihr lange nach. Nun, da die grauen Wolken sich verzogen hatten und das Dorf im sanften Licht der Abendsonne badete, erschien mir Arlingen mit einem Mal sehr friedlich und schön. Für einen Augenblick vergaß ich beinahe die Kälte und die Schrecken des vorangegangenen Tages. Da zerrte plötzlich ein kalter Windhauch an meinem Mantel, und mein Blick ging nach Westen über das Meer. Am Horizont versank die Sonne im Wasser. Ihr Licht hatte inzwischen nicht mehr das sanfte Glühen flüssigen Goldes. Wo ihre Strahlen das Meer berührten, nahm das Wasser die Unheil verheißende Farbe frischen Blutes an. Ich musste daran denken, wie viel davon die See an dieser rauen Küste schon aufgefangen hatte, und sehr schnell kehrten meine Gedanken zurück zum ›Schrecken von Arlingen‹ und der entsetzten Grimasse seines jüngsten Opfers.”
Auch ansonsten hat der Roman einiges für sich. Die Handlung in Arlingen ist spannend, wartet mit interessanten Wendungen auf, getragen von Figuren, die so interessant wie glaubhaft sind. Eine mysteriöse Efferdgeweihte, ein älteres Fischerehepaar, ein Fremder, der im Wald lebt und von den Dorfbewohnern argwöhnisch beäugt wird und noch tiefer im Wald, mehr Legende im Dorf als real, ein Druide. Die Detektivhandlung entwickelt sich nicht nur glaubhaft, sondern anders als in „Mörderspiel“ auch in einer Weise, die sich mit der DSA-Welt in Einklang bringen lässt. Das Ermitteln ist mehr ein hit-and-miss-Verfahren, als rein an der kühlen Rationalität bürgerlicher Detektive geschult, gleichzeitig finden sich in der Vergangenheit des Protagonisten mehr Gründe, warum er überhaupt der Ratio so zugetan ist. Und auch abseits der gotischen Horrorgefilde fährt der Text immer wieder eine starke bildliche Sprache auf, etwa bei der ersten Begegnung mit Hagunald, dem verhassten Fremden im Dorf:
“Dunkle Tannen rauschten leise im Wind. Fast schien es, als raunten sie einander Worte in einer unbekannten Sprache zu, als wisperten sie warnend von Wipfel zu Wipfel: »Fremde, Eindringlinge!« Die Fischer Arlingens fürchteten den Wald, so wie sie alles Unbekannte fürchteten. Und doch konnte ich verstehen, wieso sie flüsternd und misstrauisch über das Dickicht des Waldes sprachen, wieso sie ihre Kinder vor den wilden Tieren – und Schlimmerem! – warnten, die dort lauern mochten, und wieso sie den dunklen Forst niemals, niemals betraten. Das war so, seit Hagunald nach Arlingen gekommen war, woher und wann schien niemand zu wissen. Sicher war bloß: Hagunald war ein Fremder und würde es immer bleiben, wie lang er auch in der Nachbarschaft des Dorfs leben mochte, denn er war kein Fischer und er mied das Meer, wie die Bewohner Arlingens den Wald mieden. Den Menschen an der Küste war er unheimlich, weil er nur das Nötigste sprach, weil er nicht an ihren Festen teilnahm, nicht unter ihnen lebte. Hagunald und die Fischer begegneten einander nur, wenn es nötig war. Er schlug im Wald Holz und brannte Kohle. Dinge, die in Arlingen benötigt wurden, um Hütten zu bauen und Feuer zu machen. Im Austausch erhielt Hagunald Salz und Stockfisch, bisweilen ein Messer oder einen Wetzstein. Dinge, die ihm der Wald nicht bieten konnte.”
Oder später, beim Eindringen in den Druidenwald:
„Im Dämmerlicht des Madamals war die intensivste Farbe, die mich umgab, jene des feuchten Grases, des duftendes Mooses, der zitternden Tannennadeln: Grün. Staunend betrachtete ich die unzähligen Nuancen, die so unterschiedlichen Schattierungen. Bewegte sich ein Blatt nur ein wenig im Wind, so durchlief es eine farbliche Metamorphose mit schier endlosen Stadien: von einem zarten, durchscheinenden Lindgrün über die helle, leuchtende Farbe jungen Grases bis zum tiefdunklen, fast schwarzen Grün von Moos, das lichtlos darbend unter einem großen Stein kauert. Und dann die Gerüche: ein tiefer Tümpel, modrig und süß, ein Teppich von Tannennadeln, duftig und betörend. Jeder Windhauch trug das würzige Aroma wilder Kräuter und Farne mit sich. Selbst die kalten Ausdünstungen der großen Findlinge, die wie die Murmeln eines Riesen am Waldrand zu liegen gekommen waren, drangen kaum wahrnehmbar in meine Nase.“
Der Roman hat aber auch einige Schwächen. Zuvorderst die beiden „Liebes“-Geschichten, die sich zwischen dem Protagonisten und einer sehr jungen Frau im Dorf, sowie einer Frau in seiner früheren Heimat Methumis entspannen. Dorf: Was die beiden zueinander hinzieht, jenseits der Tatsache, dass es im „Mittelalter“ Usus gewesen sein soll, Frauen sehr früh in die Ehe zu geben (das stimmt so radikal noch nicht einmal), wird nie wirklich deutlich. Und auch die Affäre, die den Protagonisten schließlich aus der großen Hafenstadt Methumis in das gottverlassene Arlingen getrieben hat, ist elendig oberflächlich. Gleichzeitig wird so viel Zeit auf diese Vorgeschichte verwandt, dass sie vor allem wirkt wie ein retardierendes Moment, dass man sich deutlich kürzer hat wünschen mögen.
Ein kleineres Problem tut sich auf, wenn ein Kind aus dem Dorf schließlich gegen den Widerstand der Eltern zum Druiden in die Lehre gegeben wird. Diese Beziehung kommt aus dem Nichts, das Kind wird erst wenige Seiten vorher als magiebegabt enthüllt, eine Beziehung zum Druiden gibt es nicht. Hier hätte sich viel mehr draus machen lassen, wenn es das Mädchen schon früher zur Magie und in den Wald gezogen hätte, und sich die Eltern längerfristig dagegen gestellt hätten, bis der Widerstand überwunden wird. So wirkt es wie ein später Einfall, zu dem der Autor keine Vorgeschichte mehr schreiben wollte.
Ab hier größere Spoiler
Und dann ist da noch die Sache mit den Dämonen und der Ratio. Wenn man sich ein wenig in der Welt von DSA auskennt, fragt man sich schon, wie der Protagonist (den biografischen Gründen zum Trotz) auf die Idee kommen kann, Geister- und Dämonenglaube könnte der Ratio in dieser Welt in irgendeiner Weise entgegenstehen. Witzigerweise ist das dann auch die Lösung: Es stellt sich ganz empirisch heraus, dass Dämonen im Spiel sind. Aber warum überhaupt dran zweifeln? DSA ist so bevölkert von magischen Wesen, Greifen, Drachen und einer ganzen Masse von Dämonen niederer und höherer Höllenkreise, dass es geradezu überraschend gewesen wäre, während Dämonen einmal nicht im Spiel gewesen. Ich lese gerade schon wieder ein ganz anderen DSA-Roman, in dem es vor allem um Glücksspiel und eine kleine Intrige geht. Und tata! Dämonen. Nicht mal irgendwelche kleinen Dämonen, wie man sie in den Videospielen beschwört. Gleich einer der mächtigsten Erzdämonen mischt sich in die Handlung ein. Wenn in der DSA-Welt jemand bestialisch ermordet wird, verstößt es eben gerade nicht gegen „Ockhams Rasiermesser“, zuerst einmal an Dämonen zu denken.
Wenn man bereit ist, über die paar Schwächen hinwegzusehen, findet man einen sprachlich deutlich überdurchschnittlichen DSA-Roman mit einer relativ spannenden Handlung und einigen Passagen, die man vielleicht eher überfliegen wird.
Bild: Wikiart, gemeinfrei.
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