Ein im eigenen Hause verbotenes Buch? „Ruth“ von Elisabeth Gaskell.

Meine bisherigen Erfahrungen mit Elisabeth Gaskell habe ich bereits in meinen Besprechungen zu „Wives and Daughters“ und „Mary Barton“ ausgebreitet. „Mary Barton“ hat mir im Studium nicht besonders gefallen. Wobei sich auch hier als erwachsener Leser, wenn man nicht mehr die Bestätigung des Eigenen, sondern interessante Geschichten und neue Perspektiven von Kunstwerken erwartet, ein interessanter Text entdecken lässt. „Mary Barton“ erzählt aus einer konservativ-christlich-sozialen Perspektive von den Arbeitskämpfen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat tatsächlich aber seine Schwierigkeiten beim Spannungsaufbau und überhaupt einige erzählerische Unwuchten. Dennoch lässt sich Gaskell bereits als eine Erzählerin erfahren, die sehr atmosphärische Szenen aus dem Landleben und dem Stadtleben zeichnen kann. Das gilt nun auch wieder für Gaskells je nach Zählweise zweiten oder dritten Roman „Ruth“ („Cranford“ würde ich persönlich weniger als Roman nehmen, denn als eine erzählerische Dokumentation aus dem Kleinstadtleben). „Ruth“ erzählt von dem, was man damals eine „gefallene Frau“ nannte, ein Thema, das besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein häufiges werden sollte.

Ruth hat die Mutter verloren, der Vater kann nicht für sie sorgen. Sie arbeitet dann als Lehrling bei einer Näherin, verliebt sich in den jungen gutbürgerlichen Bellingham, der mit ihr zuerst nach London und dann nach Wales fährt, und wie auf magische Weise entsteht aus dieser Reise ein Kind. Richtig: es wird nicht einmal angedeutet, dass auf dieser Reise mehr passiert als Händchen halten und Landschaft anschauen, aber für die lesenden Zeitgenossen der Autorin war sowieso klar, was abging. Ich erwähne das, weil Wiki berichtet:

“Ruth received a mixed critical reception. As a work that dealt frankly with seduction and illegitimacy, it inevitably attracted controversy: Gaskell reported that it was a „prohibited book“ in her own household, that friends expressed „deep regret“ at its publication, and that two acquaintances burnt their copies (…)”

Doch der Roman ist wirklich an keiner Stelle auch nur im Mindesten explizit, was Körperliches betrifft. Das Thema reichte, um Anstoß zu erregen. Das Paar trennt sich. Die Familie des Mannes lässt Ruth noch 50 Pfund da, und die junge Frau scheint am Ende, als Herr Benson und seine Schwester Faith sie aufnehmen. Hier wird Ruth als Witwe getarnt, bekommt ihr Kind und zieht es einige Jahre lang groß. Und sie erlangt schließlich eine Stellung als Gouvernante bei einem anderen Paar im Ort. Das läuft einige Jahre lang gut, bis der frühere Geliebte unter anderem Namen und als intriganter Parlamentarier zurückkehrt und eine Bekannte von Ruth natürlich bald hinter das Geheimnis kommt…

Ruth zeigt sich erzählerisch deutlich geschlossener als noch „Mary Barton“. Die Autorin hat mittlerweile herausgefunden, wie man über längere Zeit Spannung aufbaut, wie man kleinere Spannungsstrecken dazwischen setzt, wie man die Lesenden bei der Stange hält, während man jene Themen bearbeitet, die ihr offenkundig wichtig sind. Bei der Atmosphäre aber glänzt der Text besonders. Die Nähstube, in der Ruth arbeitet, das städtische, aber noch relativ gemütliche Setting, in das diese Nähstube eingebettet ist, die schweren Arbeitsverhältnisse, die sozialen Beziehungen. Ich glaube, man findet kaum eine AutorIn des 19. Jahrhunderts, die die Welt der einfachen Arbeit so plastisch vor Augen stellt wie Gaskell. Zu voller Schönheit auf schwingt sich die Stadt dann in den seltenen Momenten der Ruhe:

“The cold grey dawn was drearily lighting up the streets when Mrs Mason and her company returned home. The lamps were extinguished, yet the shutters of the shops and dwelling-houses were not opened. All sounds had an echo unheard by day. One or two houseless beggars sat on doorsteps, and, shivering, slept, with heads bowed on their knees, or resting against the cold hard support afforded by the wall.”

Aber auch Landschaften zeichnet die Autorin detailliert und in berührender Schönheit, sei es, als Ruth ihren Geliebten mitnimmt, um ihm zu zeigen, wo sie früher gelebt hat, sei es später auf der Reise nach Wales:

„Once on the road, at the summit, Ruth stood silent, in breathless delight at the view before her. The hill fell suddenly down into the plain, extending for a dozen miles or more. There was a clump of dark Scotch firs close to them, which cut clear against the western sky, and threw back the nearest levels into distance. The plain below them was richly wooded, and was tinted by the young tender hues of the earliest summer, for all the trees of the wood had donned their leaves except the cautious ash, which here and there gave a soft, pleasant greyness to the landscape. Far away in the champaign were spires, and towers, and stacks of chimneys belonging to some distant hidden farm-house, which were traced downwards through the golden air by the thin columns of blue smoke sent up from the evening fires. The view was bounded by some rising ground in deep purple shadow against the sunset sky.“

Nachdem sich Ruth dann bei den Bensons eingelebt hat, wird das Ganze freilich etwas trockener, vielleicht technischer. Ja, das Haus, die neue kleine Stadt, die Menschen, werden durchaus beschrieben, aber Dialoge und besonders Diskussionen, wie es nun weitergehen soll, Debatten über Werte und so weiter und so fort, nehmen viel Raum ein, während das Atmosphärische zurückgeschraubt wird. Der Text bleibt interessant, aber eine größere Balance wäre ihm besser bekommen.

Der Text nimmt mit der Aufdeckung von Ruths Geheimnis dann wieder Tempo auf. Der Konflikt, ob/wie man trotz all des Hasses im Dorf ein Leben ermöglichen kann, wird zentral. Die Atmosphäre wird nicht mehr in der gleichen Weise aufgebaut. Nun dominieren Überlegungen und Diskussionen dazu, was hier eigentlich die richtige christliche Haltung wäre, und wir erleben Ruths Leben als Kampf- und Leidensgeschichte, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern natürlich auch um den Sohn, dem man nun ja wirklich nicht mal nach viktorianischen Vorstellungen etwas vorwerfen könnte, als dass er von der „falschen“ Mutter geboren wurde.

„Ruth“ hilft vielleicht auch, einige Gedanken weiter zu beleuchten, die ich schon in meiner ausführlichen Besprechung von „Mary Barton“ untersucht habe, etwa die Frage, was in dem christlich-sozialen Denken von Gaskel als richtig oder gerecht oder gut gelten könnte. In diesem Fall ist es etwa so, dass die Erzählerin den Lesenden gegenüber klar äußert, dass die nette Hilfe des Geschwisterpaars Benson nur ein schlechterer Weg sei, der Gottes Gerechtigkeit möglicherweise im Weg stehen könnte.

“Ah, tempter! unconscious tempter! Here was a way of evading the trials for the poor little unborn child, of which Mr Benson had never thought. It was the decision — the pivot, on which the fate of years moved; and he turned it the wrong way. But it was not for his own sake. For himself, he was brave enough to tell the truth; for the little helpless baby, about to enter a cruel, biting world, he was tempted to evade the difficulty. He forgot what he had just said, of the discipline and penance to the mother consisting in strengthening her child to meet, trustfully and bravely, the consequences of her own weakness. He remembered more clearly the wild fierceness, the Cain-like look, of Thomas Wilkins, as the obnoxious word in the baptismal registry told him that he must go forth branded into the world, with his hand against every man’s, and every man’s against him.”

Richtiger wäre es also in diesem Denken gewesen, die Schuld auf sich zu nehmen, und durch das Leid den Weg zu größerer Gerechtigkeit zurück zu finden. Ein interessanter Nebenaspekt: die hilfreichen Geschwister gehören der „falschen“ Kirche an, sind protestantische Dissidenten. Es ist also naheliegend, dass ihre Nächstenliebe wohlgemeint, aber möglicherweise am Ende eben als nicht ganz gottgefällig wahrgenommen wird. Allerdings ist das nun keine Linie, die der Roman knallhart durchzieht. Wir haben in anderen Werken Gaskells bereits eine Autorin kennengelernt, die sich besonders für die Details und die konkreten Situationen des Lebens interessiert. Wie zuerst Ruths Ex und dann ihre bisherigen Dienstherren mit Ruth umspringen, nachdem sie die Wahrheit über die Bedienstete erfahren haben, dürfte selbst viktorianischen Lesern schon ein starkes Gefühl gegeben haben, dass es vielleicht doch nicht so falsch war, die Herkunft der Protagonistin zu verschweigen.

Zwar zieht sich Benson den Schuh an und gibt zu, er habe gesündigt, indem er Ruth unter falschen Vorstellungen ins Dorf einführt und bei einem Freund in Dienst gibt, aber seine Schwester hält dagegen:

““Was Mr Bradshaw very angry?” “Yes, very; and justly so. I did very wrong in making that false statement at first.” “No! I am sure you did not,” said Miss Faith. “Ruth has had some years of peace, in which to grow stronger and wiser, so that she can bear her shame now in a way she never could have done at first.” “All the same it was wrong in me to do what I did.” “I did it too, as much or more than you. And I don’t think it wrong. I’m certain it was quite right, and I would do just the same again.” “Perhaps it has not done you the harm it has done me.” “Nonsense! Thurstan. Don’t be morbid. I’m sure you are as good — and better than ever you were.””

Diese Schwester trägt nun sicher nicht zufällig den sehr sprechenden Namen Faith.

Berücksichtigen sollte man fernerhin auch, dass diese Dissidenten-Familie in jedem Fall deutlich freundlicher gegenüber Ruth handelt als die gesamte rechtgläubige Nachbarschaft. Wenn also der Text die Botschaft vertritt, Ruth hätte ihre „Sünde“ offen tragen sollen und damit auch ertragen, welche Schwierigkeiten dann das Leben für sie bereithält, egal wie schlimm es wird, sagt er durch das Entfalten der Handlung dann aber auch: Ihr Mitmenschen, ihr Arschlöcher, ihr solltet der armen Frau eigentlich das Leben nicht schwer machen. Ihr seid nicht die Richter und Henker, es ist nicht an euch, ein Urteil zu sprechen. Der Roman ist schon mit voller Absicht so gebaut, dass unsere Empathien stets auf Ruths Seite sind. Und das ist jetzt das Besondere: Ich denke, das dürfte sogar für Lesende gelten, die ein strikt konservatives Weltbild vertreten, in dem Sex vor der Ehe wirklich etwas Schlimmes ist und ein außereheliches Kind erst recht. Wer, wie ein Teil von Ruths Mitmenschen, mit dem Finger auf die Sünderin zeigen möchte und sagen: „Geschieht ihr schon recht“, müsste das Buch bereits an der deutlich weiter oben zitierten Stelle schließen und würde wahrscheinlich selbst dann noch wissen, dass das so nicht gedacht ist.

Das Faszinierende dabei ist, dass dieses Mitgefühl tatsächlich aus der Logik der Erzählung hervorgeht und nicht in dem Gaskell liberales Gedankengut predigt. Vielleicht ist das ja der tiefere Grund hinter der Tatsache, dass der Roman zu Lebzeiten der Autorin so unerhört galt. Er zwingt dazu, sich mit eigener Bigotterie auseinanderzusetzen, ohne dass man die Argumente darin dem politischen Gegner zuschreiben könnte. Man hört eben keine Predigt vom Feind, sondern sieht den eigenen christlichen Moralvorstellungen gewissermaßen bei tätiger Selbstkritik zu. Übrigens gibt die Erzählung interessanterweise später selbst zu, dass die im Geheimen verlebten Jahre für Ruth eine gute Sache gewesen sein könnten:

“Her mind, as I have said before, had been well cultivated during these last few years; so now she used all the knowledge she had gained in teaching Leonard, which was an employment that Mr Benson relinquished willingly, because he felt that it would give her some of the occupation that she needed.”

Und wenn man bedenkt, dass die Protagonistin bei ihrer ersten Konfrontation mit ihrer sogenannten Schande kurz vor dem Selbstmord stand, könnte etwas, das man aus diesem Text mitnimmt, sein: Mag sein, dass es ideale, dass es Lehrbuchlösungen gibt (sei es nun wie hier im christlichen Glauben oder anderswo), aber vielleicht ist in einer alles andere als idealen Welt die nicht perfekte Lösung die beste, ja, besser, als die ideale. Denn die ideale hätte Ruth höchstwahrscheinlich in den Selbstmord getrieben und auf diese Weise für immer vom Himmelreich ausgeschlossen. Und Ruth selbst ist ja wiederum auch Christin, lebt also größtenteils innerhalb der gleichen Glaubens- und Moralvorstellungen wie die, die ihr hier teils helfen und teils das Leben schwer machen.

Bild: Wikiart, gemeinfrei.

Was passiert mit dem Dschinn? Jackas London – 9.

Langsam fallen mir keine neuen Aspekte mehr ein, die ich für Benedikt Jackas London-Reihe in den Mittelpunkt stellen könnte. Das soll nicht heißen, dass die Bücher schlecht werden. Sie sind immer noch gute, spannende Unterhaltung und den zerfahrenen London-Romanen von Ben Aaronovitch „Konkurrenzprodukt“ meilenweit überlegen. Aber wir sind mittlerweile von verbundenen Einzelbänden deutlich zu einer durchgehenden Handlung hin übergegangen. Die Welt mit ihren Stärken und Schwächen steht, und über die meisten Dinge habe ich einfach schon in früheren Rezensionen gesprochen. Der neunte Band schließt trotz einiges zeitlichen Abstandes wieder direkt an den achten an. Weil Schwarzmagier Morden im Gefängnis sitzt, ist Alex Verus jetzt Ratsmitglied und muss sich darum kümmern, die gestohlenen mächtigen Gegenstände wieder zusammenzuführen. Anne hat sich im letzten Roman mit einem Djinn verbunden, und auch wenn es aussieht, als sei das Problem gelöst, ist es das natürlich nicht. Der Djinn nutzt Annes abgespaltene finstere Hälfte als Einfallstor. Diese Hälfte, die manchmal übernehmen kann, wenn Anne in Bedrängnis ist, hat sie quasi wie eine reale Person in ihrem Unterbewusstsein festgesetzt – ein Resultat ihrer schrecklichen Erfahrung als Schwarzmagier-Lehrling.

Die Handlung dreht sich dann vor allem um einen Versuch, den Schwarzmagier Drakh festzusetzen, der wiederum Lehrlinge und Adepten nutzt, die in der magischen Welt wenig gelten, um sich quasi als Anführer eines Volksaufstandes zu inszenieren. Da noch drei Bände folgen, misslingt das Unterfangen natürlich auf beiden Seiten, und wir sind zum Schluss nicht viel weiter, als wir am Anfang waren, außer dass Alex und Anne zusammenkommen. Das ist emotional nicht sehr überzeugend, da diese Romanreihe sich insgesamt bisher allen Versuchen überzeugender Romanzen entzogen hat, wie ich schon in früheren Rezensionen festgestellt habe. Ja, es war irgendwie seit dem dritten oder vierten Band klar, dass die beiden zusammengehören. Die Reihe hat bisher aber nichts unternommen, einen gelungenen „Will they, won’t they“-Plot zu entwickeln.

Jackas London-Romane sind jetzt einfach nur noch Texte, die man runterlesen kann, weil man wissen möchte, was passiert, und dass es noch 1200 weitere Seiten zu lesen gibt, macht mir etwas Sorgen, auch für die Gesamtspannung. Das auch bildliche Gestalten von Großstadtatmosphäre tritt mittlerweile deutlich in den Hintergrund, und besonders schwach finde ich, wie Wales immer als ein Ort behandelt wird, den man gar nicht beschreiben muss, weil sowieso jeder dazu Bilder im Kopf hat. Während sonst immer genau gesagt wird, wo die Handlung gerade spielt, heißt es dahingehend meist in etwa: „Wir standen in einer walisischen Landschaft“ oder „Wir waren in einem Tal in Wales“.

Positiv ist hervorzuheben, dass Jacka seine Romane nicht im Umfang eskalieren lässt, was ja ein typisches Problem längerer Fantasy-Serien ist. Ob Harry Potter, Wheel of Time oder Song of Ice and Fire – was anfing mit geschlossenen Texten von einigen hundert Seiten, artete mit der Zeit oft in über 1000 und mehr Seiten aus, wobei diese vielen Seiten selten Mehrwert lieferten, sondern vor allem aus der stringent entwickelten Geschichte heraus und in einigen Fällen auch nie wieder hineinführten. Jacka ist dahingehend sehr konzentriert. Seine Romane haben etwa 400 Seiten, mal ein paar weniger, im heftigsten Fall etwa 70 mehr, und das ändert sich auch nicht. Seine Plots gehen bisher auf, was früh angedeutet wurde, erlangt meist später Bedeutung, und es werden auch nicht ständig neue Figuren eingeführt. Ich bin gespannt, ob das Thema Anne und der Djinn noch weitergeführt wird, denn das wäre schon sehr wichtig. Die Lösung, die dieser Roman gefunden hat, verlangt eigentlich, dass Anne noch einmal schwer in Versuchung geführt wird, um den Djinn von selbst zu sich zurückzurufen. Das sollte auf jeden Fall geschehen, um das vielleicht interessanteste persönliche Problem der Reihe seit Lunas Fluch einer tatsächlich angemessene Lösung zuzuführen. Ich hoffe, dass der Autor dem nicht durch die modische Schutzbehauptung „Unterlaufen von Erwartungen“ ausweicht.

Bild: wikiart, gemeinfrei.

Faszinierende Doppelwelt-Idee ohne starken Abschluss. „The Year of the Unicorn“ (Witchworld 3)

„The Year of the Unicorn“, der dritte Teil der Witchworld Reihe, verfestigt den Eindruck, dass die Autorin Andre Norton Texte gut beginnen kann, aber längst nicht so gut entwickeln. Diesmal handelt es sich um eine Ich-Erzählung, und die Hauptfiguren der beiden Vorgängerromane sind nirgends zu sehen. Dabei bleibt es auch. Gillan ist fremd in einem Land, das regelmäßig Frauen als Tribut zur Verheiratung an ein nomadisches Kriegervolk abgibt. Als ihre ältere Vertraute zu solch einer Hochzeit gezwungen werden soll, geht Gillan an ihrer Stelle. Und das durchaus nicht mit der Geste eines großen Opfers. Sie selbst wurde wahrscheinlich als Kind verschleppt und langweilt sich in dem quasimonastischen Leben. Sie sucht ein Abenteuer. Diese erste Zeit bis zum Aufbruch mit den Nomaden und noch ein Stückchen weiter ist sehr spannend erzählt, emotional, auch bildlich.

“The stillroom was odorous as always, though most of those smells were sweet and clean. And now there was a fragrance, arising from the vessel by the still which was so entrancing that I feasted my nostrils as I obeyed the orders laid upon me. That task was done, the liquid safely bottled, the apparatus washed thrice as was the custom, and yet Dame Alousan returned not. Outside afternoon became early winter evening. I blew out the lamps, latched the door, and crossed to the main hall of the Abbey.”

Und dann verfällt die Reihe in ihre alten Schwächen. Die Gruppe reist durch das Land, ein paar seltsame Dinge passieren. Gillan verspricht sich einem Mitglied der Gruppe, doch ein anderer will sie davon abbringen. Die Gruppe scheint auf der Suche nach einem Tor zu sein, vielleicht die versprengte Nachkommenschaft des hochtechnisierten Gorm? Beim Durchschreiten des Tores wird Gillan irgendwie zugleich mitgenommen und zurückgelassen, schafft es aber wiederum irgendwie, auf einem anderen Weg auf die andere Seite zu gelangen. Mittlerweile ist klar, dass Gillan eine Hexe aus dem entsprechenden Land der Vorgängerromane ist, auch wenn sie kaum Kontrolle über ihre Fähigkeiten hat. Es entsteht nun eine ziemlich verworrene Spaltungsgeschichte, in der 2 Gillans existieren, und so sehr man das theoretisch als Metapher für die zerrissene Persönlichkeit einer Frau lesen könnte, die in Gefangenschaft aufgewachsen ist, sich dort aber relativ frei verwirklichen konnte, doch langeweilte, aber in eine andere Gefangenschaft geht, um gefühlte Freiheit zu erfahren, und nun irgendwie versucht, diese Freiheit zu realisieren – ihr seht vielleicht: mir kommen dabei zu viele „irgendwie“ vor.

Die Idee ist prinzipiell interessant, aber wie diese physische Spaltung stattfindet ist mir schleierhaft.
Und auch, wie man daraus dann auch noch solche gefährliche praktische Schlüsse ziehen kann, ohne Präzedenzfall, mit relativ wenigen Indizien dafür. Wobei, wohlgemerkt, wenn der Schluss falsch wäre, man sich für eine relativ fragwürdige Spekulation hätte töten lassen:

“Listen, Herrel, to make this Gillan I now wear they slew me—in this world. Therefore, should I be now slain, it must follow that I live again—in that body—””

Prinzipiell interessant etwa auch, dass Gillan die Welt hinter dem Tor, die sie nicht durchs Tor betreten hat, wie eine leere Welt vorkommt, auf deren Einwohner sie sich konzentrieren muss um sie überhaupt zu sehen, die ihr wie Geister erscheinen, während sie den Einwohnern wie ein Geist erscheint:

“My concentration broke. They began to fade, that age-old house, man and maid, buildings, fowls, horses—thinner and thinner—until they were gone and I stood in the middle of one of the fields utterly alone again. Still in me I knew that my sight was reversed—where once I had seen good slicked over ill, now I saw ill slicked over good. To me this was a land of wraiths—and to them I was the wraith!”

Aber erneut: Da wird wenig draus gemacht, das ist in fünf Minuten abgehakt, und überhaupt springt der Text von Station zu Station, diesmal vor allem, um Konzepte anzureißen, mit denen dann nie wirklich gearbeitet wird.

Schade um die erzählerisch starken Anfänge und manche weitere literarisch überdurchschnittliche Passage, aber aufgrund der hastigen Ausführung und der im Verlauf stark abfallenden Qualität kann ich Texte aus der Witchworld nur Menschen empfehlen, die verzweifelt auf der Suche nach neuer Fantasy sind und hier relativ viele, wenn auch kurze, Bücher für relativ wenig Geld finden können. Das gilt nur für die Kindle-Ausgaben, die gedruckten Ausgaben scheinen teilweise unglaublich teurere Raritäten.

Bild: wiki, gemeinfrei.

Stil und Themen beißen sich. Bolaños „Chilenisches Nachtstück“.

Man könnte meinen, bei Bolaños „Chilenisches Nachtstück“ handelt es sich um einen Jugendtext des berühmten Autors, so sehr weicht der stilistisch von anderen Romenen ab. Hier dominieren diese langen ausgreifenden Sätze, die sich gut über eine Seite und mehr ziehen können, ohne Punkt und Komma, und das gesamte Buch ist ohne Absatz gesetzt, so dass man sich mühevoll seine Pausen selbst heraussuchen muss, wenn man nicht in einem Zug durchlesen kann. Der gesamte Stil erinnert an die Vorgänger-Generation mit ihren überschäumenden Werken, denen das düster reduzierte Bolanos eigentlich, trotz aller Verpflichtung, sonst entgegentritt. Allerdings: „Chilenisches Nachtstück“ ist kein Jugendttext, zumindestens der Veröffentlichung nach. Der Roman erschien 2000, zwischen den Meisterwerken „Amuleto“ und „2666“.
Die typischen Themen Bolaños sind da. Nach der im Klappentext erwähnten Sterbeszene folgt ein Rückblick, der in die Zirkel der chilenischen Literatur eintaucht. Die Hauptfigur geht ein ungewöhnliches, bezahltes Lehr- und Gesprächsverhältnis mit einem Geschäftsmann ein, und ein junger Mäzene tritt auf, aus dessen Keller später Grausamkeiten hervordringen. Einmal mehr: diese düstere Verschwisterung von ästhetischem Glanz, der gesellschaftlichen Kunstszene und den Folterkellern der Pinochet-Diktatur. Auch diesmal erzählt Bolaño wieder mehrere Geschichten hintereinander weg, die vor allem durch die Hauptfigur verbunden sind.
Aber der Stil passt irgendwie nicht wirklich. Diese langen schwingenden Sätze, das Reden ohne Punkt und Komma, das stand den Werken des Magischen Realismus und des Booms gut zu Gesicht, wo aller Melancholie zum Trotz auch immer ein revolutionärer Überschwang die Form bestimmte. „Chilenisches Nachtstück“ ist thematisch genauso deprimierend und im gleichen Ton gehalten wie die anderen kurzen Romane des Autors. Aber: das beißt sich diesmal mit der Erzählweise. Die kurzen Kapitel mit den immer noch poetischen, aber nicht ausufernden, Satzgebilden, unterteilt in kurze Absätze, die von Bild zu Bild springen. Das zeigt sich dem typischen Stoff Bolaños gewachsener, als dieser nach dem Vorbild des Magischen Realismus, der für „ Chilenisches Nachtstück“ gewählt wurde.

Bild: Pixabay.

Forstsetzung, die an den Auftakt nicht herankommt. „Web of the Witchworld“ (Witchworld 2).

„Web of the Witchworld“, Buch 2 der Witchworld Reihe von Andre (Alice Mary) Norton, beendet zwar die in Band 1 etwas abrupt abgebrochene Geschichte, verbleibt dabei aber eher auf dem Niveau der hastigen Durchführung jenes Bandes, als auf dem des vielversprechenden dreifachen Beginns, womit ich mich im letzten Text schon auseinandergesetzt habe.

Wir erfahren zu Anfang, dass Zeit vergangen ist, Simon hat mittlerweile eine Hexe geheiratet, die deshalb keine Hexe mehr ist. Schon kommt es zu einem Angriff, Loyse wird entführt und bald entschließt sich Simon, in das Herz von Gorm, dem Gegner aus dem vergangenen Band, vorzustoßen. Alle fünf bis zehn Seiten folgt nun eine Wendung, und am Ende wird der Gegner, der ebenso wie Simon aus einer anderen Welt stammt und hochtechnisiert ist, besiegt, diesmal vielleicht für immer. Das ist durchaus relativ spannend. Zumindest in der Theorie ist auch die Welt, die Magie mit Technik und einem Vielen-Welten-Modell verbindet, interessant. Allerdings geht alles auch viel zu schnell, als dass man sich in diese Welt wirklich einfühlen könnte. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht möglich ist, auf 200 Seiten eine dichte Geschichte in einer fremden Welt zu erzählen und diese plastisch spürbar zu machen. Aber Norton packt einerseits zu viel Handlung in den Text, findet andererseits aber keine Mittel, das kompositorisch oder sprachlich-poetisch zu verdichten, und bewegt sich am Ende so in einem unheimlichen Tal zwischen den Klassikern früher Fantasy-Erzählungen und dem, was wir heute vom Genre gewohnt sind. Die Conan- oder die Elric-Texte etwa sind noch deutlich kürzer, kompensieren das aber durch wenige eindringliche Szenen oder eine überwältigende Bildgestaltung. Neuere Fantasie hat das größtenteils verloren, zumindest im Mainstream, und überwältigt durch ihre Masse. Norton bemüht sich um Kürze, packt in die Texte aber so viel Handlung, dass neuere Autoren daraus einen 1000-Seiter machen würden, und obwohl ich eigentlich immer auf der Seite der Kürze stehe, lässt das in diesem Fall die einzelnen Handlungsmomente wenig ausgearbeitet und zufällig wirken. Zusätzlich zum Nachteil gereicht der Reihe dabei, dass die Handlungselemente durchaus recht generisch sind (Reisen, schleichen, kämpfen, befreien oder befreit werden), und dass dabei, wie eine Szene in die andere führt, oftmals tatsächlich von Zufällen abhängt. Simon ist alleine unterwegs, aber muss die Armee irgendwie in die richtige Richtung lotsen. Plötzlich kann er mit seiner Ehefrau telepathisch kommunizieren. Simon gerät in Gefangenschaft? „Lass doch mal ausprobieren, ob wir, obwohl wir offenkundig keine Hexe sind und aus einer magielosen Welt stammen, mit der neu erworbenen Fähigkeit auch Gegenstände manipulieren können.“ Hurra, das funktioniert ja! Und so weiter. Ein besonders entscheidendes Moment: Im ersten Roman und zu Beginn dieses Romans noch einmal wurde ganz deutlich gesagt, dass Hexen, die sich einem Mann hingeben, ihre Zauberkraft verlieren. Jaelith macht durch die Ehe nun genau das, stellt aber fest: Irgendwie ist diese Zauberkraft noch da. Man sollte erwarten, dass das für großen Aufruhr sorgt. Entweder hat die Gesellschaft der Hexen über Jahrtausende gelogen oder Jaelith ist eine unglaubliche Anomalie. Letztendlich sagen die Hexen aber nur: Selbst wenn das so ist, ist es nur ein Schatten deiner alten Kraft und wird verschwinden, und selbst wenn es nicht verschwindet, ist uns das ziemlich egal. Für uns bist du keine Hexe mehr. Die Kraft verschwindet nicht, Jaelith kann immer noch beeindruckende Dinge leisten. Und auch wenn sie selbst noch ein- oder zweimal erwähnt, dass das ungewöhnlich und interessant ist, ignoriert es der Rest der Welt. So wie die Welt geschildert war, müsste es sie in den Grundfesten erschüttern.

Der Roman ist trotzdem auf der reinen Handlungsebene ganz spannend, und wie gesagt, sehr kurz. Weiterhin würde ich sagen, wenn ihr die Bücher irgendwo findet, sei es im Bücherschrank oder in der Bibliothek, sind sie ausreichend unterhaltsame Lektüre. Der große Wurf, auf den ich durch die Empfehlung von jemandem, der sich traut zu sagen, wie schrecklich schlecht geschrieben und ausgedacht die Dune-Romane sind, gehofft habe, sind sie nicht.

Bild: Wikiart, gemeinfrei.

Alex gut, Rest der Welt Böse? Schwierigkeiten von Benedikt Jackas London – 8

Benedict Jackas London-Romane machen jetzt stets genau da weiter, wo der letzte aufgehört hat. Im achten Teil sind Alex Verus und Anne gezwungen, für Richard Drakh und gleichzeitig für den Rat zu arbeiten. Das Todesurteil ist deshalb ausgesetzt, aber nicht aufgehoben. Wir folgen ihnen und ihren Freunden, wie sie versuchen, sich in diesem Gewirr zurechtzufinden und zugleich die Lage irgendwie zu ihren Gunsten zu wenden.
Insbesondere geht es um die Suche nach mächtigen Gegenständen namens Traumsteinen und um Dschinns, die einst freie Wesen waren, aber jetzt nur noch sehr selten und dann an Gegenstände gebunden existieren. Dabei werden einige in früheren Büchern bereits angerissene Konzepte aufgegriffen und interessanterweise transformiert, etwa die Schattenreiche oder die Affenpfote aus dem zweiten Roman.

Trotzdem erfüllt es mich mit Sorge, dass die Serie danach noch weitere vier Bücher läuft. Das Ganze sollte langsam zum Schluss kommen. Man merkt es allenthalben: Es gibt nichts Relevantes mehr zwischen den Figuren zu entwickeln, man streitet sich und verträgt sich, es werden Romanzen angedeutet und dann nicht weiter verfolgt, weil dafür unter all dem Stress nicht wirklich Platz ist. Und die Welt der weißen Magier ist mittlerweile als eine so bösartig intrigante und sich um ihre eigenen Gesetze nicht scherende enthüllt, dass jeder bedeutungsvolle Kontrast zwischen weißer Magie und schwarzer Magie, sei es nun Gut gegen Böse oder Regelhaft gegen Chaotisch, nicht mehr wirklich trägt. Und selbst wenn das die intendierte Botschaft sein sollte: Am Ende sind alle irgendwie machtgeile Arschlöcher, alles die gleiche Soße. Das ist weder eine besonders einsichtsvolle Botschaft noch lässt sich damit dauerhaft eine gute Geschichte erzählen.
Es stößt auch immer stärker auf den Elefanten im Raum: Wenn das so ist, wie kommt es, dass ausgerechnet Alex und seine paar Freunde anders sind als wirklich alle anderen Magier? Nur die Hauptfiguren gut, der Rest der Welt böse, das wirkt ziemlich pubertär. Die Reihe versucht sogar, daraus eine Stärke zu machen, indem einer der schwarzmagischen Bösewichte anscheinend schon lange damit geplant hat, dass nur Alex eine Aufgabe ausführen kann, für die man Respekt vor magischen Kreaturen haben muss, was anscheinend kein anderer Magie in dieser gottverdammten Welt hat? Wie konnte der andere das dann wissen? Hätte er nicht viel eher davon ausgehen müssen, dass auch Alex irgendwelche Machtspielchen spielt und das „Gute“ nur die Fassade ist, die er aufrechterhält, weil es seinen Zielen dient? Es gibt ja anscheinend sonst keinen guten Menschen in dieser Welt. Soll jemand ernsthaft damit planen, dass der eine, der relativ gut erscheint, tatsächlich gut ist und nicht ein Arschloch wie die anderen, der ein „gutes“ Spiel spielt?
Zugegeben, die Reihe liest sich weiterhin relativ kurzweilig, ist sprachlich und atmosphärisch Klassen über der zuvor von mir hier besprochenen London-Reihe von Ben Aaronovitch. Aber sie sollte langsam zum Ende finden, sonst zerschlägt der Autor mit jedem weiteren Buch ein weiteres Stück seiner anfangs doch recht interessant aufgebauten Welt, während die Geschichte frei dreht.

Bild: wikiart, gemeinfrei.

Mehrere starke Anfänge, durch-wachsenes Ende. „Witchworld“ (1) von Andre Norton.

Vor ein paar Wochen habe ich ein Blog entdeckt, das die Dune-Romane genauso schrecklich findet wie ich, und auch ausführlich begründete Rezensionen dazu veröffentlicht hat, sodass ich diese Aufgabe als erledigt betrachte und selbst diese Bücher niemals wieder werde lesen geschweige denn besprechen müssen. Hier wurde nebenbei, auch wenn es keinen allzu deutlichen Zusammenhang gibt, das Witch World Universum von Andre (Alice Mary) Norton als gelungene klug aufgebaute Fantasy empfohlen, und da die sechs Hauptromane für kaum mehr als 10 € zu haben sind, wollte ich mir das einmal anschauen.

“Witchworld”, der erste Roman, beginnt gleich zweimal vielversprechend. Zuerst in einem an unsere Welt angelehnten Szenario, in dem ein Mann, der offenkundig zu kämpfen versteht, aus halb im Dunkeln bleibenden Gründen verfolgt wird. Okay, also hardboiled Urban Fantasy, dachte ich mir. Warum nicht? Das Ganze ist eindringlich und atmosphärisch geschrieben:

“Tawdry red-and-yellow neon lights made wavering patterns across the water-slick pavement; his acquaintance with this town was centered about a hotel or two located at its center section, a handful of restaurants, some stores, all that a casual traveler learned in two visits half a dozen years apart. And he was driven by the urge to remain in the open, for he was convinced that the end to the chase would come that night or early tomorrow. Simon realized that he was tiring. No sleep, the need for constant sentry go. He slackened pace before a lighted doorway, read the legend on the rain-limp awning above it. A doorman swung open the inner portal and the man in the rain accepted that tacit invitation, stepping into warmth and the fragrance of food.”

Dann allerdings sucht der Protagonist einen Spezialisten fürs Verschwinden auf, und der teleportiert ihn kurzerhand in eine andere Welt. Auch hier ist die Exposition wieder überzeugend. Eine junge Frau flieht, der Protagonist kann ihr helfen, stellt aber bald fest, dass ihre Mächte die seinen bei weitem übersteigen. Weiterhin wird stark beschrieben:

“The dawn light did not mean sun to come, for there was a thick mist filling the air. Simon got to his feet and glanced back over his shoulder. Two rough pillars of reddish rock stood there, between them no city yard but a stretch of the same gray-green moor running on and on into a wall of fog. Petronius had been right: this was no world he knew.
(…)
As he plodded across the soggy turf the sky grew lighter, the mist lifted, and the character of the land changed slowly. There were more outcrops of the red stone, the rolling ground held more sharp rises and descents. Before him, how many miles away he could not judge, a broken line cut the sky, suggesting heights to come. And the meal he had treated himself to was many hours in the past. He twisted a leaf from a bush, chewed it absently, finding the flavor pungent but not unpleasant. Then he heard the noise of the hunt.”

Erneut: warum nicht? Kurze dichte Anderwelt-Fantasy also?
Leider wird das Ganze nun doch ein wenig generischer. Einige doch wichtige Hintergründe werden kaum erfahren, sondern als große Infodumps eingeführt:

“Simon had wondered how he would be received among the Guards—after all they were making a stand against high odds and to them any stranger might represent an enemy, a breach in the wall of defense. Only he had not reckoned with the ways of Estcarp. Alone in the nations of this continent, Estcarp was willing to welcome one coming with a story as wild as his own. Because the power of that ancient holding was founded upon—magic! Tregarth rolled the wine about his tongue before he swallowed, considering objectively the matter of magic. That word could mean sleight-of-hand tricks, it could cover superstitious mumbo jumbo—or it could stand for something far more powerful. Will, imagination, and faith were the weapons of magic as Estcarp used it. Of course, they had certain methods of focusing or intensifying that will, imagination, and faith. But the end result was that they were extremely open-minded about things which could not be seen, felt, or given visible existence. And the hatred and fear of their neighbors was founded upon just that basis—magic. To Alizon in the north, Karsten in the south, the power of the Witches of Estcarp was evil. “You shall not suffer a witch to live.” How many times had that been mouthed in his own world as a curse against innocent and guilty alike, and with far less cause.”

Die Hexenwelt zieht bald in den Krieg. Die Gegner wirken wie Untote. Mit einem großen Knall endet der erste von vier Teilen des ersten Bandes, dann geht es noch einmal aufwärts, quasi ein dritter Beginn. Eine neue Figur, die in einem anderen Land gegen ihren Willen verheiratet werden soll, versucht zu fliehen und befreit dabei eine im Haus ihres Vaters gefangene Hexe. Langsam scheint mir, Norton kann Einstiege besser als alles andere. Denn ab jetzt sind wir wieder bei Simon und der Rest ist schleichen, Bündnisse schmieden und Kämpfe, und schließlich die Enthüllung, dass der geheimnisvolle Gegner mit der untoten Armee hochtechnisiert ist und wahrscheinlich wie Simon aus einer anderen Welt kommt. Auch die atmosphärische Gestaltung wird dabei zurückgefahren, die Handlung ist jetzt vor allem ein „Was passiert als nächstes?“.Viele Autorinnen und Autoren scheinen zu denken, wenn man Atmosphäre einmal etabliert hat, bleibt sie da. Das funktioniert natürlich genauso wenig wie bei einem Musikstück, die begleitenden Akkorde nur zu Beginn anzuschlagen und dann alleine die Melodie zu spielen. Zumindest auf Basis des ersten Bandes überzeugt mich auch die „Unsere Welt – andere Welt“-Konstruktion nicht, soll doch angeblich keine Rückkehr möglich sein. Ich würde es schon für relevant halten, dass die Situation, aus der Simon zu Beginn zu fliehen versucht, noch Konsequenzen hat. Zugleich entwertet die Tatsache, dass es angeblich unendlich viele Welten gibt und jeder, der auf Simons Weise flieht, in eine auf ihn zugeschnittene Welt teleportiert wird, diese Welt ein wenig. Das ist zwar nicht das klassische Parallelweltenproblem moderner, auf die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie aufbauender Romane, wo jede Entscheidung eine Parallelwelt erzeugt und letztlich alle möglichen Welten existieren müssten, aber es hat schon ein wenig etwas von Leben in einer Simulation, obwohl nicht unbedingt gesagt wird, dass unser Bewusstsein die Welt erzeugt. Letzte Schwäche: Dass Loyse, die im zweiten Band des ersten Romans geflohene Frau, wie eine Figur mit gleichem Gewicht wie Simon eingeführt wird, und dann im ersten Teil nur noch am Rande vorkommt, überzeugt auch nicht wirklich. Vielleicht wird das Problem ja im zweiten Teil gelöst. Immerhin wird das Ganze nach dem längeren Schleichen, Kämpfen und Ränke Schmieden zum Schluss hin wieder interessanter. Der hochtechnisierte Gegner und die Frage, wo er herkommt und was er will, könnten für die folgenden Teile zumindest eine interessante Geschichte versprechen.

Übrigens: Lasst euch nicht davon täuschen, dass ich von einzelnen Bänden innerhalb der einzelnen Romane spreche. Die Hexenwelt Romane sind ziemlich kurz. Von den ersten drei überschreitet keiner 200 Seiten. Meist ist das eine Stärke, wobei Norton meines Erachtens einige ihrer Infodump-Passagen doch besser erzählerisch entwickelt hätte.

Bild: Wikiart, gemeinfrei.

Stil, Struktur und Gesellschaft von Llosas „Das Grüne Haus“.

Wahrscheinlich sucht kein Roman Lesende zu Beginn so sehr zu überwältigen, wie „Das grüne Haus“ von Mario Vargas Llosa. Selbst dessen insgesamt sicher noch mal ein gutes Stück schwierigeres „Das Gespräch in der ‚Kathedrale‘“ beginnt mit einer relativ einfachen Beschreibung einer Szene aus dem Leben der Hauptfigur. „Ulysses“ eröffnet mit einem Gespräch unter jungen Erwachsenen, und auch Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ lockt die Lesenden mit einem gemächlichen Gespräch einer Familie über Wetter und Tagespläne in den Text. „Das grüne Haus“ dagegen hebt an mit einem fast 20-seitigen Textblock ohne Absätze, in dem zahlreiche, oft nur mit Spitznamen benannte, Figuren auftreten, in dem wörtliche Rede, Sinneseindrücke und Gedanken innerhalb einzelner Sätze ineinander fließen und all das in einer Szenerie, die auch für die peruanischen Lesenden im ersten Moment eher fremd gewesen sein dürfte: die wenig bewohnten Dschungel des Amazonas im östlichen Peru, wo eine Gruppe von höchstwahrscheinlich Soldaten und Nonnen, so lässt sich die Szene mit der Zeit entschlüsseln, junge Frauen von der Ethnie der Aguaruna zuerst anwerben bzw. den Eltern abzukaufen versuchen, schließlich aber kurzerhand entführen. Einige Sätze von der ersten Seite:

“Der Sargento wirft einen Blick auf Madre Patrocinio, und die fette Schmeißfliege sitzt immer noch da. Das Motorboot hopst auf den trüben Wellen dahin, zwischen zwei Mauern aus Bäumen, die einen stickigen, heißen Dunst ausatmen. Unter dem Sonnendach zusammengerollt, vom Gürtel aufwärts nackt, schlafen die Guardias, gewärmt von der grünlich-gelblichen Mittagssonne: Der Kopf des Knirpses liegt auf dem Bauch des Fetten, der Blonde ist in Schweiß gebadet, der Dunkle schnarcht mit offnem Mund. Ein Schirm aus Insekten begleitet das Boot, zwischen den Körpern kreisen Schmetterlinge,Wespen und dicke Fliegen. Der Motor rattert gleichmäßig vor sich hin, stottert, rattert wieder, und der Lotse Nieves führt das Steuer mit der linken Hand, mit der rechten raucht er, und sein tief gebräuntes Gesicht unter dem Strohhut bleibt unverändert. Diese Leute aus dem Urwald waren nicht normal, warum schwitzten sie nicht wie Christenmenschen? Achtern sitzt steif, mit geschlossenen Augen, Madre Angélica, mindestens tausend Falten im Gesicht, mitunter steckt sie die Zungenspitze heraus und leckt den Schweiß vom Schnurrbart und spuckt aus. Die arme Alte, solche Ausflüge waren nichts für sie. Die fette Schmeißfliege schlägt die kleinen blauen Flügel, löst sich mit sanftem Auftrieb von der rosigen Stirn Madre Patrocinios, fliegt in Kreisen davon ins weiße Licht, und der Lotse würde gleich den Motor abstellen, Sargento, sie waren nämlich gleich da, nach dieser Einbuchtung kam Chicais. Aber etwas sagte dem Sargento, es wird niemand dasein. Das Motorengeräusch bricht ab, die Madres und die Guardias öffnen die Augen, heben den Kopf, blicken sich um. Der Lotse Nieves ist aufgestanden, drückt die Stake nach rechts, nach links, das Boot nähert sich geräuschlos dem Ufer, die Guardias stehen auf, ziehen die Hemden an, setzen die Képis auf, schnallen die Ledergamaschen um. Der Pflanzenvorhang rechts reißt ab, sobald die Flußkrümmung passiert ist, und man sieht ein Hochufer, einen schmalen Einschub rötlicher Erde, der bis zu einem winzigen Winkel voller Morast, Steinbrocken, Röhricht und Farnbüschel herunterläuft. Unten ist kein Kanu, oben am Uferrand keine menschliche Gestalt zu sehen.”

Überwältigen, das ist im übertragenen Sinne dann auch durchaus gewaltvoll gemeint: hier muss man sich gleich voll einlassen, die gesamte Kraft der Erzählung, die ungeheure Fülle der stilistischen Mittel, auf sich einprasseln lassen und darf sich nicht ängstlich zurückziehen. Zugleich aber geschieht das Überwältigen auch in dem Sinne, wie man eine herrliche Landschaft überwältigend nennt oder die hohen Hallen einer Kathedrale. Die Opulenz der Bilder, der brillante Einsatz einer Sprache, die einerseits so ganz aus dem Mündlichen erwächst, andererseits sich aber zu äußerst kunstvollen Komposition verbindet, und nicht zuletzt wiederum das von Pflanzen, Tieren, von Gerüchen und Geräuschen übervolle Urwaldsetting sind überwältigend in diesem Sinne.

Free Jazz & der „Totale Roman“

So zu beginnen erinnert mich an einige der wegweisendsten Free Jazz Alben, die im Gegensatz zur Klassik, die für gewöhnlich zuerst einzelne Themen andeutet und das Ganze dann immer stärker verbindet, häufiger mit einer Kakophonie des Ensembles beginnen, und erst später sich dann die einzelnen Stimmen heraus schälen lassen. Ob der Autor die Technik dort abgeschaut hat? Unmöglich ist es nicht, zumindest Ornett Colemans „Free Jazz“ erschien vier Jahre vor „Das grüne Haus“. Genauso wahrscheinlich oder sogar wahrscheinlicher ist aber, dass der Autor die Verfahrensweise allein aus dem Unterfangen (er)finden musste, dem er sich gestellt hatte, mit Llosas Worten: der Totale Roman. Eine ästhetische Synthese gesellschaftlicher Schichten und Konflikte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten einer Gesellschaft, in diesem Fall Perus. Aus einer älteren Hausarbeit zum Thema:

„Folglich verlangt Vargas Llosa von einer idealen „fiktiven Realität“ mehr, als er von einem rein historischen Roman verlangen müsste. Nicht das einfache Widerspiegeln der Umstände der Gesellschaft, in der der Autor sich bewegt macht das kreative Moment des Romans aus, sondern die Qualität steht und fällt mit den hinzugefügten Elementen, die meist als ein „Komplex von Veränderungen, Betonungen, Verzerrungen und Auslassungen gegenüber der realen Welt“, auftrete (…) Der Schriftsteller bediene sich aus den Trümmern einer Wirklichkeit, die als ganzes nicht überzeugend, dem Untergang geweiht sei, und schaffe, so Llosa, in einen symbolischen Akt des Gottesmordes aus „realer Realität“ und „elementos anunadidos“ einen Kosmos, der im angestrebten Ideal in seiner Komplexität der Realität in nichts nachstehe. Das allumfassende Ergebnis dieses Strebens bezeichnet Vargas Llosa als den „Totalen Roman“, ein inhaltlich wie formal auch derart arrangiertes Gebilde, dass dessen „fiktive Realität“ eine Gesellschaft in all ihren Widersprüchen zeichne (…) Somit erscheint jedes „Ich“ im totalen Roman als eine von vielen beschreibenden Stimmen, und ist als subjektive Sichtweise identifizierbar. Diese Subjektivität ermöglicht nach Scherer, zu exponieren, „was in der Realität … verschwiegen … wird“. Gleichzeitig macht sie den Leser zum letzten Richter, und ermöglicht auf Basis der geschilderten Sachverhalte ein autonomes Urteil. Diese Polyperspektivität verschiedener „Ichs“ reflektiert Vargas Llosas Verständnis der Welt als „heterogenes Chaos“, und impliziert zugleich das Recht und die Pflicht des „Totalen Romans“, unvollkommen zu sein. „Er… kann blinde Stellen enthalten oder unlogisch, paradox, phantastisch sein…“. (…) „Gelungene Fiktion verkörpert die Subjektivität einer Zeit“.“

Stil und Komposition

Hier noch eine kurze Passage, um zu zeigen, wie dieser Komplex im Auftaktteil verknüpft ist:

“Die Gewehre immer noch auf die beiden Männer gerichtet, setzen sie sich rück- wärts gehend ab, und gleichzeitig stehen die Aguarunas auf und folgen ihnen, gebannt von den Gewehren. Die Alte springt wie ein Affe, schlägt ihn und umfaßt zwei Paar Beine, der Knirps und der Dunkle stolpern, Mutter Gottes, fallen auch hin, und Madre Patrocinio, sollte nicht diese Schreie ausstoßen. Vom Fluß her weht eine straffe Brise, bläst den Abhang herauf und wirbelt bewegte, einhüllende, orangefar- bene Wolken und grobe Sandkörner auf, die herumschwirren wie Schmeißfliegen. Angesichts der Gewehre verharren die beiden Aguarunas fügsam und der Steilhang ist schon nahe. Wenn sie über ihn herfielen, sollte der Fette dann schießen? und Madre Angélica, brutaler Kerl, und wenn er sie dabei tö- tete? Der Blonde hält die Kleine mit dem Nasenring am Arm fest, warum ging’s denn nicht runter, Sargento? die andere beim Genick, die entwischten ihm ja, jetzt gleich entwischten sie ihm und sie schreien nicht, sondern versuchen, seinem Griff zu entkommen und ihre Köpfe, Schultern, Füße und Beine zucken, stoßen und schlagen aus und der Lotse Nieves kommt mit Thermosflaschen beladen vorbei: er sollte sich be- eilen, Don Adrián, hatte er alles? ”

Zu Beginn haben wir eine relativ neutrale Beschreibung einer Situation. Der Satz “Wenn sie über ihn herfielen, sollte der Fette dann schießen?…“ könnte auch noch relativ neutral anfangen, aber spätestens die Interjektion „brutaler Kerl“ zeigt an, dass wir uns in den Kopf von Madre Angelica bewegen. Im nächsten Satz verknüpft sich die Beschreibung des Tuns des „Blonden“ mit der Nachfrage an einen Sargento, wobei sowohl der „Blonde“ als auch der „Fette“ diese Frage stellen könnten. Und so weiter. Bei späterer Lektüre wird deutlich werden, wie viel diese Passagen bereits über Figuren verraten, die im Verlauf des Romans und teilweise in exponierte Position noch wieder auftauchen werden.

„Das grüne Haus“ schraubt in der Folge dann die Schwierigkeit ein wenig zurück und etabliert vor allem eine klare Struktur, nach der das komplexe Ganze gebaut ist. Der Roman hat vier Teile und einen Epilog. Die Teile bestehen wiederum für gewöhnlich aus vier Großkapiteln. Und jedes dieser Kapitel ist noch mal in bis zu fünf nur leicht voneinander abgesetzte Abschnitte unterteilt, die fünf auf den ersten Blick relativ unverbundene Geschichten erzählen. Im ersten Teil sind das:

– Das Aguaruna-Mädchen Bonifacia, das auf einer Missionsstation im Amazonas lebt und einigen frisch dorthin gekommenen Mädchen bei der Flucht geholfen hat und nun davon bedroht ist, aus der Station geschmissen zu werden.
– Aquilino und Fushia. Aquilino rudert den Freund aus bisher unklaren Gründen durch das System der Flüsse, und Fushia lässt sich von ihm auf penetrantes Nachfragen hin immer wieder Brocken seiner Lebensgeschichte entlocken.
– Ein Fremder, den wir bald als Don Anselmo kennenlernen, kommt auf einem Maultier nach Piura und baut dort außerhalb der Stadt in der Wüste ein grünes Haus. Es stellt sich heraus als Partyschuppen und Bordell.
– Rund um Iquitos findet Kautschuk-Schmuggel statt. Diese Geschichte scheint mehrere Hauptfiguren zu haben, unter anderem einen Don Julio, bald aber kristallisieren sich der Lotse Nieves und Lalita als zentrale Figuren heraus.
– In der Mangacheria, einem sozial eng verbundenen armen Viertel von Piura, ist endlich Lituma zurückgekehrt, der einst mit seinen Vettern eine gefürchtete Bande von Partylöwen bildete. Irgendetwas Schreckliches muss in der Vergangenheit geschehen sein, aber zuletzt war Lituma bei der Guardia Civil. In seiner Abwesenheit muss mit seiner Geliebten etwas geschehen sein, und jetzt geht die Bande, die sich „Die Unbezwingbaren“ nennt, erstmal ins Grüne Haus, um zu saufen.

Prinzipiell behält der Roman diese Struktur dann auch im gesamten Verlauf bei. Auf Wiki ist ein komplettes Schema dazu zu finden. Jeder der vier Teile beginnt wieder mit einem hermetisch-poetischen Textblock wie der erste Teil, und die fünf Geschichten werden fortgeführt. Dadurch, dass Menschen reisen und sich begegnen, fühlen sich die fünf Geschichten mit der Zeit jedoch deutlich anders an. Hinzu kommt, dass es sich bald herausstellt, dass es bei den fünf Geschichten nicht um zeitlich parallele Handlungen handelt, sondern teilweise deutlich zueinander versetzte. Die früheste, beinahe mythische, ist die Gründung des ersten grünen Hauses, und wir stellen fest, dass das grüne Haus, nach dem sich die Unbezwingbaren im fünften Handlungsstrang begeben, längst nicht mehr das Gleiche ist, aber eine Verbindung aufweist. Das wiederum hat auch zur Folge, dass Figuren teilweise in mehreren Handlungssträngen zu verschiedenen Zeiten unterwegs sind und damit teilweise auch unter unterschiedlichen Namen. Denn fast alle Perspektiven sind in einem indirekt freien Stil erzählt, der sich immer in gewisser Nähe zu den Köpfen und Gedanken einzelner Figuren aufhält und die Welt durch diese filtert. So wird etwa die Figur, die einige Strängen von den Kameraden nur als „der Sargento“ benannt und betrachtet wird, mit der Zeit als Lituma enthüllt, der gerade einige der Abenteuer besteht, von denen er im fünften Strang zurückkehrt.

Die Figur Bonifacia treffen wir etwa ab dem zweiten Teil dann als Dienerin beim Lotsen Nieves und seiner Frau Lalita, wo sie langsam mit Lituma verkuppelt werden soll und zugleich als Prostituierte im zweiten grünen Haus unter dem Namen Selvatica, wo Lituma langsam dahinter kommt, was in seiner Abwesenheit geschehen ist. Lalita wiederum ist als jüngere Frau ab dem zweiten Teil in den Erzählungen von Fushia gegenüber Aquilino anwesend, die damals aber noch Fushias Geliebte ist, von diesem aber betrogen und geschlagen wird und irgendwann mit dem Lotsen Nieves flieht. Ein Native, über den in der Missionshandlung im ersten Teil die Mädchen die Nonnen ausgefragt haben, dem zur Strafe die Haare abrasiert wurden, taucht später zuerst in der Rategui/Nieves-Handlung als Kazike Jum auf. Dann auch in der Fushia-Handlung, da Fushia mit Rategui zusammengearbeitet hat. Jum hat versucht, die Indigenen entlang der Flüsse zu organisieren, um den profitablen Kautschukhandel in die eigene Hand zu bekommen und genossenschaftlich abzuwickeln, statt zu geringen Preisen an weiße Zwischenhändler zu verkaufen, die sich damit eine goldene Nase verdienen. Das ist nur eines der unzähligen Beispiele dafür, wie dieses Handlungsgeflecht aufgebaut ist. Letztendlich könnte man sagen, dass das Grüne Haus funktioniert wie so eine Art Spiralstruktur, die Figuren durch die verschiedenen Erzählstränge zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens durchführt und damit Korrespondenzen und Kontraste herausarbeitet.

Sich über die Perspektive klar zu werden, ist ungeheuer wichtig, um zu einem tieferen Verständnis von „Das Grüne Haus“ vorzudringen. Es erklärt auch die häufig derbe Sprache, die man nicht mit der Intention des Autors und nicht mal mit einem einzelnen übergeordneten Erzähler verwechseln darf: Hier wird in einem Stil, der Gedanken, Sinneseindrücke und wörtliche Rede vermischt, aus Figuren herausgesprochen, ohne dafür in die Ich-Perspektive zu wechseln. Und so spricht und denkt ein rassistischer Provinzsoldat anders als eine distinguierte Nonne (deren Handlungsweise allerdings in deutlichem Kontrast zu dem gesitteten Bild steht, das sie projiziert), als ein Gubernador usw. Selbst noch die scheinbar auktorial präsentierten Passagen über die Gründung des Grünen Hauses in einer undefinierten Vergangenheit durch die anfangs fast mythisch wirkende Figur Don Anselmo sind nicht auktorial, sondern enthüllen sich durch den Duktus ebenso wie durch einige Einschränkungen („man sagt, dass“), letztlich als von jemandem mit der beschränkten Perspektive eines Einwohners von Piura erzählt oder vielleicht als Gedankenstrom eines kollektiven Piura.

Auch wo der Text sich auf den ersten Blick einfacher liest als in den dichten Blöcken zu Beginn der Kapitel, bleibt eine hohe Komplexität allerdings enthalten. Hier etwa, auf der Flussfahrt von Fushia und Aquilino, befinden wir uns in der ersten Ebene des Gesprächs in der Gegenwart dieses Handlungsstrangs: die Antwort, die wahrscheinlich auch Fushia gibt, gibt dann aber gar nicht mehr Fushia, sondern sie findet bereits innerhalb einer Rückblende statt, die wir uns als Erzählung von Fushia denken müssen. Dann aber spricht wieder Aquilino in die Rückblende hinein.

““Aber das hast du mir ja schon erzählt, wie wir die Insel verlassen haben, Fushía“, sagte Aquilino. „Ich möchte, daß du mir erzählst, wie du ausgebrochen bist.“
„Mit diesem Nachschlüssel“, sagte Chango. „»“Iricuo hat ihn aus dem Pritschendraht gemacht. Wir haben ihn schon ausprobiert, die Tür geht auf, ohne daß man was hört. Willst du’s sehen, Japanerchen?“
Chango war der Älteste, wegen Rauschgift im Gefängnis, und Fushía behandelte er mit Zuneigung. Iricuo dagegen machte sich immer über ihn lustig. Ein Kerl, der viele Leute betrogen hatte, mit dem Erbschaftstrick, Alter. Der Plan stammte von ihm.
„Und hat’s dann auch so geklappt, Fushía?“ sagte Aquilino.
„So klappt’s“, sagte Iricuo. „»“Versteht ihr denn nicht? An Neujahr hauen immer alle ab. Nur im Wachlokal ist einer, dem müssen wir die Schlüssel wegnehmen, bevor er sie übers Gitter wirft. Davon hängt alles ab, Jungens.“”

Exemplarisch für “Das grüne Haus” ist dieses polyphone, teilweise beinahe synkretistisch zu nennende Erzählen, dass nie das Vermitteln von Dialog-Informationen, Handlungsinformationen oder Beschreibung des Settings absolut stellt, sondern im schnellen Wechsel darauf baut, diese Erfahrungen in der Erfahrung der Lesenden zu einer Sache zu vereinigen. Dabei schafft Llosa, anders als etwa der kürzlich besprochene Maquez, fast im Minutentakt Bilder von opulenter Schönheit, sei es im Dschungel:

“Als der Anlegeplatz endlich leer war, dunkelte es bereits: Bonifacia richtete sich auf. Der Nieva war in vollem Steigen, gekräuselte und silbrige kleine Wellen liefen unter dem Strauchwerk dahin und verebbten an ihren Knien. Ihr Körper war von Erde verschmiert, Gräser hafteten in ihrem Haar und am Kleid. Der Alte verstaute die Waren, methodisch und genau verteilte er die Kisten am Bug, und über Santa María de Nieva war der Himmel eine Konstellation aus Teer und Uhuaugen, aber auf der anderen Seite des Marañón, über der düsteren Zitadelle am Horizont, widerstand noch ein blauer Streifen der Nacht, und der Mond kam hinter den Gebäuden der Mission zum Vorschein. Die Gestalt des Alten war jetzt ein schwacher Fleck, im Halbdunkel blitzte sein Haar silbrig wie ein Fisch. Bonifacia blickte zum Ort hinüber: in der Gobernación, bei Paredes war Licht, und einige Petroleumlampen flackerten an den Hügeln, in den Fenstern des Hauses, wo die Nonnen wohnten. Die Dunkel heit verschluckte in langsamen Bissen die Cabañas der Plaza”

Sei es etwa in Piura:

“Wenn der Wind von der Kordillere herunterkommt und über die Sandwüsten hinbläst, wird er heiß und hart: gerüstet mit Sand folgt er dem Lauf des Flusses, und wenn er die Stadt erreicht, sieht man zwischen Himmel und Erde etwas wie einen gleißenden Panzer. Dann entlädt er seine Eingeweide: alle Tage, das ganze Jahr über, mit Beginn der Dämmerung, fällt ein trockener Regen, fein wie Sägemehl, der erst bei Tagesanbruch nachläßt, auf die Plätze, die Ziegeldächer, die Kirchendächer, die Glockentürme, die Balkone und die Bäume, und bedeckt die Straßen Piuras mit Weiß. Die Fremden irren sich, wenn sie behaupten die Häuser der Stadt stehen kurz vor dem Einsturz: das nächtliche Knirschen rührt nicht von den Bauten her, die zwar alt sind, aber robust, sondern von den unsichtbaren, unzähligen winzigen Sandgeschossen, die gegen die Türen und Fenster prallen. Sie irren sich auch, wenn sie denken: „Piura ist eine menschenscheue, traurige Stadt.“ Die Leute flüchten sich in ihre Häuser, wenn der Abend hereinbricht, um dem erstickenden Wind und dem Angriff des Sandes zu entkommen, der der Haut weh tut wie Nadelstiche und sie rötet und verwundet, aber in den Slums von Castilla, den Hütten aus Lehm und Rohr in der Mangachería, in den Garküchen und Chicha-Schenken in der Gallinacera, in den Villen der Principales entlang dem Damm und an der Plaza de Armas, vergnügen sie sich, wie die Leute überall woanders auch, indem sie trinken, Musik hören, sich unterhalten. Der Eindruck einer verlassenen und melancholischen Stadt wird auf der Schwelle zu ihren Häusern aufgehoben, selbst in den ärmlichsten Unterkünften, die eine hinter der andern an den Flußufern entlang jenseits des Schlachthofs stehen.

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, an dieser Stelle noch einiges mehr zur Handlung zu sagen, aber da das detektivische Nachvollziehen der Verbindungen durchaus einen Reiz des Werkes ausmacht, ist das vielleicht gar nicht so sinnvoll. Als Hauptfigur im weitesten Sinne kristallisiert sich, wenn man überhaupt eine benennen will, Lituma heraus, und dessen Beziehung zu Bonifacia bzw. zur Selvatica. Vor langer Zeit muss es einen großen Konflikt gegeben haben, mit einem Eklat, der dann das Leben Litumas in neue Bahnen lenkte. Zweiter Schwerpunkt der Handlung sind zahlreiche Geschehnisse, die mit den genossenschaftlichen Versuchen und dem seitdem anhaltenden Protest des Kaziken Jum zusammenhängen.

Es fasziniert, wie plastisch im Verlauf des Ganzen die Figuren werden, wenn man bedenkt, wie wenig Raum auf dem Papier das relativ große Ensemble etwa im Vergleich mit einem traditionellen Roman mit kleinem Hauptensemble wie „Der Zauberberg“ haben. Die Figuren hier werden natürlich auf ganz andere Weise plastisch als in einem solch klassischen Roman, nämlich im weit ausgreifenden Kontext mit anderen Figuren und ihrem Umfeld sowie durch die produktive Opposition mit sich selbst, in die sie durch die parallel geführten Zeitlinien gesetzt werden. Natürlich gelingt das Lebendigmachen auch durch die hohe sprachliche Dichte, das Filtern der Perspektive durch das wechselnde Bewusstsein verschiedener Figuren und die damit oft einhergehende, oft auch derbe, Mündlichkeit. Vorsicht: Keine Figur eignet sich als Held oder Identifikationsfigur, eigentlich sind fast alle Figuren nüchtern betrachtet relativ schrecklich. Der Lotse Nieves, der Lalita vor Fushia „rettet“, mag sicherlich die bessere Wahl sein, ein Macho ist er dennoch, wenn auch ein milder; und herablassend gegenüber indigenen Menschen. Überhaupt sind alle weißen Figuren des Romans bis zu einem gewissen Grad rassistisch gegenüber den Indigenen eingestellt, selbst diejenigen, die enge Beziehungen pflegen. Fast alle Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind von psychischer oder körperlicher Gewalt geprägt. Und der so harmlos wirkende Bordellbesitzer Don Anselmo, den die Mangaches (die Einwohner der Mangacheria) verehren, hat ein besonders finsteres Geheimnis. Überhaupt steht ein Ideal von Mannhaftigkeit, steht verletzte Männlichkeit hinter vielen der Verhängnisse, die sich im Laufe des Romans entfalten. Wenn es Figuren gibt, die zumindest nicht aktiv anderen Menschen schaden, dann sind es die drei zentralen Frauen im Text, Lalita, Bonifacia und die Chunga, die Besitzerin des zweiten Grünen Hauses, deren geheimnisvolle Herkunft ihr beim Lesen gern selbst ergründen dürft. Diese drei zeigen auch am ehesten noch eine bedingt positive Perspektive auf, die aus dem Verhängnis von Machismo und gekränktem Machtanspruch herausweisen könnte, ob im Stoizismus der Chunga, die ja letztlich doch Empathie kennt, oder in der Rolle, die Bonifacia sich schließlich positiv deutet. Vielleicht gibt es auch Hoffnung für die folgende Generation, wir wissen zu wenig über die Beziehung von Aquilino (der junge, benannt nach dem alten), dem Sohn von Lalita, um das endgültig sagen zu können, doch zumindest die Möglichkeit wird angedeutet. Menschlichkeit lässt der Roman aber auch immer wieder in seinen zeitweise sehr schlecht handelnden Figuren aufscheinen. Fushia und Aquilino etwa scheinen durch eine echte tiefe Freundschaft verbunden, die sich über Jahrzehnte bewährt hat, und gegen Ende springt eine Figur über ihren Schatten, die sich zuvor aus durchaus gerechtem Zorn lange gegen eine andere Figur abgeschirmt hat. Hochgradig ambivalent bleibt das Verhältnis des Textes zum Fortschritt. Zum Schluss wird deutlich: Technisierung und gesellschaftliche Veränderung werden höchstwahrscheinlich viel von dem, was im Roman vorgestellt wurde, unter anderem auch die Mangacheria, irgendwann überwältigen. Nicht weiter schlimm, könnte man denken, immerhin ist das objektiv betrachtet nicht gerade ein schöner Ort, aber der Lokalpatriotismus seiner Bewohner ist echt, hier hat man nicht viel anderes als dieses in der Armut zusammenstehende „Wir“, aus dem so viele repressive Strukturen erwachsen, aber auch ein Lebensgefühl, auf das die Bewohner stolz sind, und der Fortschritt hat, das hat Llosa in seinen späteren Texten auch immer wieder gezeigt, nun mal die Eigenschaft, gerade über die Schwächsten erbarmungslos fortzuschreiten. Der Roman lässt es also durchaus zweifelhaft erscheinen, dass etwas Besseres folgt, und wer „Gespräch in der Kathedrale“, den großen folgenden Roman über die Odriadiktatur, kennt, wird mitzweifeln. Die Vorurteile und vielfältigen Ausschlüsse bleiben, doch die Diktatur nimmt dazu noch die Freiheit, die Luft zum Atmen.

Auch wenn in kaum einem Roman so viele unsympathische Figuren auftreten dürften wie in „Das grüne Haus“, insbesondere bezüglich ihrer Vorurteile gegenüber der indigenen Bevölkerung, ragt „Das grüne Haus“ aus der Literatur des lateinamerikanischen Boom besonders dadurch hervor, dass die indigene Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt und ein genauer Blick gelenkt wird auf Methoden der Ausbeutung, auf Willkürherrschaft und auch die Fraglichkeit selbst positiv gemeinter Projekte wie in diesem Fall der Missionsstation. Denn diese raubt ja nicht nur junge Frauen, um sie zu Christinnen zu erziehen, sondern ist auch letztlich sehr bereit, wenn die Erziehung nicht perfekt verläuft, diese Frauen dann in Haushalte abzugeben, von denen sie weiß, dass sie dort zwar offiziell als Dienstmädchen, oft genug aber als Konkubinen beschäftigt werden. Ein interessanter Aspekt: „Das grüne Haus“ spielt, wie man anhand von ganz wenigen Dingen erkennen kann, etwa von den 1920er Jahren bis in die 1960er, und lässt sich daher mit „Gespräch in der Kathedrale“ zu einem großen zeitlichen Komplex zusammenfügen, der dann sowohl das Amazonasbecken als auch die Provinz und die Hauptstadt abdeckt. Gefühlt scheinen allerdings Jahrhunderte zwischen den Texten zu liegen, gerade das Geschehen in der Selva hat viel von einer Wildwest-Dystopie im Dschungel. Moderne Technik kommt kaum vor, höchstens mal ein Holzboot mit Motor. Die modernste Idee ist die der Genossenschaft, die natürlich niedergeschlagen wird. Aber selbst in der großen Provinzstadt Piura werden Dinge wie Telefone nicht erwähnt, Autos erst ganz zum Schluss und von der großen Welt wirkt dieses provinzielle Peru ähnlich abgekapselt wie Marquez‘ Macondo aus „100 Jahre Einsamkeit“.

Manche Lesende dürften sich schließlich die Frage stellen: Warum das Aufbrechen der Zeiten? Warum nicht einfach chronologisch erzählen, warum diese parallelen Erzählstränge und so weiter und so fort? Die einfache und ästhetische Antwort darauf: Weil es funktioniert, weil so ein großes, vielschichtiges, in keinem seiner Momente langweiliges Werk entsteht. Es kommt ja auch keiner auf die Idee, der Apassionata vorzurechnen, man könnte all diese Töne aber auch schön geordnet hintereinander abspielen, von den tiefsten zu den höchsten. Oder der Jupiter-Symphonie, sie würde doch deutlich übersichtlicher klingen, würden die verdammten Instrumente nicht ständig gleichzeitig spielen. Hat jemals jemand von Kandinsky verlangt, das mit dem Farbchaos zu unterlassen, wo man die Farben doch auch leicht von hell nach dunkel sortiert auf der Leinwand aufbringen könnte?

Einige der literarischen Effekte sind weiter oben schon angeklungen. Die Figuren und Handlungen werden auf diese Weise eben nicht wie in einer klassischen bürgerlichen Erzählung von Anfang bis Ende aufgezählt, mit Figuren, die oft seltsam isoliert in einer Welt zu stehen scheinen, die sie nur hier und da momentan vielleicht einmal ein wenig betrifft, sondern sie treten uns in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vor Augen, so dass gerade die Verbindungen durch Zeit und Raum herausgestellt werden und wir zum Vergleichen und zum Nachvollziehen der kleinen Details, der Veränderungen und des Gleichen aus unterschiedlicher Perspektive gezwungen werden.

Das führt zugleich dann auch zu einem Reiz, der dem klassischen Detektivroman nicht unähnlich ist, nur dass man sich als Detektiv der sozialen Verhältnisse bemüßigt fühlt. Wir spüren den Figuren nach, setzen uns akribisch und aktiv das Bild zusammen, das letztendlich die Verhältnisse des Romans ausmacht, und haben statt zum Schluss einen „Aha, das war also der Mörder“-Moment, unzählige Momente, in denen uns selbst ein Licht aufgeht und wir tieferes Verständnis über die Handlung gewinnen. Nicht zuletzt führt uns der Roman durch seine Komposition auch deutlich aktiver vor Augen, wie sehr sich Menschen verändern können, inwieweit sie oft doch in den Grundzügen gleich bleiben, und welche krassen Unterschiede das Verhalten je nach Milieu plötzlich aufweisen kann. Ich habe in der Vergangenheit Kritiken gelesen, die „Das grüne Haus“ etwa vorwerfen, dass der Sargento aus dem Urwald doch kaum die gleiche Figur wäre wie Lituma in Piura. Es ist schon eine große Kunst, ausgerechnet das nicht zu verstehen: Natürlich ist das so. In der Selva ist Lituma vor allem eine Autoritätsperson, zugleich aber in das Machtgeflecht der Guardia eingebunden, mit realen oder eingebildeten Bedrohungen konfrontiert und dabei als Mensch relativ isoliert, ist unter Kameraden, aber kaum unter Freunden. Er ist in dem rohen Umfeld als Städter zudem sogar eine vergleichsweise sensible Figur. In Piura dagegen ist er als junger Mann ebenso wie zehn Jahre später Teil seiner Säufer-Macho-Truppe, ein „Unbezwingbarer“. Gerade seine Erlebnisse in der Selva machen ihn dann noch unerbittlicher als die Kameraden.

Nun denn, genug geschrieben. „Das grüne Haus“ ist einer der wenigen echt polyphonen Romane, die formal ohne größere Schwächen sind, und es ist ein Text, den man vor allem lesen muss. Llosa hat das Kompositionsprinzip dann mit „Gespräch in der Kathedrale“ im Großstadtsetting von Lima unter der Odria-Diktatur noch einmal verschärft, und danach sein Projekt des totalen Romans aufgegeben. Wie ich bereits in meinen früheren Rezensionen zu späteren Texten sagte: nicht aus Gründen des Scheiterns, sondern aus Gründen des Erfolgs. Es war sicher richtig, das Ganze nicht zum Schema erstarren zu lassen. „Das grüne Haus“ ist von beiden der etwas zugänglichere Text, und der, den ich etwas öfter gelesen haben dürfte. „Gespräch in der Kathedrale“ ist der noch etwas beeindruckendere.

Bild: Pixabay.

Vor allem zu Studienzwecken interessant. „Cranford“ von Elisabeth Gaskell.

Nachdem ich “Wives and Daughters” und “Mary Barton” längere Artikel gewidmet habe, kann ich mich mit „Cranford“ von Elisabeth Gaskell relativ kurz fassen. Es handelt sich, obwohl er in meiner Sammlung der Romane enthalten ist, nicht um einen Roman, und der Text ist überhaupt im Grenzbereich des Literarischen angesiedelt. Die Sammlung enthält mehrere Erzählungen aus der gleichnamigen ländlichen Kleinstadt Cranford, womit Gaskell wohl das ihr bekannte Landleben ihrer Jugend dem zeitgenössischen Stadtleben gegenüberstellen wollte. „Erzählungen“ ist allerdings auch noch viel gesagt. Die jeweiligen Texte, die sich oft über ein, mal auch über zwei bis drei Kapitel ziehen, weisen kaum literarische Gestaltung auf. Einmal zieht ein Kapitän in die Kleinstadt, mischt als Auswärtiger das Leben dort auf, bringt unter anderem seine Begeisterung für Charles Dickens mit und stirbt schließlich an dieser. Ein anderes Mal hat eine junge Frau darunter zu leiden, dass es ihr verboten ist, mit Männern zu verkehren. Einmal verliert eine Kuh durch einen Unfall alle Haare und bekommt ein Gewand gestrickt. Einmal liest die Protagonistin Briefe und erfährt von dem traurigen Schicksal eines jungen Mannes, der sich mit der Familie zerstreitet und deshalb in den Krieg zieht. Präsentiert wird das jeweils in Form von Anekdoten, die oft mit zahlreichen Alltagsgesprächen von wiederkehrenden Figuren durchsetzt sind. Diese Texte, wie man es wohl heute machen würde, literarisch spannend aufzubauen, wird überhaupt nicht versucht. So erklärt Wiki dann auch:

“Many of the personal details and stories, including that of the cow dressed in flannel, are based on remembered fact that had taken place years before. Acknowledging this in a letter to John Ruskin, Mrs Gaskell commented that she had included less than she knew for fear of being thought to exaggerate.”

Das Hauptziel des Bandes scheint zu sein, das kleinstädtische Leben im Unterschied zum großstädtischen zu präsentieren und das Vergangene im Gegensatz zum Jetzigen. Der Text ist damit heute vor allem noch für Menschen interessant, die entweder verschiedene Darstellungen des kleinstädtischen Lebens in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts studieren oder das Gesamtwerk Elisabeth Gaskells. Denn aus der Art und Weise, wie Armut und Reichtum in diesem kleinstädtischen Kontext erscheinen, wie man zusammenlebt, welche Regeln gelten und so weiter und so fort, lässt sich einiges lernen für die Perspektiven, die Gaskell dann in ihren Romanen entwickelt. Besonders lässt sich, wenn man einmal davon ausgeht, dass sie sich nicht ihre Vergangenheit nostalgisch zurechtbiegt, gut verstehen, warum konservative Christen wie diese Autorin vor dem Elend der städtischen Armen der Industrialisierung nicht einfach schulterzuckend sagen konnten: „Okay, das ist halt Gottes Wille“, sondern diese abgerissene, oft mit Kriminalität und Krankheit verbundene Armut eben tatsächlich als „monströs“ erfuhren und nicht einfach so „konstruierten“ (zu diesem Thema vgl. meine Mary Barton-Besprechung). Der Bruch, der damals stattgefunden haben muss, ist für uns, die wir meist in relativem Wohlstand leben, aber die krassesten Bilder von Armut ständig online und im Fernsehen vor Augen geführt bekommen, wahrscheinlich kaum denkbar. Wer sich aber nicht tiefer mit einem der beiden oben genannten Themen beschäftigt, dürfte heute wenig Grund finden, „Cranford“ zu lesen.

Bild: Wikiart, gemeinfrei.

Eine bildlich-poetische Reise (nicht ohne Klischees). „Winter in Vorderasien“ von Annemarie Schwarzenbach.

„Winter in Vorderasien“ von Annemarie Schwarzenbach wurde mir ganz zufällig als kostenloses Kindle-Buch auf Amazon vorgeschlagen. Der Titel klang interessant, und zur Autorin habe ich kurz einmal auf Wikipedia nachgeschaut – eine mir unbekannte, aber nicht uninteressant klingende Schweizer Schriftstellerin. Bei dem etwa 100-seitigen Text handelt es sich „nur“ um einen Reisebericht, der mit einigen typischen, der Zeit entsprechenden orientalistischen Klischees angereichert ist. Aber diese Schönheit der Sprache, die Bildlichkeit, der rhythmische Fluss, der ohne Schwierigkeiten durch ein Werk fast ohne Handlung trägt – das findet man nicht oft:

“Gegen Abend waren wir wieder auf dem grossen, grasbewachsenen Platz der Suleymaniye. Der Himmel, an dieser Stelle wie ein Baldachin über dem gobelingestickten Gemälde vom Goldenen Horn, über langen Brücken, angehäuften Barken, dem Galataturm und der ansteigenden Stadt Pera, den grünen Gärten des Serails, den blauen, bewegten Flächen des Bosporus, den reichen Ufern und Inseln und den gelben Küstenzügen, die schon Anatolien, Steppe, Asien aus der Ferne beschwören . . . Ein Gebetsrufer sang von einem der weissen, leuchtenden Minarette. Seine Stimme hallte klagend, schwebte langsam von der Höhe herab, verklang, als er sich auf die andere Seite des Turmes wandte. Drüben, über Galata und Beyoglu, stieg ein leichter Nebel auf und verhüllte die Häusermassen. Auf unserer Seite war die Luft durchsichtig, leicht bewegt und kühl. Wir sahen auf die runden Bleikuppeln der alten Volksküchen des Kalifen hinunter, in die enge Strasse, wo die Schmiede in den Mauerarkaden ihre dürftigen Werkstätten eingerichtet hatten. Ihr Hämmern tönte dumpf, daneben Klappern von Eselhufen und Holzsandalen und langgezogene Abendrufe der Strassenhändler. Ein Mann ging langsam über den Platz, eine Katze auf dem Nacken. Als er sich an einem der Brunnen die Füsse wusch, miaute sie ängstlich, sprang herab und strich durch das niedere Gras davon.”

Landschaften, belebte Straßen sowie Marktszenen sind zentral für das Buch, ehe es sich später archäologischen Städten, dazugehörigen Ausgrabungen sowie Theorien widmet. Hier und da schlägt europäische Geschichte durch, etwa, wenn wir von einem spanischen Juden erfahren, der versucht, auf das Gebiet des heutigen Israels zu fliehen, was ihm aber nicht gestattet wird. Dass es sich wirklich nur um einen Reisebericht handelt, erkennt man an solchen Situationen. Die Erzählerin begegnet der Figur in der Türkei, die will versuchen, sich irgendwie durch den Iran zu schlagen, und obwohl spätere Kapitel vor allem an verschiedenen Örtlichkeiten im Iran spielen, begegnen wir der Figur nie wieder. In einem fiktional gemeinten und entsprechend konstruierten Text wäre das höchstwahrscheinlich anders gewesen.

„Winter in Vorderasien“ ist sicher keine zwingende Lektürempfehlung, so herausragend der Band oft sprachlich-bildlich auch gestaltet ist. Aber es ist doch ein Text, der nahelegt, dass man das literarische Werk von Schwarzenbach sich einmal genauer anschauen sollte. Wenn diese sprachliche Gestaltung mit erzählerischer Geschlossenheit zusammenfindet, könnten sich dort richtig starke Texte finden lassen. Das Werk von Schwarzenbach liegt, soweit ich es überblicken kann, gemeinfrei und online vor.

Bild: Wikiart.