Elisabeth Gaskells „Mary Barton“ und Selbstkritik einer alten Hausarbeit.

“Mary Barton” ist der erste Roman von Elisabeth Gaskell. Der Text hatte mich, als ich ihn vor langer Zeit für eine Hausarbeit an der Uni gelesen habe, nicht sonderlich überzeugt. Ich wollte ihn mir aber, nachdem „Wives and Daughters“ relativ stark war, doch noch einmal anschauen und überhaupt das Gesamtwerk von Gaskell, insbesondere die späteren Arbeiterromane, um festzustellen, ob die vielleicht dann schon einige Stärken des Spätwerks zeigen. „Mary Barton“ überzeugt mich weiterhin nicht wirklich, obwohl schon gerade die erste Hälfte einige Stärken hat und es einer der ersten Romane sein dürfte, der sich zumindest Mühe gibt, ernsthaft Menschen aus der Arbeiterklasse zu Protagonisten zu machen. Im Gegensatz zu meiner Hausarbeit, die dem Text vor allem falsche Ideologie vorwarf (und es beeindruckt mich, dass so etwas an der Uni ohne weiteres durchgehen konnte), kann ich heute aber immerhin den Finger auf ästhetische Gründe legen, warum der Text in der zweiten Hälfte so sehr an Zugkraft verliert.

„Mary Barton“ erzählt die Geschichte von John und Mary Barton, Vater und Tochter, beide Arbeiter in Manchester, der Vater unter anderem in verschiedenen Tuchfabriken, die Tochter als Näherin. Die Mutter und Ehefrau, ebenfalls Mary, ist früh verstorben, sodass „Mary Barton“ interessanterweise schon die zweite Geschichte ist, die Gaskell über einen alleinerziehenden Vater erzählt. Es ist allerdings eine deutlich düsterere Geschichte. In Manchester haben es die Arbeiter zur Zeit besonders schwer, es herrscht eine Rezession, John Barton wird arbeitslos. Sein nach dem Tod der Frau noch junger Sohn stirbt ebenfalls. Barton schließt sich einer Gewerkschaft an, ist enttäuscht vom Misserfolg der Streiks, für die er nach London ging, ist dann Führer eines Streiks in Manchester und ermordet einen jungen Fabrikbesitzer-Sohn, nachdem er eine herabwürdigende Karikatur gefunden hat, die dieser über Arbeiter angefertigt hat. Parallel steht Mary zwischen zwei Verehrern, eben jenem Fabrikbesitzer-Sohn und einem Arbeiter. Naheliegenderweise wird der Arbeiter für den Mord verhaftet, da John Barton mittlerweile in gewerkschaftlichen Geschäften die Stadt verlassen hat. Mary allerdings findet früh einen Hinweis, dass John vor seiner Abreise den Mord verübt hat und versucht den Arbeiter, den sie mittlerweile auch liebt, zu retten.

Das klingt eigentlich alles relativ mitreißend, doch der Roman verliert seine Zugkraft ausgerechnet, als etwa ab der Mitte des Textes diese Spannungshandlung einsetzt. Seine Stärken hat er in den detaillierten Bildern des Zusammenlebens in der Familie und der gelebten Solidarität unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, wenn man sich mit Geld und Medikamenten aushilft, auf Kinder aufpasst, am Bett von Sterbenden in der Nachbarschaft verweilt oder einfach Freundschaften pflegt. Die schlechten Unterkünfte und die finsteren nächtlichen Straßen vor allem werden dabei auch bildlich stark vor Augen gestellt.

“…and so they went along till they arrived in Berry Street. It was unpaved: and down the middle a gutter forced its way, every now and then forming pools in the holes with which the street abounded. Never was the old Edinburgh cry of Gardez l’eau! more necessary than in this street. As they passed, women from their doors tossed household slops of EVERY description into the gutter; they ran into the next pool, which overflowed and stagnated. Heaps of ashes were the stepping-stones, on which the passer-by, who cared in the least for cleanliness, took care not to put his foot.”

„It is a pretty sight to walk through a street with lighted shops; the gas is so brilliant, the display of goods so much more vividly shown than by day, and of all shops a druggist’s looks the most like the tales of our childhood, from Aladdin’s garden of enchanted fruits to the charming Rosamond with her purple jar. No such associations had Barton; yet he felt the contrast between the well-filled, well-lighted shops and the dim gloomy cellar, and it made him moody that such contrasts should exist.“

Die Krimihandlung dagegen entwickelt wenig Zug, was auch einfach daran liegen mag, dass es bis jetzt wenig Vorbilder für Kriminalliteratur gab, und es Gaskell nicht gelingt, die Art von Spannung aufzubauen, die wir heute von solchen Texten zu erwarten gewohnt sind. Wir kennen den Mörder früh, wir wissen, wie der Mord geschehen ist, und statt dass wir uns langsam zu dieser Erkenntnis vorarbeiten, besteht die zweite Hälfte des Textes vor allem daraus, dass wir abwarten, dass John endlich aus der Versenkung auftaucht oder Mary ein Alibi für Jem, den Arbeiter, findet. Das könnte man immer noch spannend gestalten, aber hier hat es vor allem den Effekt, dass die Krimihandlung all das, was der Text zuvor an organischer Spannung hatte, stillstellt. Das alltägliche Leid der Arbeiter, der Konflikt mit den Bossen, aber auch der Konflikt der Arbeiterschaft untereinander, wie man eigentlich vorgehen soll und wie man Arbeitskampf und alltägliches Überleben austariert – all diese doch sehr interessanten Themen werden nun von einem relativ generischen Krimidrama an den Rand gedrängt, und entsprechend leidet auch die zuvor gelungenere atmosphärische Gestaltung. Gelungener, nicht durchweg gelungen, weil der Text auch in der ersten Hälfte schon mit einigen an christlicher Predigt aufwartet, die Sprache hier und da etwas schwerfällig ist und mir insbesondere die Local Color, die Dialektzeichnung, etwas unausgegoren vorkommt. Figuren sprechen manchmal in verkürzter Weise, die wohl an einen Manchester-Akzent gemahnen soll, manchmal aber auch in einer elaborierten Weise, die man sich für wenig gebildete Arbeiter kaum vorstellen mag. Nun ist mir das Phänomen des Code-Switchings bekannt, und Gaskell gibt sich auch Mühe, auf die Tatsache hinzuweisen, dass nicht alle Arbeiter ungebildet sind, etwa berichtet die Erzählerin:

“There is a class of men in Manchester, unknown even to many of the inhabitants, and whose existence will probably be doubted by many, who yet may claim kindred with all the noble names that science recognises. I said in “Manchester,” but they are scattered all over the manufacturing districts of Lancashire. In the neighbourhood of Oldham there are weavers, common hand-loom weavers, who throw the shuttle with unceasing sound, though Newton’s “Principia” lies open on the loom, to be snatched at in work hours, but revelled over in meal times, or at night. Mathematical problems are received with interest, and studied with absorbing attention by many a broad-spoken, common-looking factory-hand. It is perhaps less astonishing that the more popularly interesting branches of natural history have their warm and devoted followers among this class. There are botanists among them, equally familiar with either the Linnaean or the Natural system, who know the name and habitat of every plant within a day’s walk from their dwellings; who steal the holiday of a day or two when any particular plant should be in flower, and tying up their simple food in their pocket-handkerchiefs, set off with single purpose to fetch home the humble-looking weed. There are entomologists,”

Aber es gibt Passagen, da sprechen die gleichen Personen miteinander, oder auch nur eine Person, und der Wechsel zwischen Auslassungen und Standardenglisch erfolgt zumindest für mich recht erratisch:

““I did think on’t; but you had na come home then. No! I put on my merino, as was turned last winter, and my white shawl, and did my hair pretty tidy; it did well enough. Well, but as I was saying, I went at seven. I couldn’t see to read my music, but I took th’ paper in wi’ me, to ha’ something to do wi’ my fingers. Th’ folks’ heads danced, as I stood as right afore ’em all as if I’d been going to play at ball wi’ ’em. You may guess I felt squeamish, but mine weren’t the first song, and th’ music sounded like a friend’s voice telling me to take courage. So, to make a long story short, when it were all o’er th’ lecturer thanked me, and th’ managers said as how there never was a new singer so applauded (for they’d clapped and stamped after I’d done, till I began to wonder how many pair o’ shoes they’d get through a week at that rate, let alone their hands). So I’m to sing again o’ Thursday; and I got a sovereign last night, and am to have half-a-sovereign every night th’ lecturer is at th’ Mechanics’.””

Trotzdem hätte ein Roman, der näher am Arbeitskampf bleibt, ohne das Thema in die melodramatische Handlung der zweiten Hälfte zu überführen, sehr stark sein können.

Mein damaliges Problem mit „Mary Barton“ war freilich, dass der Roman die Arbeiter zu schlecht darstelle, und zum Glück erlaubt der heutige Universitätsbetrieb solch eine ästhetischen Gebilde überhaupt nicht gerecht werdende These mit allerlei hübschen Zitaten und Sprachspielen als einen in wissenschaftlichen Text mit einigem Erfolg (glaube die Note war 1,7) vorzulegen. Ich will nicht sagen, dass alles an dieser Arbeit falsch war. Es stimmt, dass „Mary Barton“ eine eindeutige Tendenz hat. Elisabeth Gaskell ist die Ehefrau eines engagierten Priesters und war selbst sehr engagiert, sich karitativ für das noch relativ junge Industrieproletariat einzusetzen. Ihre Weltanschauung dabei war allerdings eine der Aussöhnung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum; die gegensätzlichen Interessen hielt sie für überbrückbar, und Gewerkschaften hielt sie dabei für prinzipiell eher störend, wenn auch deren Engagement für verständlich. Und genau das drückt auch „Mary Barton“ mehrfach aus, wobei die Gewerkschaften teilweise sehr negativ gezeichnet werden. Das Zauberwort allerdings ist „teilweise“. John Barton wird durch sein gewerkschaftliches Engagement eindeutig zum schlechteren Menschen, oder andersherum betrachtet: Er gerät in eine Abwärtsspirale nach seinen Rückschlägen und kompensiert das durch gewerkschaftliches Engagement und wird schließlich zum Mörder. Die Hausarbeit versucht zu zeigen, wie Gaskell aus ihrer Mittelklassenperspektive praktisch notwendig die Arbeiterschaft als monströs zeichnen muss und gar nicht die Möglichkeit hat, sich genuin in deren Schicksal einzufühlen. Dabei geht die Arbeit sehr selektiv vor und benutzt auch den heute noch oft zu lesenden akademischen Trick des „catch 22“, wobei auch positive Dinge, die der Text über Arbeiter sagt, am Ende dazu da sind, die Arbeiterschaft negativ darzustellen, und negative Dinge, die der Roman über die Bosse sagt, dazu, am Ende deren Partei zu ergreifen. Besonders eklatant: In der Karrikatur, die Jem anfertigt, und die zum Mord führt, wäre praktisch das Verhältnis des Romans zu den Arbeitern vorausgedeutet:

„She stresses further that “the drawing [is] a text that consolidates the masters through the medium of a shared joke” (ibid). It is along the lines of this text, that Gaskell through the act of writing has to close the ranks with the employers: Even though “we are meant to take Carson’s caricature as another sign of his callous insensitivity” (Baldick 89), it is of “ironic significance” (ibid.) how “it comes instead to set the tone of Gaskell’s subsequent treatment of her workers” (ibid), as Baldick points out. “Gaskell herself degenerates into literary caricature” (ibid.), he concludes.“

Ja, was für ein großer Unsinn. An dieser wie an vielen weiteren Stellen werden ja, wenn überhaupt, die Bosse als Monstren dargestellt, die ihr Gegenüber nicht als Menschen sehen können, während die Arbeiter die Bosse als Gegner sehen, aber durchaus als Menschen. Wenn jetzt Gaskell tatsächlich den Blickwinkel dieser Karikatur vollkommen übernehmen würde, von mir aus, dann könnte man das als Vorausdeutung sehen. Aber was für ein Quatsch wäre eine solche Übernahme, wo die Handlung doch als äußerst negativ dargestellt wird? Natürlich ist das nicht so, Gaskells Arbeiter sind fern von aller Karikatur.
Es gibt im ganzen Roman eigentlich nur einen Arbeiter, der einige Handlungen verübt, die als wirklich unmoralisch dargestellt werden, und das ist John Barton, der opiumsüchtig und zum Mörder wird. Mein Trick war nun, praktisch alle anderen positiver dargestellten Arbeiter quasi als Folie zu denunzieren, vor der John Barton extra negativ erscheinen kann, weshalb die Arbeit die gesamte Arbeiterklasse als monströs zeige. Und es geht noch weiter: Durch die auch physisch kaputte Darstellung mancher Arbeiter und insbesondere John Bartons sowie dessen Verbindung zu Frankensteins Monster, die spät im Text gezogen wird, werde die gesamte Arbeiterklasse eigentlich überhaupt erst als Monster geschrieben (ja: ge-, nicht be-). Das ist so ein universitäres Ding in meiner Zeit gewesen, und wahrscheinlich ist das heute noch viel schlimmer: die Vorstellung, dass Texte etwas überhaupt erst kreieren, dass also der durchschnittliche Passant ohne die Art und Weise, wie die Bourgeoisie die Arbeiterklasse schreibt, überhaupt keine Unterschiede gespürt hätte, während er durch ein Villenviertel oder durch das heruntergekommenste Arbeiterviertel von Manchester geht. Und das Schlimmste ist, dass ich für die unredliche Vereindeutigung und die negativstmögliche Lesart eines in seiner Zeit doch relativ einzigartig arbeiterfreundlichen und fortschrittlichen Romans relativ viel Sekundärliteratur gefunden habe. Natürlich wäre bei gründlicherer Arbeit wieder nicht alles falsch gewesen. Gaskell ist ganz klar eine Autorin des christlichen Ausgleichs, und ja, Barton ist sicherlich eine Figur, die bestimmte Fehler vor Augen führen soll, die ein Teil der Arbeiterschaft macht. Allerdings kennt „Mary Barton“ eben auch nicht nur gute christliche Arbeiter, die alles schlucken, was die Bosse verlangen, und John. Es kennt bessere Gewerkschafter ebenso wie schlechtere, es kennt Sympathisanten und Gewerkschaftsgegner. Es kennt Gewerkschafter, die Streikbrecher fast zu Tode schlagen und solche, die das nicht so gut finden. Sie kennt Arbeiter, die sich tierisch über das Verbot von Kinderarbeit aufregen, was tatsächlich eine reale Haltung war, aus der Not geboren, dass Familien Schwierigkeiten hatten, sich ohne Kinderarbeit zu ernähren, und so weiter und so fort. Natürlich ist Gaskell keine kommunistische Autorin, und der Roman hat eine idealistische Tendenz, die man aus politischer Perspektive lächerlich finden kann. Aber ist das, wie meine Hausarbeit argumentierte, wiederum ein allgemeines Mittelklassenproblem, ein Blickwinkel, aus dem die Mittelklasse gar nicht herauskommen kann? Zola, auch ein Mittelklasse-Autor, wahrscheinlich eher Mittelklasse als die bescheidene Pfarrersfrau Elisabeth Gaskell, schrieb nicht viel später „Germinal“, ein Buch, das ganz andere Perspektiven stark machte. Und selbst Engels, der in etwa parallel zu Gaskell über die englische Arbeiterklasse schrieb, war ja recht eigentlich vom Klassenstandpunkt betrachtet ein Bourgeois. Dass man von der Besonderheit des christlichen Standpunktes aus betrachtet, der nicht nur der Standpunkt Gaskells ist, sondern der im Roman deutlich genug wird, einige Passagen des Textes deutlich anders verstehen muss, übergeht meine Hausarbeit auch, was nicht verwundern darf, denn die wenigsten Menschen setzen sich heute noch ernsthaft mit christlichem Denken auseinander, und an der Uni war niemand, der mich da korrigieren wollte, wie es unbedingt hätte passieren müssen.

Denn auch die Bourgeoisie erscheint vor diesem Hintergrund als deutlich monströser, als wir das heute sehen würden: Sie heucheln, geben sich als Christen aus, aber behandeln die Arbeiter schlecht und entmenschlichen sie. Na und, denken wir Heutigen vielleicht, alle heucheln, und das Christentum ist doch pure Heuchelei. Aber weder für die Autorin noch für die Erzählerin von Mary Barton ist es das eben. Dass die Bosse niemals versuchen, sich mit den Arbeitern zu verständigen, ihnen die Hintergründe ihrer Entscheidungen zu erklären, sie als Menschen zu nehmen, markiert die Erzählung mehrfach als eindeutig dumm und Teil des Verhängniszusammenhangs, der sich entfaltet. Nicht einmal als böse markieren muss die Erzählung die Tatsache, dass das ursprüngliche Ziel des Arbeitersohns war, Mary zu verführen und natürlich nicht zu heiraten, was sie zu einer gefallenen Frau gemacht hätte. Schaut man also nicht mit dem modernen Blick auf den Text, sondern mit dem zeitgenössischen christlichen Blick, kommen die Unternehmer deutlich schlechter weg, die Arbeiter deutlich besser. Und dann ist da noch die unglaubliche Nachlässigkeit, zu übersehen, dass Elisabeth Gaskell sicherlich auch wusste, dass Frankensteins Monster einen Schöpfer hatte: Dr. Frankenstein. Und dass der in seiner Hybris und seiner Nachlässigkeit gegenüber der Schöpfung im Großen und Ganzen deutlich monströser erscheint, als das doch relativ menschliche und Mitleid erregende Monster. Wenn John Barton und durch ihn zumindest bestimmte Teile der Arbeiterklasse im Roman also schließlich als monströs erscheinen, dann schwingt auch immer die Aussage mit: Dieses Geschöpf hat einen Schöpfer, und wer sollte das sein als die Umstände und die, die in diesen Umständen Macht haben? Wenn die Arbeiterklasse also Frankensteins Monster ist, dann wäre er der Kapitalismus als Ganzes oder, da Gaskells christliche Perspektive nicht ohne individuelle Verantwortung auskommt, die Bourgeoisie, Dr. Frankenstein, der die größere Schuld auf sich lädt.

Interessant finde ich, dass meine Hausarbeit durchaus Sekundärliteratur zitiert, die darauf abzielt, dass das Monster im Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung hat, die über Ungeheuer hinausgeht, dass darin noch die lateinische Bedeutung von „monstrare“ im Sinne von etwas aufzeigen aufbewahrt sei. Interessanterweise geht meine Arbeit und ich fürchte auch die entsprechende Sekundärliteratur nicht ernsthaft mit dieser Tatsache ins Gericht und stellt darauf ab, dass das Konstrukt der Monstrosität eben die Arbeiterklasse als monströs zeige, statt die Frage zu stellen, ob das überhaupt Sinn ergibt. Wenn Monstrosität tatsächlich im Bewusstsein derer, die den Begriff benutzen, noch eine deutlich andere Bedeutung hat als Ungeheuer, wenn das Monster eine Erscheinung ist, die etwas zeigt, dann wird es kaum sich selbst zeigen, denn eine Erscheinung, die sich selbst zeigt, zeigt gerade nicht, sondern erscheint. Aber was könnte das Monster zeigen? Ich denke, wir wären hier auch ohne Frankenstein dann schon sehr eng bei der Frankenstein-Metapher. Das Monster würde also zeigen, dass es ein größeres Problem gibt. Die Arbeiterklasse würde so eben nicht als Ungeheuer, als Feind der ansonsten guten Ordnung dargestellt, sondern als ein Anzeichen dafür, dass insgesamt etwas im Argen liegt. Und das ist eine aus der Zeit heraus durchaus nachvollziehbare Perspektive, denn diese Kombination von Vermassung, Armut und möglicherweise Kriminalität muss erschütternd gewesen sein für Menschen, die noch aus einer relativ agrarisch geprägten Gesellschaft in die Zeit des Industrieproletariats und Lumpenproletariats hineingewachsen sind. Auf eine große gesellschaftliche Erschütterung weist übrigens auch die tatsächlich von Arbeitern verfasste englische Literatur hin, von der man im 18. Jahrhundert noch zahlreiche Werke findet, während im 19. Jahrhundert der Strom zeitweilig fast versiegt. Das mag daran liegen, dass die Bedingungen, unter denen das Industrieproletariat arbeitete, eine solche Literatur praktisch unmöglich machten. Allein am Begriff der Monstrosität hätte meine damalige Hausarbeit, wenn sie die eingangs dazu zitierte Sekundärliteratur ernst genommen hätte, schon dahin gelangen können, dass Gaskells Darstellung des Verhältnisses von Arbeiterklasse und Welt wesentlich weniger einseitig ist, als es meine Lesart und die Lesarten, auf die diese sich stützte, nahelegen.

Nicht falsch verstehen: „Mary Barton“ bleibt ein Text mit starker Tendenz. Aber gerade in einem Kontext, der von Literatur“wissenschaft“ spricht, einer Klassifizierung, die ich für zusehends unmöglich halte, sollte man sehr viel akribischer arbeiten, als das in meiner Hausarbeit geschehen ist, und es auch in vielen weiteren Texten geschieht, die versuchen, die schlechte Haltung literarischer Werke zu „beweisen“. Vor allem läuft man in dem Bestreben, alles zu verdammen, Gefahr, die genuinen Leistungen von früher geborenen Menschen zu übergehen, sei es gesellschaftlicher oder ästhetischer Natur. Solch einen Fokus auf das individuelle Schicksal von Figuren aus der Arbeiterklasse wie bei Gaskell, und damit eben gerade das Aufbrechen des Einheitsbildes, das man von mir aus als monströs bezeichnen könnte, dürfte es in der englischsprachigen Literatur zuvor kaum gegeben haben. Hätte Elisabeth Gaskell diesen Text nicht geschrieben, hätte es vielleicht sogar länger gedauert, bis die gewerkschaftlichen Bewegungen erste Erfolge zeitigen? Das ist natürlich Spekulation, aber stets davon auszugehen, dass das Schlimme hängen bleibt, während das Gute nicht verfängt, ist genau solche Spekulation.

„Mary Barton“ ist kein großes literarisches Meisterwerk, aber ein historisch wichtiger Text, der vor allem in der ersten Hälfte seine Stärken hat. Er ist mit detaillierter Kenntnis verfasst und bemüht sich darum, runde Arbeitercharaktere und ihre Lebensverhältnisse vor Augen zu stellen. Er erkennt auch durchaus eine Dialektik zwischen Arbeiterschaft und Bourgeoisie, die die Verhältnisse, in denen beide leben, immer wieder reproduziert. Das in der Kritik mitschwingende Ideal mag christlich utopisch sein, und es ist kein Problem, das herauszuarbeiten, aber wenn, dann sollte man es richtig tun. Das ist aber nicht die Schwäche des Romans. Die Schwäche des Romans liegt im melodramatischen zweiten Teil, der einen recht generischen Kriminalplot auf den vorherigen Plot der sozialen Nöte draufsetzt und keine Sprache, kein Erzähltempo findet, um das dann in lesenswerter Weise zu gestalten und die beiden Teile sprachlich, formal und erzählerisch zu versöhnen.

Ein paar Worte noch zu diesem zweiten Teil, den ich auch nicht über Gebühr schlecht reden möchte. Es gibt durchaus noch ein paar atmosphärische Passagen, etwa bei Marys Ankunft in Liverpool. Und es gibt durchaus etwas innere Spannung, etwa die beiden Kapitel, in denen Mary versucht, Jem ein Alibi zu besorgen. Und wahrscheinlich war das im historischen Kontext, als es noch deutlich weniger Krimi und Thriller gab, etwas, das noch einmal deutlich spannender erlebt wurde als wir es heute erleben können, die in einer Welt leben, die quasi eine Formel aufgestellt hat für den maximalen Thrill in einer Erzählung. Gaskell scheint dagegen teilweise bewusst Spannung herausnehmen zu wollen, etwa indem sie im Titel des an sich spannenden Kapitels, in dem Jems Schuld vor Gericht verhandelt wird, schon verrät, welches Urteil am Ende steht. Auch das Pacing funktioniert zumindest für heutige Lesende trotz einiger spannender Momente nicht. Spannungsmomente werden quasi gereiht und jeweils möglichst schnell aufgelöst: zuerst die Sache mit dem Alibi, dann, dass Mary in dem Moment, in dem Jem freigesprochen wird, irgendeine Art von starkem Nervenfieber erleidet und längere Zeit krank ist, und zuletzt dann die Rückkehr von John, von der man doch erwarten sollte, dass sie der große Erlösungsmoment für Jem ist und zu einem Dilemma für Mary und schließlich zum selbstlosen Opfer von John für den unschuldigen Jem führt, während tatsächlich der Spannungsmoment der Jem-Handlung schon abgeschlossen wurde.

Postscriptum

– Zur negativen Zeichnung der Bosse gehört unter anderem auch, dass Jem auch nach seinem Freispruch in Manchester keine Arbeit mehr findet. Die Bosse berufen sich dabei allerdings unter anderem auf Arbeiter, die nicht mehr mit einem Menschen arbeiten möchten, dem sie nicht trauen können, und beides scheinen mir durchaus relativ glaubwürdige Verhaltensweisen. Hier werden sich also Arbeiter und Bosse gerade in ihrer Vorurteilslastigkeit angenähert. Noch weiter geht die Autorin mit dem Vater Carsons, dem schließlich John den Mord gesteht, wobei John schwer erschüttert feststellt, dass er die Bosse bisher immer nur als Unterdrücker, aber nie als Menschen gesehen hat. Der Vater verweigert genau diese Einsicht zuerst. Er bleibt moralisch also vorerst noch hinter dem Mörder zurück, indem er die Arbeiter weiterhin nicht als Menschen sieht. Erst Zeit zum Nachdenken und ein erschütterndes Erlebnis bringen ihn dazu, john zu verzeihen, wobei betont sei: Wir sprechen hier nicht von weltlicher Gerichtsbarkeit, sondern von der christlichen Einsicht, die dem Text so wichtig ist, dass Barton einen höheren Richter hat.

– Eine Sache, aus der ich einiges gemacht habe, auch weil es die Sekundärliteratur so vorgegeben hat, ist die, dass am Ende des Romans der Aufständische tot ist und die anderen Arbeiter-Hauptfiguren (also Mary und Jem) nach Kanada auswandern. Das sei eine relativ typische viktorianische Konvention, nach der Elemente, die nicht der gesellschaftlichen Normen entsprechen, aus dieser Gesellschaft ausgeschieden werden müssen. Es gibt dafür tatsächlich einige Präzedenzfälle, unter anderem mehrere Romane von Charles Dickens. Allerdings lohnt es auch hier, genauer hinzusehen, nicht alles gleichzusetzen bzw. sich zu fragen, ob die Lesart, die als die Norm gilt, auch Sinn ergibt. Möglicherweise normiert man hier sonst genauso viel, wie man es dem viktorianischen Roman vorwirft. Denn ja, es gibt diesen Ausschluss, aber wie setzt ihn Gaskell ein? Und ist der Tod eines Mörders wirklich das gleiche wie ein gut bezahlter Landeswechsel mit Aufstiegschancen? Die Ausgangslage für Jem und Mary ist doch die, dass vorher festgestellt wurde, dass die Bosse in Manchester zu bigott sind, um den freigesprochenen Jem wieder anzustellen. In Kanada dagegen scheint das Problem nicht zu geben, sei es, weil die Bosse dort nichts wissen, sei es, weil die Gesellschaft als fortschrittlicher dargestellt wird. Wenn ich diese Situation nicht gewaltsam zum Nachteil des Romans drehen möchte, ließe sie sich auch gerade als Kritik am Klassenverhältnis in England lesen. Wer redlich argumentiert, sollte, selbst wenn man zu der ersten Variante tendiert, die meines Erachtens vom Text weniger gedeckt wird als von unseren Vorurteilen über den viktorianischen Roman im Allgemeinen, doch zumindest die zweite Lesart als Möglichkeit mit angeben, sonst werden Lesende, die den Ausgangstext nicht kennen, in eine sehr fragwürdige Richtung gesteuert.

– Die Bourgeoisie kommt auch schlecht weg in einer Rede von Arbeiter Joop, die vom Text im Großen und Ganzen als letztes Wort zum Verhältnis von Arbeitern und Fabrikbesitzern genommen wird:

““It’s true it was a sore time for the hand-loom weavers when power-looms came in: them new-fangled things make a man’s life like a lottery; and yet I’ll never misdoubt that power-looms and railways, and all such-like inventions, are the gifts of God. I have lived long enough, too, to see that it is a part of His plan to send suffering to bring out a higher good; but surely it’s also a part of His plan that so much of the burden of the suffering as can be should be lightened by those whom it is His pleasure to make happy, and content in their own circumstances. Of course it would take a deal more thought and wisdom than me, or any other man has, to settle out of hand how this should be done. But I’m clear about this, when God gives a blessing to be enjoyed, He gives it with a duty to be done; and the duty of the happy is to help the suffering to bear their woe.””

Das liest sich alles doch durchaus sehr modern sozialdemokratisch, und auch wenn es natürlich Mitte des 19. Jahrhunderts radikalere Strömungen gab, sollte das auch für zeitgenössische Lesende relativ radikal geklungen haben. Klar, man mag das idealistisch nennen, denn wer stellt sicher, dass die Bosse ihren Aufgaben dann auch nachkommen? Müsste das nicht am Ende doch wieder der Staat machen? Und davon scheint Gaskell, ausweislich ihres ersten Romans, ja wenig zu halten. Es ist aber relativ irrelevant für die Frage, ob nicht auch die Arbeitgeber im Text häufig in schlechtem Licht erscheinen, wenn man den Text recht versteht. Denn wenn wir diese Passage ernst nehmen, und das sollten wir, würden sich die Fabrikbesitzer jederzeit, wenn sie nicht auf sozialen Ausgleich achten, gegen Gott versündigen und damit ebenso, wenn auch auf andere Weise, außerhalb der guten Ordnung stehen, wie John Barton, der Mörder. Der immerhin aber durch sein Geständnis und seine Reue zurück in die gute Ordnung findet, wenn er auch kurz darauf stirbt. Fabrikbesitzer, die bewusst weiterhin ihre Arbeiter schlecht behandeln, stünden dauerhaft außerhalb dieser Ordnung.

Bild: wikiart, gemeinfrei.

Ein Kommentar zu „Elisabeth Gaskells „Mary Barton“ und Selbstkritik einer alten Hausarbeit.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..