Vielschichtiges Landleben an der Schwelle zur Moderne. Elisabeth Gaskells „Wives and Daughters“.

Vor vielen Jahren im Studium bin ich in einem Seminar über die viktorianische condition of England novel mit „Mary Barton“ von Elisabeth Gaskell in Kontakt gekommen, über das ich dann auch meine Hausarbeit geschrieben habe. In der ging es darum, wie in der Folge von Thomas Carlyle das Proletariat mit Begriffen des Amorphen und des Monströsen enggeführt wurde und wie viktorianische Romanhelden, die nicht in das gesellschaftliche System passen, wie etwa der unzufriedene Vater von Mary Barton, auch wenn der Roman mit seinen Problemen sympathisiert, um die Ecke gebracht werden müssen, um eine Art Happy End zu ermöglichen. Nebst einer Auseinandersetzung mit Momenten des Proletarischen und Sympathie mit dem Proletarischen, die sich auf der anderen Seite in dem tatsächlichen Monster aus Mary Shelleys „Frankenstein“ finden. Auch wenn ich sicherlich heute nicht mehr alle Inhalte der Hausarbeit unterschreibe, war es, denke ich, eine interessante Auseinandersetzung. Man sieht aber auch: Die Arbeit war, wie vieles, was heute an der Uni produziert wird, content-fixiert. Man nimmt das Werk nicht als ästhetisches Gebilde, sondern als eines, das in erster Linie richtige oder falsche, problematische oder erfreuliche Aussagen tätigt. Das ist eine Haltung, die ich zunehmend schwierig finde, auch wenn ich überzeugt bin, dass wir durchaus Gesellschaftliches aus Literatur lernen können. Einerseits etwa zu der Weltanschauung, oder den Anschauungen, die ein Text vertritt, was sich mit aufmerksamer Lektüre allein aus dem Text destillieren lassen sollte, wobei das aber verlangt, sich nicht nur die Passagen herauszusuchen, die eine bereits feststehende These stützen. Und sicherlich auch zu empirischen Fakten zu sozialen Verhältnissen, wenn man sich die Mühe macht, literarische Texte mit nichtliterarischen Quellen abzugleichen oder für Zeiten und Orte, in denen solche nicht vorliegen, zumindest literarische Quellen möglichst breit zu vergleichen. Denn es ist ja tatsächlich immer mal wieder so, dass zu bestimmten Zeiten oder Themen vor allem literarische Quellen vorliegen, die auch nicht durch alle Zeiten so rigoros von nichtliterarischen zu scheiden waren.

Aber die Literaturwissenschaften machen es sich oft allzu leicht, indem sie quantitative Forschung meiden und allen Abgleichen mit quantitativer Forschung, soweit sie vorliegt, aus dem Weg gehen. Sie versuchen selten zu begründen, wie aus einem fiktiven Text solch weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden können, wie sie oft gezogen werden. Ich werde in einem späteren Text zu „Mary Barton“ auf genau solche Verkürzungen in meiner eigenen Hausarbeit aufmerksam machen.

All dies vorweg, um klarzustellen: Was ich ästhetisch zu „Mary Barton“ zu sagen habe, ist mit Vorsicht zu nehmen, denn das war nicht der Schwerpunkt meiner Beschäftigung mit dem Text und wurde nicht ermutigt. Ich erinnere mich an den Text als relativ unausgewogen, einerseits eine interessante Millieudarstellung, andererseits durchzogen von christlich-romantischer und moralisierender Kritik an dem, was unter den schrecklichen Umständen aus den Arbeitern wird. Die Auflösungen wirkten gezwungen, eher im Text um Konventionen zu entsprechen, als weil sie tatsächlich zwingend aus dem Werk hervorgehen würden. Gaskells Romane habe ich mir seitdem nicht wieder angeschaut, bis mir jemand den Rat gab, doch einmal das Spätwerk „Wives and Daughters“ zu lesen. Das habe ich kürzlich dann auf Deutsch in der Bibliothek mitgenommen, und diese Version, der die Übersetzung natürlich einige Ecken abgeschliffen haben mag, liest sich sehr angenehm ausgewogen. Szenen, und daraus sich ergebend letztlich eine ganze Kleinstadt, sind überzeugend gezeichnet. Der Text beschwört schöne Bilder aus Land- und Dorfleben herauf, und folgt dabei den Lebenswegen von etwa vier Hauptfiguren und einem guten Dutzend wichtigerer und unwichtigerer Nebenfiguren, die mit zahlreichen Komplikationen zu kämpfen haben. Das Spätwerk „Wives and Daughters“ wird oft mit Jane Austens Romanen verglichen, was natürlich ein sehr grober Vergleich ist, aber zumindest was die stilistische Geschliffenheit betrifft, trägt er für mich überraschenderweise. „Wives and Daughters“ hat zumindest nichts mit dem zu tun, woran ich mich im Fall von „Mary Barton“ erinnere. Ich werde aber nach dieser positiven Überraschung demnächst „Mary Barton“ noch einmal lesen und mindestens noch einen weiteren Roman Gaskells.

Im Zentrum von „Wives and Daughters“ steht Molly, die allein bei ihrem verwitweten Vater lebt, und diese Beziehung wird herrlich, voller Witz und liebevoll aufgebaut, etwa in diesem Gespräch zwischen Vater und Tochter:

“Ich kann deinem Plan nicht ganz folgen; die Einzelheiten, die du gibst, sind ein wenig verwirrend. Aber wenn ich dich recht verstehe, muß ich durchs Land ziehen wie ein Esel auf der Weide, mit einem Klotz am Bein, damit ich nicht davonlaufen kann.“
„Es macht mir nichts aus, wenn du mich einen Klotz am Bein nennst, wenn wir nur zusammengebunden sind.“
„Aber ich habe was dagegen, wenn du mich einen Esel nennst“, versetzte er.
„Das habe ich nicht getan. Zumindest habe ich es nicht so gemeint. Aber ich bin so froh, daß ich so ungestüm sein darf, wie ich will.“
„Ist das alles, was du heute in der vornehmen Gesellschaft gelernt hast? Ich habe erwartet, dich ausnehmend höflich und förmlich wiederzubekommen, und so habe ich vorsichtshalber ein Kapitel aus Sir Charles Grandison gelesen, damit ich mithalten kann.“
„Hoffentlich werde ich nie ein Lord oder eine Lady!“
„Da kann ich dich trösten: Ein Lord wirst du sicher nie, und die Chancen, daß du eine Lady wirst in dem Sinne, wie du es meinst, stehen eins zu tausend.“»“
„Ich würde mich jedesmal verirren, wenn ich meine Haube holen müßte, oder schon lange vor einem Spaziergang von den langen Fluren und großen Treppenhäusern müde werden.“
„Du hättest jedoch eine eigene Zofe.“
„Papa, ich glaube, Zofen sind noch schlimmer als Ladies. Aber ich hätte nichts dagegen, Haushälterin zu werden.”

Zuvor haben wir Molly kennengelernt, als sie zum ersten Mal auf einem Fest bei Adeligen dabei sein durfte – ein großes Ereignis für die Tochter eines Doktors. Dann aber wurde ihr schwindelig, und sie verschlief die Abfahrt, woraufhin der Vater sie sozusagen retten musste. Molly freut sich nun, dass beide jetzt viel Zeit miteinander haben.
Von mir aus hätte sich übrigens deutlich mehr das Romans um dieses Zusammenleben der Tochter mit dem alleinerziehenden Vater drehen können. Die Szenen sind sehr lebendig, und dazu ist eine solche Lebensgemeinschaft in der viktorianischen Literatur eher selten beschrieben worden.

Wir erleben als nächstes, wie Verbindungen zur Familie Hamley und deren beiden ungleichen Söhnen geknüpft werden – verarmte Landadelige, die dem Doktor und Molly in Freundschaft verbunden sind. Der Doktor heiratet dann schließlich wieder, obwohl er, wenn wir ehrlich sind, eher eine Gouvernante für Molly sucht als eine Frau. Diese Frau ist nicht gerade eine böse Stiefmutter, aber gerade in ihrem Bestreben, Molly und Cynthia, die Tochter, die sie mitbringt in die Ehe, gerecht und genau gleich zu behandeln, schnürt sie Mollys Freiheiten ein und erstickt sie auf der anderen Seite in (sehr moderatem) Luxus, den Molly gar nicht braucht. Bald ergeben sich zahlreiche Verwicklungen, insbesondere die, dass Cynthia sich ohne Zustimmung der Eltern verlobt hat und sich bald herausstellt, dass Cynthia dasselbe vor einigen Jahren schon einmal gegenüber einem ziemlich schrecklichen Mann getan hat, der mittlerweile auch in dieser kleinen Stadt lebt. Die Art und Weise dann, wie ein Gemisch aus sozialen Konventionen und übler Nachrede das Leben von Frauen zerstören kann, könnte man als das zentrale Thema des Romans identifizieren.

Das ist auch deshalb interessant, weil Gaskell nicht einfach eine Progressive ist. Ihr Leben und ihre Haltung sind sowieso eine nähere Betrachtung wert. Als Ehefrau und sehr aktive Mitarbeiterin eines Pfarrers könnte man Gaskell als emotional progressiv-mitfühlend bei gleichzeitiger sozialer Konservativität und politischer Moderation betrachten. Einige ihrer progressiveren Momente sind sogar wahrscheinlich von konservativen Anschauungen bestimmt. So beschäftigt sich Gaskell sehr viel mit dem sozialen Leid, das die Industrialisierung über Großbritannien bringt, und ist damit auch unter Konservativen nicht alleine. Gemeinsam mit ihrem Mann arbeitet sie sehr aktiv daran, das Leid der Arbeiter zu lindern. Sie ist auch nicht prinzipiell gegen politischen Fortschritt, aber ein definitiver Gegner aller revolutionären Bestrebungen.
“Wives and Daughters” ist allerdings vor 1832 angesiedelt, eine bewusste Wahl, um Gaskells großes Lebensthema diesmal draußen zu halten und stattdessen eine Gesellschaft zu zeichnen, in der feudale Überzeugungen noch stark sind, obwohl auch hier schon überall die Brüche sichtbar werden, die die bürgerliche Revolution der Wirtschaftsweise, die natürlich auf die Gesellschaft durchschlägt, nach sich gezogen hat. Dass das soziale Gefüge auf dem Land nicht statisch ist, zeigt der Roman etwa allenthalben im Kleinen. Die gesamte Art und Weise, wie der Adel gezwungen ist, doch immer mehr Umgang mit dem Bürgertum zu pflegen, sei es, weil man eben Ärzte braucht, sei es aber auch, weil die jungen fortschrittlicheren adligen Damen Gefallen an den bürgerlichen Frauen finden, spricht im Roman immer wieder von den Umwälzungen, die längst im Gange sind, ehe sie sich in großen Reformen und beinahe Revolutionen deutlicher zeigen.

Gaskells besondere Haltung bringt nun mit sich, dass sie die jungen Damen nicht einfach als Opfer ihrer Verhältnisse zeigt, wie das wahrscheinlich 90% heutiger AutorInnen machen würden, die einen historischen Roman in dieser Zeit ansiedeln. Stattdessen schafft Gaskell erzählerisch Bewusstsein dafür, dass man, auch wenn man in vielen Dingen Opfer von Umständen ist, von sozialen Strukturen und Konventionen, trotzdem Verantwortung für das eigene Handeln trägt. Das zeigt sich besonders in Cynthia, deren Verhaltensweisen aus moderner Perspektive alle sehr nachvollziehbar sind, die allerdings durch ihr Brechen von Konventionen auch Leuten schadet, die ihr nahestehen und die ihr helfen wollen. Besonders Mollys gutes Wesen wird von Cynthia ohne böse Absicht ausgenutzt, so dass diese schließlich in den Fokus des klatschsüchtigen Dorfes gerät und beinahe ihren guten Ruf verliert. Gaskell schafft eine ausgewogene Erzählung, die sowohl die Unerträglichkeit der Anforderungen an eine “gesittete” Frau im ländlichen Kontext vor Augen stellt, als auch, dass das Individuum in diesem Kontext nicht im luftleeren Raum agiert und auch als Opfer dieser Anforderungen noch Verantwortung trägt für eigenes Handeln. Ein zweites zentrales Thema ist, wie eigentlich stets in viktorianischen Romanen, die Liebe und das Heiraten, und insbesondere die Heirat als Geschäft. Wer ist standesgemäß? Wo lässt sich eine gute Partie machen? Und so weiter und so fort. Auch dieses Gesellschaftsbild ist subtil gezeichnet und dürfte Lesende voller Vorurteile über die schlechte alte Zeit überraschen. Mich z.B hat überrascht, wie ernst heimlich geschlossene Verlobungen genommen werden, denn das Stereotyp sagt: Die Eltern entscheiden über die Ehe. Hier scheint es eher so zu sein, dass die Eltern gern entscheiden würden und auch entsprechend bemüht sind, sich als Vermittler zu betätigen, dass aber die Verlobung gesellschaftlich geradezu als Sakrament genommen wird und selbst der elterliche Wille nicht ohne weiteres auf eine Lösung drängen kann, wenn nicht beide Seiten (!) der Kinder dem zustimmen. Natürlich gilt das erst einmal nur für den Roman; wie nah Gaskell hier an den tatsächlichen Konventionen der Zeit ist, wäre anderweitig zu prüfen.
Ich erinnere mich zumindest an Jane Austen-Romane, in denen die Kinder auch einiges Mitspracherecht hatten, und in norwegischen Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert, die ich gerade lese, wird die Haltung der Kinder auch auf dem hintersten Land relativ ernst genommen. Man sucht vielleicht umzustimmen, aber nicht zu zwingen.

Zuletzt: “Wives and daughters” wurde nicht ganz fertig, Wikipedia erklärt allerdings:

“At this point, Gaskell’s narrative breaks off: she has died leaving the novel unfinished. She had related to a friend that she intended Roger to return and present Molly with a dried flower (a gift Molly had given him before his departure), as proof of his enduring love.”

Es soll aber wohl auch eine von Dritten vollendete Version geben.

“Wives and daughters” ist ein sehr starker Text, für moderne Lesende vielleicht etwas gemächlich, aber Literatur ist stets eine Chance zu wachsen, in diesem Fall heraus aus den Beschränkungen kurzer Aufmerksamkeitspannen und der Fixierung auf Mord, Sex und Explosionen. Da der Text auch kostenlos online steht, gibt es eigentlich wenig Gründe, sich nicht einmal mit dem letzten Roman von Elisabeth Gaskell zu beschäftigen.

Bild: wikiart, gemeinfrei.

3 Kommentare zu „Vielschichtiges Landleben an der Schwelle zur Moderne. Elisabeth Gaskells „Wives and Daughters“.

  1. Von Elisabeth Gaskell kenne ich bislang nur ihre „Gothic stories“ um Mary Barton aber auch Wives and Daughters habe ich bisher einen Bogen gemacht und weiß auch noch nicht ob ich mich aufgrund der Thematik und des Umfangs ran wage.

    Deinen Artikel habe ich sehr sehr gerne gelesen und fand deine Bemerkung sehr treffend und den Umstand auch problematisch, dass wir zunehmend das ästhetische eines Werkes außer Augen lassen und uns fast ausschließlich auf die Aussagen konzentrieren.

    Liebe Grüße, Sabine

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    1. Also Wives and Daughters lässt sich wirklich schön entspannt lesen, und auch Mary Barton habe ich mittlerweile noch einmal gelesen, das ist auch nicht uninteressant, besonders, wenn man es nicht mehr vor allem unter dem Blickwinkel liest, ob man der Autorin zustimmt.

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