Literarische Komposition, oder: Joyce als Selbstkritik mit einer Prise Aquin

In A Portrait of the Artist as a Young Man entwickelt Stephen Dedalus ein ästhetisches Raster, nach dem Werke jeweils anhand der Relation, in der “der Künstler sein Bild der Welt vorstellt”, als lyrisch, episch, oder dramatisch klassifiziert werden können. Die zu Grunde liegende Ästhetik ist die des Thomas von Aquin.

“When we speak of beauty in the second sense of the term our judgement is influenced in the first place by the art itself and by the form of that art. The image, it is clear, must be set between the mind or senses of the artist himself and the mind or senses of others. If you bear this in memory you will see that art necessarily divides itself into three forms progressing from one to the next. These forms are: the lyrical form, the form wherein the artist presents his image in immediate relation to himself; the epical form, the form wherein he presents his image in mediate relation to himself and to others; the dramatic form, the form wherein he presents his image in immediate relation to others”. (vgl.)

Lyrische Romane, dramatische Gedichte

Man beachte dabei, dass nichts an dieser Klassifikation den bekannten Literaturgattungen entspricht. Ein Gedicht wie Rilkes Fensterrose etwa wäre “dramatisch”, ein Roman wie der “Taugenichts” wäre eher als “lyrisch” zu begreifen, und die Kirke-Passage des Ulysses, ein Dialog, wäre dennoch “episch”.

Ebenfalls in A Portrait enthalten ist ein Gedicht, das Joyce, der sonst nur einen einzelnen kleinen Gedichtband hinterlassen hat auch als Lyriker von Weltformat ausweist:

Are you not weary of ardent ways,
Lure of the fallen seraphim?
Tell no more of enchanted days.

Your eyes have set man’s heart ablaze
And you have had your will of him.
Are you not weary of ardent ways?

Above the flame the smoke of praise
Goes up from ocean rim to rim.
Tell no more of enchanted days.

Our broken cries and mournful lays
Rise in one eucharistic hymn.
Are you not weary of ardent ways?

While sacrificing hands upraise
The chalice flowing to the brim,
Tell no more of enchanted days.

And still you hold our longing gaze
With languorous look and lavish limb!
Are you not weary of ardent ways?
Tell no more of enchanted days.

Nach Chris Verschuyl erlaubt dieses Gedicht, einen Schlüssel zum gesamten Portrait zu gewinnen. Die “Villanelle” durchlaufe die drei von Dedalus entwickelten ästhetischen Kategorien, und spiegele darin den Roman im Ganzen:

“The structure of Stephen’s villanelle as a whole — from its stanza construction to its length — is the first step toward a sense of to A Portrait’s overall purpose.” (…) This distinction is key to understanding this poem as Stephen’s conscious redirection of his own artistic efforts. If he were writing simply to the woman, there would be no change in perspective: we would have no hope that Stephen would ever move past lyrical art. (…) It is useful to track the style of art, according to Stephen’s definition, that are present in each stanza. The changes between lyrical, epical, and (nearly) dramatic follow a logical progression for a budding artist”.

Der überzeugende Text von Chris Verschuyl ist hier nachzulesen.

Man kann aber noch einen Schritt weitergehen. Auf Basis der Dedalusschen Ästhetik ließe sich eine überzeugende Kritik des Gesamtwerkes von James Joyce verfassen, in dem diese sich am Ideal des jungen Joyce – das, s.U. wohl auch wieder das des Alten ist – zu messen hätte.
Es würde sich zeigen, dass Finnegans Wake tatsächlich mit Recht als die Krönung von Joyce’ Schaffen angesehen wird, handelt sich darin doch um einen formvollendeten “dramatischen Roman”, ein absolutes Kunstwerk im Buchstärke, das sich nicht mehr auf den Künstler, sondern nur noch auf sich selbst und so auf das Außen der Kunst bezieht. FW ist so aber auch der Endpunkt dieser radikalen Richtung, Imitation bringt den Epigonen nicht weiter.

Starkes Portrait, schwacher Ulysses?

A Portrait dagegen wäre als Roman, der vom lyrischen konsistent auf das epische Prinzip zuläuft ein starker Entwicklungsroman neuer Form, in dem sich der Einzelne nicht mehr (bürgerlich) narrativ Stringent, sondern psychologisch durch eine Serie von Epiphanien entwickelt:

“In „Ein Portrait des Künstlers als junger Mann“ ist die Epiphanie ein zentrales und stilistisches Element. Für Joyce war eine Epiphanie keine Offenbarung der göttlichen Macht und ihrer ewigen Wahrheit sondern die plötzliche „Offenbarung der Washeit eines Dinges“1und ein Augenblick, in dem „die Seele des gewöhnlichsten Gegenstandes … zu erstrahlen scheint“.2Er entlehnte den Begriff der Epiphanie dem Christentum und verlieh ihm weltliche Bedeutung. Seiner Ansicht nach waren solche Epiphanien dem Künstler vertraut, und dieser müsse nach ihnen Ausschau halten unter den Menschen. Sie offenbaren sich in zufälligen, belanglosen und unauffälligen oder unangenehmen Augenblicken. „Er glaubte, daß es die Aufgabe des Schriftstellers sei, die Epiphanie mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie selbst die zerbrechlichsten und flüchtigsten aller Momente seien.“3Kennzeichnend für dieses Stilmittel bei Joyce ist, dass der Künstler diesen Augenblick und die Empfindung der Epiphanie registriert und sogleich durch seine Einbildungskraft das ästhetische Bild zu entwerfen beginnt.4Die Epiphanien im „Portrait“ von Joyce lassen sich schwer an expliziten Textstellen aufzeigen. Vielmehr gleicht dieser Roman eine Epiphanien – Sammlung. Jedes der fünf Kapitel endet mit einer Epiphanie, also einem Gedanken der Erleuchtung. Jedoch wird dieser Augenblick der Erkenntnis und das Gefühl des inneren Gleichgewichts durch das darauf folgende Kapitel abgewertet, indem sich die Welt für den Protagonisten vergrößert und ihn vor neue Herausforderungen stellt. Der Protagonist triumphiert am Ende eines jeden Kapitels über eine niedere Autorität, die im nächsten wieder zerstört wird.” (vgl.)

Zwieschlächtig dagegen bleibt der Ulysses. Anhand der Ästhetik von Stephen Dedalus lassen sich einige der verstörend Eigenschaften dieses Romans dem Werk tatsächlich als Schwächen vorrechnen. So ist das Sirenen Kapitel verfasst wie ein modernes Gedicht (bzw. nach dem Gilbert-Schema musikalisch, als Fuge per Canonem), und als solches Recht eigentlich “dramatisch”. Die gesamte Telemachie hingegen ist in vielem wieder “lyrischer”, als es der Perspektive des Stephen Dedalus nach dem Portrait noch zukommen dürfte. Und tatsächlich ist das in Dialogen geschriebene Kirke-Kapitel (s.o.) eine Art episches Theaterstück, die Szenen werden sowohl in Relation zu den dem Autoren nahestehenden Figuren Bloom und Dedalus präsentiert, als auch in Bezug zu “anderen”. All das will sich im Romanganzen nicht fügen, das Werk ist ästhetisch nicht rund.
Und hier wurden solch fragwürdiger Entscheidungen wie das parodistische Oxen of the Sun – Kapitel (welche Werkimmanente Begründung dafür!?), oder der „Katechismus“ des Eumaeus-Kapitels noch nicht einmal berührt.

Wer hat hier Joyce nicht verstanden?

Nun möchte ich mich nicht dazu versteigern, den Ulysses letztgültig zu verurteilen, allein mit Stephen Dedalus lassen sich aber Schwächen festmachen, die nicht einfach dadurch vom Tisch gewischt werden können, dass man dem Kritiker vorwirft, er habe Joyce nicht verstanden. Nach der ganzheitlichen, zum idealen Kunstwerk strebenden Ästhetik Stephens ist der Ulysses als gescheitert zu betrachten. Ob dieser Ästhetik nicht wesentliche Bezugspunkte zwischen Werk und Welt abgehen soll hier nicht verhandelt werden.  Richtig ist: Joyce hatte sich beim Verfassen des Ulysses von der Dedalusschen Ästhetik bereits distanziert. Stephens frühere Position wird jetzt von einem weltfremden konservativen Ästehtizisten vertreten:

“Art has to reveal to us ideas, formless spiritual essences. The supreme question about a work of art is out of how deep a life does it spring. The painting of Gustave Moreau is the painting of ideas. The deepest poetry of Shelley, the words of Hamlet bring our minds into contact with the eternal wisdom, Plato’s world of ideas. All the rest is the speculation of schoolboys for schoolboys…”,(vgl.)

während Stephen dem Hamlet mit biografischen Spielereien zu Leibe rückt:

“Is it possible that that player Shakespeare, a ghost by absence, and in the vesture of buried Denmark, a ghost by death, speaking his own words to his own son’s name (had Hamnet Shakespeare lived he would have been prince Hamlet’s twin), is it possible, I want to know, or probable that he did not draw or foresee the logical conclusion of those premises: you are the dispossessed son: I am the murdered father: your mother is the guilty queen, Ann Shakespeare, born Hathaway?”

Aber soll man diesen spätjugendlichen Biographismus überzeugender finden als Stephens früheren frühreifen Pseudoaquinismus? Insbesondere, da Finnegans Wake wieder so total in den Idealen des Portrait aufgeht?

Zum Schluss: ein Leseerlebnis ist der Ulysses alle Mal, und viele Passagen gehören sprachlich zum absolut Größten, was jemals in der Weltliteratur verfasst worden ist. Davon kann sich auch der Lesefaule einen Eindruck machen: In den Internet Archiven gibt es eine absolut hervorragende gemeinfreie professionelle Hörbuch-Version des Klassikers: http://archive.org/details/Ulysses-Audiobook