Stil, Struktur und Gesellschaft von Llosas „Das Grüne Haus“.

Wahrscheinlich sucht kein Roman Lesende zu Beginn so sehr zu überwältigen, wie „Das grüne Haus“ von Mario Vargas Llosa. Selbst dessen insgesamt sicher noch mal ein gutes Stück schwierigeres „Das Gespräch in der ‚Kathedrale‘“ beginnt mit einer relativ einfachen Beschreibung einer Szene aus dem Leben der Hauptfigur. „Ulysses“ eröffnet mit einem Gespräch unter jungen Erwachsenen, und auch Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ lockt die Lesenden mit einem gemächlichen Gespräch einer Familie über Wetter und Tagespläne in den Text. „Das grüne Haus“ dagegen hebt an mit einem fast 20-seitigen Textblock ohne Absätze, in dem zahlreiche, oft nur mit Spitznamen benannte, Figuren auftreten, in dem wörtliche Rede, Sinneseindrücke und Gedanken innerhalb einzelner Sätze ineinander fließen und all das in einer Szenerie, die auch für die peruanischen Lesenden im ersten Moment eher fremd gewesen sein dürfte: die wenig bewohnten Dschungel des Amazonas im östlichen Peru, wo eine Gruppe von höchstwahrscheinlich Soldaten und Nonnen, so lässt sich die Szene mit der Zeit entschlüsseln, junge Frauen von der Ethnie der Aguaruna zuerst anwerben bzw. den Eltern abzukaufen versuchen, schließlich aber kurzerhand entführen. Einige Sätze von der ersten Seite:

“Der Sargento wirft einen Blick auf Madre Patrocinio, und die fette Schmeißfliege sitzt immer noch da. Das Motorboot hopst auf den trüben Wellen dahin, zwischen zwei Mauern aus Bäumen, die einen stickigen, heißen Dunst ausatmen. Unter dem Sonnendach zusammengerollt, vom Gürtel aufwärts nackt, schlafen die Guardias, gewärmt von der grünlich-gelblichen Mittagssonne: Der Kopf des Knirpses liegt auf dem Bauch des Fetten, der Blonde ist in Schweiß gebadet, der Dunkle schnarcht mit offnem Mund. Ein Schirm aus Insekten begleitet das Boot, zwischen den Körpern kreisen Schmetterlinge,Wespen und dicke Fliegen. Der Motor rattert gleichmäßig vor sich hin, stottert, rattert wieder, und der Lotse Nieves führt das Steuer mit der linken Hand, mit der rechten raucht er, und sein tief gebräuntes Gesicht unter dem Strohhut bleibt unverändert. Diese Leute aus dem Urwald waren nicht normal, warum schwitzten sie nicht wie Christenmenschen? Achtern sitzt steif, mit geschlossenen Augen, Madre Angélica, mindestens tausend Falten im Gesicht, mitunter steckt sie die Zungenspitze heraus und leckt den Schweiß vom Schnurrbart und spuckt aus. Die arme Alte, solche Ausflüge waren nichts für sie. Die fette Schmeißfliege schlägt die kleinen blauen Flügel, löst sich mit sanftem Auftrieb von der rosigen Stirn Madre Patrocinios, fliegt in Kreisen davon ins weiße Licht, und der Lotse würde gleich den Motor abstellen, Sargento, sie waren nämlich gleich da, nach dieser Einbuchtung kam Chicais. Aber etwas sagte dem Sargento, es wird niemand dasein. Das Motorengeräusch bricht ab, die Madres und die Guardias öffnen die Augen, heben den Kopf, blicken sich um. Der Lotse Nieves ist aufgestanden, drückt die Stake nach rechts, nach links, das Boot nähert sich geräuschlos dem Ufer, die Guardias stehen auf, ziehen die Hemden an, setzen die Képis auf, schnallen die Ledergamaschen um. Der Pflanzenvorhang rechts reißt ab, sobald die Flußkrümmung passiert ist, und man sieht ein Hochufer, einen schmalen Einschub rötlicher Erde, der bis zu einem winzigen Winkel voller Morast, Steinbrocken, Röhricht und Farnbüschel herunterläuft. Unten ist kein Kanu, oben am Uferrand keine menschliche Gestalt zu sehen.”

Überwältigen, das ist im übertragenen Sinne dann auch durchaus gewaltvoll gemeint: hier muss man sich gleich voll einlassen, die gesamte Kraft der Erzählung, die ungeheure Fülle der stilistischen Mittel, auf sich einprasseln lassen und darf sich nicht ängstlich zurückziehen. Zugleich aber geschieht das Überwältigen auch in dem Sinne, wie man eine herrliche Landschaft überwältigend nennt oder die hohen Hallen einer Kathedrale. Die Opulenz der Bilder, der brillante Einsatz einer Sprache, die einerseits so ganz aus dem Mündlichen erwächst, andererseits sich aber zu äußerst kunstvollen Komposition verbindet, und nicht zuletzt wiederum das von Pflanzen, Tieren, von Gerüchen und Geräuschen übervolle Urwaldsetting sind überwältigend in diesem Sinne.

Free Jazz & der „Totale Roman“

So zu beginnen erinnert mich an einige der wegweisendsten Free Jazz Alben, die im Gegensatz zur Klassik, die für gewöhnlich zuerst einzelne Themen andeutet und das Ganze dann immer stärker verbindet, häufiger mit einer Kakophonie des Ensembles beginnen, und erst später sich dann die einzelnen Stimmen heraus schälen lassen. Ob der Autor die Technik dort abgeschaut hat? Unmöglich ist es nicht, zumindest Ornett Colemans „Free Jazz“ erschien vier Jahre vor „Das grüne Haus“. Genauso wahrscheinlich oder sogar wahrscheinlicher ist aber, dass der Autor die Verfahrensweise allein aus dem Unterfangen (er)finden musste, dem er sich gestellt hatte, mit Llosas Worten: der Totale Roman. Eine ästhetische Synthese gesellschaftlicher Schichten und Konflikte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten einer Gesellschaft, in diesem Fall Perus. Aus einer älteren Hausarbeit zum Thema:

„Folglich verlangt Vargas Llosa von einer idealen „fiktiven Realität“ mehr, als er von einem rein historischen Roman verlangen müsste. Nicht das einfache Widerspiegeln der Umstände der Gesellschaft, in der der Autor sich bewegt macht das kreative Moment des Romans aus, sondern die Qualität steht und fällt mit den hinzugefügten Elementen, die meist als ein „Komplex von Veränderungen, Betonungen, Verzerrungen und Auslassungen gegenüber der realen Welt“, auftrete (…) Der Schriftsteller bediene sich aus den Trümmern einer Wirklichkeit, die als ganzes nicht überzeugend, dem Untergang geweiht sei, und schaffe, so Llosa, in einen symbolischen Akt des Gottesmordes aus „realer Realität“ und „elementos anunadidos“ einen Kosmos, der im angestrebten Ideal in seiner Komplexität der Realität in nichts nachstehe. Das allumfassende Ergebnis dieses Strebens bezeichnet Vargas Llosa als den „Totalen Roman“, ein inhaltlich wie formal auch derart arrangiertes Gebilde, dass dessen „fiktive Realität“ eine Gesellschaft in all ihren Widersprüchen zeichne (…) Somit erscheint jedes „Ich“ im totalen Roman als eine von vielen beschreibenden Stimmen, und ist als subjektive Sichtweise identifizierbar. Diese Subjektivität ermöglicht nach Scherer, zu exponieren, „was in der Realität … verschwiegen … wird“. Gleichzeitig macht sie den Leser zum letzten Richter, und ermöglicht auf Basis der geschilderten Sachverhalte ein autonomes Urteil. Diese Polyperspektivität verschiedener „Ichs“ reflektiert Vargas Llosas Verständnis der Welt als „heterogenes Chaos“, und impliziert zugleich das Recht und die Pflicht des „Totalen Romans“, unvollkommen zu sein. „Er… kann blinde Stellen enthalten oder unlogisch, paradox, phantastisch sein…“. (…) „Gelungene Fiktion verkörpert die Subjektivität einer Zeit“.“

Stil und Komposition

Hier noch eine kurze Passage, um zu zeigen, wie dieser Komplex im Auftaktteil verknüpft ist:

“Die Gewehre immer noch auf die beiden Männer gerichtet, setzen sie sich rück- wärts gehend ab, und gleichzeitig stehen die Aguarunas auf und folgen ihnen, gebannt von den Gewehren. Die Alte springt wie ein Affe, schlägt ihn und umfaßt zwei Paar Beine, der Knirps und der Dunkle stolpern, Mutter Gottes, fallen auch hin, und Madre Patrocinio, sollte nicht diese Schreie ausstoßen. Vom Fluß her weht eine straffe Brise, bläst den Abhang herauf und wirbelt bewegte, einhüllende, orangefar- bene Wolken und grobe Sandkörner auf, die herumschwirren wie Schmeißfliegen. Angesichts der Gewehre verharren die beiden Aguarunas fügsam und der Steilhang ist schon nahe. Wenn sie über ihn herfielen, sollte der Fette dann schießen? und Madre Angélica, brutaler Kerl, und wenn er sie dabei tö- tete? Der Blonde hält die Kleine mit dem Nasenring am Arm fest, warum ging’s denn nicht runter, Sargento? die andere beim Genick, die entwischten ihm ja, jetzt gleich entwischten sie ihm und sie schreien nicht, sondern versuchen, seinem Griff zu entkommen und ihre Köpfe, Schultern, Füße und Beine zucken, stoßen und schlagen aus und der Lotse Nieves kommt mit Thermosflaschen beladen vorbei: er sollte sich be- eilen, Don Adrián, hatte er alles? ”

Zu Beginn haben wir eine relativ neutrale Beschreibung einer Situation. Der Satz “Wenn sie über ihn herfielen, sollte der Fette dann schießen?…“ könnte auch noch relativ neutral anfangen, aber spätestens die Interjektion „brutaler Kerl“ zeigt an, dass wir uns in den Kopf von Madre Angelica bewegen. Im nächsten Satz verknüpft sich die Beschreibung des Tuns des „Blonden“ mit der Nachfrage an einen Sargento, wobei sowohl der „Blonde“ als auch der „Fette“ diese Frage stellen könnten. Und so weiter. Bei späterer Lektüre wird deutlich werden, wie viel diese Passagen bereits über Figuren verraten, die im Verlauf des Romans und teilweise in exponierte Position noch wieder auftauchen werden.

„Das grüne Haus“ schraubt in der Folge dann die Schwierigkeit ein wenig zurück und etabliert vor allem eine klare Struktur, nach der das komplexe Ganze gebaut ist. Der Roman hat vier Teile und einen Epilog. Die Teile bestehen wiederum für gewöhnlich aus vier Großkapiteln. Und jedes dieser Kapitel ist noch mal in bis zu fünf nur leicht voneinander abgesetzte Abschnitte unterteilt, die fünf auf den ersten Blick relativ unverbundene Geschichten erzählen. Im ersten Teil sind das:

– Das Aguaruna-Mädchen Bonifacia, das auf einer Missionsstation im Amazonas lebt und einigen frisch dorthin gekommenen Mädchen bei der Flucht geholfen hat und nun davon bedroht ist, aus der Station geschmissen zu werden.
– Aquilino und Fushia. Aquilino rudert den Freund aus bisher unklaren Gründen durch das System der Flüsse, und Fushia lässt sich von ihm auf penetrantes Nachfragen hin immer wieder Brocken seiner Lebensgeschichte entlocken.
– Ein Fremder, den wir bald als Don Anselmo kennenlernen, kommt auf einem Maultier nach Piura und baut dort außerhalb der Stadt in der Wüste ein grünes Haus. Es stellt sich heraus als Partyschuppen und Bordell.
– Rund um Iquitos findet Kautschuk-Schmuggel statt. Diese Geschichte scheint mehrere Hauptfiguren zu haben, unter anderem einen Don Julio, bald aber kristallisieren sich der Lotse Nieves und Lalita als zentrale Figuren heraus.
– In der Mangacheria, einem sozial eng verbundenen armen Viertel von Piura, ist endlich Lituma zurückgekehrt, der einst mit seinen Vettern eine gefürchtete Bande von Partylöwen bildete. Irgendetwas Schreckliches muss in der Vergangenheit geschehen sein, aber zuletzt war Lituma bei der Guardia Civil. In seiner Abwesenheit muss mit seiner Geliebten etwas geschehen sein, und jetzt geht die Bande, die sich „Die Unbezwingbaren“ nennt, erstmal ins Grüne Haus, um zu saufen.

Prinzipiell behält der Roman diese Struktur dann auch im gesamten Verlauf bei. Auf Wiki ist ein komplettes Schema dazu zu finden. Jeder der vier Teile beginnt wieder mit einem hermetisch-poetischen Textblock wie der erste Teil, und die fünf Geschichten werden fortgeführt. Dadurch, dass Menschen reisen und sich begegnen, fühlen sich die fünf Geschichten mit der Zeit jedoch deutlich anders an. Hinzu kommt, dass es sich bald herausstellt, dass es bei den fünf Geschichten nicht um zeitlich parallele Handlungen handelt, sondern teilweise deutlich zueinander versetzte. Die früheste, beinahe mythische, ist die Gründung des ersten grünen Hauses, und wir stellen fest, dass das grüne Haus, nach dem sich die Unbezwingbaren im fünften Handlungsstrang begeben, längst nicht mehr das Gleiche ist, aber eine Verbindung aufweist. Das wiederum hat auch zur Folge, dass Figuren teilweise in mehreren Handlungssträngen zu verschiedenen Zeiten unterwegs sind und damit teilweise auch unter unterschiedlichen Namen. Denn fast alle Perspektiven sind in einem indirekt freien Stil erzählt, der sich immer in gewisser Nähe zu den Köpfen und Gedanken einzelner Figuren aufhält und die Welt durch diese filtert. So wird etwa die Figur, die einige Strängen von den Kameraden nur als „der Sargento“ benannt und betrachtet wird, mit der Zeit als Lituma enthüllt, der gerade einige der Abenteuer besteht, von denen er im fünften Strang zurückkehrt.

Die Figur Bonifacia treffen wir etwa ab dem zweiten Teil dann als Dienerin beim Lotsen Nieves und seiner Frau Lalita, wo sie langsam mit Lituma verkuppelt werden soll und zugleich als Prostituierte im zweiten grünen Haus unter dem Namen Selvatica, wo Lituma langsam dahinter kommt, was in seiner Abwesenheit geschehen ist. Lalita wiederum ist als jüngere Frau ab dem zweiten Teil in den Erzählungen von Fushia gegenüber Aquilino anwesend, die damals aber noch Fushias Geliebte ist, von diesem aber betrogen und geschlagen wird und irgendwann mit dem Lotsen Nieves flieht. Ein Native, über den in der Missionshandlung im ersten Teil die Mädchen die Nonnen ausgefragt haben, dem zur Strafe die Haare abrasiert wurden, taucht später zuerst in der Rategui/Nieves-Handlung als Kazike Jum auf. Dann auch in der Fushia-Handlung, da Fushia mit Rategui zusammengearbeitet hat. Jum hat versucht, die Indigenen entlang der Flüsse zu organisieren, um den profitablen Kautschukhandel in die eigene Hand zu bekommen und genossenschaftlich abzuwickeln, statt zu geringen Preisen an weiße Zwischenhändler zu verkaufen, die sich damit eine goldene Nase verdienen. Das ist nur eines der unzähligen Beispiele dafür, wie dieses Handlungsgeflecht aufgebaut ist. Letztendlich könnte man sagen, dass das Grüne Haus funktioniert wie so eine Art Spiralstruktur, die Figuren durch die verschiedenen Erzählstränge zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens durchführt und damit Korrespondenzen und Kontraste herausarbeitet.

Sich über die Perspektive klar zu werden, ist ungeheuer wichtig, um zu einem tieferen Verständnis von „Das Grüne Haus“ vorzudringen. Es erklärt auch die häufig derbe Sprache, die man nicht mit der Intention des Autors und nicht mal mit einem einzelnen übergeordneten Erzähler verwechseln darf: Hier wird in einem Stil, der Gedanken, Sinneseindrücke und wörtliche Rede vermischt, aus Figuren herausgesprochen, ohne dafür in die Ich-Perspektive zu wechseln. Und so spricht und denkt ein rassistischer Provinzsoldat anders als eine distinguierte Nonne (deren Handlungsweise allerdings in deutlichem Kontrast zu dem gesitteten Bild steht, das sie projiziert), als ein Gubernador usw. Selbst noch die scheinbar auktorial präsentierten Passagen über die Gründung des Grünen Hauses in einer undefinierten Vergangenheit durch die anfangs fast mythisch wirkende Figur Don Anselmo sind nicht auktorial, sondern enthüllen sich durch den Duktus ebenso wie durch einige Einschränkungen („man sagt, dass“), letztlich als von jemandem mit der beschränkten Perspektive eines Einwohners von Piura erzählt oder vielleicht als Gedankenstrom eines kollektiven Piura.

Auch wo der Text sich auf den ersten Blick einfacher liest als in den dichten Blöcken zu Beginn der Kapitel, bleibt eine hohe Komplexität allerdings enthalten. Hier etwa, auf der Flussfahrt von Fushia und Aquilino, befinden wir uns in der ersten Ebene des Gesprächs in der Gegenwart dieses Handlungsstrangs: die Antwort, die wahrscheinlich auch Fushia gibt, gibt dann aber gar nicht mehr Fushia, sondern sie findet bereits innerhalb einer Rückblende statt, die wir uns als Erzählung von Fushia denken müssen. Dann aber spricht wieder Aquilino in die Rückblende hinein.

““Aber das hast du mir ja schon erzählt, wie wir die Insel verlassen haben, Fushía“, sagte Aquilino. „Ich möchte, daß du mir erzählst, wie du ausgebrochen bist.“
„Mit diesem Nachschlüssel“, sagte Chango. „»“Iricuo hat ihn aus dem Pritschendraht gemacht. Wir haben ihn schon ausprobiert, die Tür geht auf, ohne daß man was hört. Willst du’s sehen, Japanerchen?“
Chango war der Älteste, wegen Rauschgift im Gefängnis, und Fushía behandelte er mit Zuneigung. Iricuo dagegen machte sich immer über ihn lustig. Ein Kerl, der viele Leute betrogen hatte, mit dem Erbschaftstrick, Alter. Der Plan stammte von ihm.
„Und hat’s dann auch so geklappt, Fushía?“ sagte Aquilino.
„So klappt’s“, sagte Iricuo. „»“Versteht ihr denn nicht? An Neujahr hauen immer alle ab. Nur im Wachlokal ist einer, dem müssen wir die Schlüssel wegnehmen, bevor er sie übers Gitter wirft. Davon hängt alles ab, Jungens.“”

Exemplarisch für “Das grüne Haus” ist dieses polyphone, teilweise beinahe synkretistisch zu nennende Erzählen, dass nie das Vermitteln von Dialog-Informationen, Handlungsinformationen oder Beschreibung des Settings absolut stellt, sondern im schnellen Wechsel darauf baut, diese Erfahrungen in der Erfahrung der Lesenden zu einer Sache zu vereinigen. Dabei schafft Llosa, anders als etwa der kürzlich besprochene Maquez, fast im Minutentakt Bilder von opulenter Schönheit, sei es im Dschungel:

“Als der Anlegeplatz endlich leer war, dunkelte es bereits: Bonifacia richtete sich auf. Der Nieva war in vollem Steigen, gekräuselte und silbrige kleine Wellen liefen unter dem Strauchwerk dahin und verebbten an ihren Knien. Ihr Körper war von Erde verschmiert, Gräser hafteten in ihrem Haar und am Kleid. Der Alte verstaute die Waren, methodisch und genau verteilte er die Kisten am Bug, und über Santa María de Nieva war der Himmel eine Konstellation aus Teer und Uhuaugen, aber auf der anderen Seite des Marañón, über der düsteren Zitadelle am Horizont, widerstand noch ein blauer Streifen der Nacht, und der Mond kam hinter den Gebäuden der Mission zum Vorschein. Die Gestalt des Alten war jetzt ein schwacher Fleck, im Halbdunkel blitzte sein Haar silbrig wie ein Fisch. Bonifacia blickte zum Ort hinüber: in der Gobernación, bei Paredes war Licht, und einige Petroleumlampen flackerten an den Hügeln, in den Fenstern des Hauses, wo die Nonnen wohnten. Die Dunkel heit verschluckte in langsamen Bissen die Cabañas der Plaza”

Sei es etwa in Piura:

“Wenn der Wind von der Kordillere herunterkommt und über die Sandwüsten hinbläst, wird er heiß und hart: gerüstet mit Sand folgt er dem Lauf des Flusses, und wenn er die Stadt erreicht, sieht man zwischen Himmel und Erde etwas wie einen gleißenden Panzer. Dann entlädt er seine Eingeweide: alle Tage, das ganze Jahr über, mit Beginn der Dämmerung, fällt ein trockener Regen, fein wie Sägemehl, der erst bei Tagesanbruch nachläßt, auf die Plätze, die Ziegeldächer, die Kirchendächer, die Glockentürme, die Balkone und die Bäume, und bedeckt die Straßen Piuras mit Weiß. Die Fremden irren sich, wenn sie behaupten die Häuser der Stadt stehen kurz vor dem Einsturz: das nächtliche Knirschen rührt nicht von den Bauten her, die zwar alt sind, aber robust, sondern von den unsichtbaren, unzähligen winzigen Sandgeschossen, die gegen die Türen und Fenster prallen. Sie irren sich auch, wenn sie denken: „Piura ist eine menschenscheue, traurige Stadt.“ Die Leute flüchten sich in ihre Häuser, wenn der Abend hereinbricht, um dem erstickenden Wind und dem Angriff des Sandes zu entkommen, der der Haut weh tut wie Nadelstiche und sie rötet und verwundet, aber in den Slums von Castilla, den Hütten aus Lehm und Rohr in der Mangachería, in den Garküchen und Chicha-Schenken in der Gallinacera, in den Villen der Principales entlang dem Damm und an der Plaza de Armas, vergnügen sie sich, wie die Leute überall woanders auch, indem sie trinken, Musik hören, sich unterhalten. Der Eindruck einer verlassenen und melancholischen Stadt wird auf der Schwelle zu ihren Häusern aufgehoben, selbst in den ärmlichsten Unterkünften, die eine hinter der andern an den Flußufern entlang jenseits des Schlachthofs stehen.

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, an dieser Stelle noch einiges mehr zur Handlung zu sagen, aber da das detektivische Nachvollziehen der Verbindungen durchaus einen Reiz des Werkes ausmacht, ist das vielleicht gar nicht so sinnvoll. Als Hauptfigur im weitesten Sinne kristallisiert sich, wenn man überhaupt eine benennen will, Lituma heraus, und dessen Beziehung zu Bonifacia bzw. zur Selvatica. Vor langer Zeit muss es einen großen Konflikt gegeben haben, mit einem Eklat, der dann das Leben Litumas in neue Bahnen lenkte. Zweiter Schwerpunkt der Handlung sind zahlreiche Geschehnisse, die mit den genossenschaftlichen Versuchen und dem seitdem anhaltenden Protest des Kaziken Jum zusammenhängen.

Es fasziniert, wie plastisch im Verlauf des Ganzen die Figuren werden, wenn man bedenkt, wie wenig Raum auf dem Papier das relativ große Ensemble etwa im Vergleich mit einem traditionellen Roman mit kleinem Hauptensemble wie „Der Zauberberg“ haben. Die Figuren hier werden natürlich auf ganz andere Weise plastisch als in einem solch klassischen Roman, nämlich im weit ausgreifenden Kontext mit anderen Figuren und ihrem Umfeld sowie durch die produktive Opposition mit sich selbst, in die sie durch die parallel geführten Zeitlinien gesetzt werden. Natürlich gelingt das Lebendigmachen auch durch die hohe sprachliche Dichte, das Filtern der Perspektive durch das wechselnde Bewusstsein verschiedener Figuren und die damit oft einhergehende, oft auch derbe, Mündlichkeit. Vorsicht: Keine Figur eignet sich als Held oder Identifikationsfigur, eigentlich sind fast alle Figuren nüchtern betrachtet relativ schrecklich. Der Lotse Nieves, der Lalita vor Fushia „rettet“, mag sicherlich die bessere Wahl sein, ein Macho ist er dennoch, wenn auch ein milder; und herablassend gegenüber indigenen Menschen. Überhaupt sind alle weißen Figuren des Romans bis zu einem gewissen Grad rassistisch gegenüber den Indigenen eingestellt, selbst diejenigen, die enge Beziehungen pflegen. Fast alle Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind von psychischer oder körperlicher Gewalt geprägt. Und der so harmlos wirkende Bordellbesitzer Don Anselmo, den die Mangaches (die Einwohner der Mangacheria) verehren, hat ein besonders finsteres Geheimnis. Überhaupt steht ein Ideal von Mannhaftigkeit, steht verletzte Männlichkeit hinter vielen der Verhängnisse, die sich im Laufe des Romans entfalten. Wenn es Figuren gibt, die zumindest nicht aktiv anderen Menschen schaden, dann sind es die drei zentralen Frauen im Text, Lalita, Bonifacia und die Chunga, die Besitzerin des zweiten Grünen Hauses, deren geheimnisvolle Herkunft ihr beim Lesen gern selbst ergründen dürft. Diese drei zeigen auch am ehesten noch eine bedingt positive Perspektive auf, die aus dem Verhängnis von Machismo und gekränktem Machtanspruch herausweisen könnte, ob im Stoizismus der Chunga, die ja letztlich doch Empathie kennt, oder in der Rolle, die Bonifacia sich schließlich positiv deutet. Vielleicht gibt es auch Hoffnung für die folgende Generation, wir wissen zu wenig über die Beziehung von Aquilino (der junge, benannt nach dem alten), dem Sohn von Lalita, um das endgültig sagen zu können, doch zumindest die Möglichkeit wird angedeutet. Menschlichkeit lässt der Roman aber auch immer wieder in seinen zeitweise sehr schlecht handelnden Figuren aufscheinen. Fushia und Aquilino etwa scheinen durch eine echte tiefe Freundschaft verbunden, die sich über Jahrzehnte bewährt hat, und gegen Ende springt eine Figur über ihren Schatten, die sich zuvor aus durchaus gerechtem Zorn lange gegen eine andere Figur abgeschirmt hat. Hochgradig ambivalent bleibt das Verhältnis des Textes zum Fortschritt. Zum Schluss wird deutlich: Technisierung und gesellschaftliche Veränderung werden höchstwahrscheinlich viel von dem, was im Roman vorgestellt wurde, unter anderem auch die Mangacheria, irgendwann überwältigen. Nicht weiter schlimm, könnte man denken, immerhin ist das objektiv betrachtet nicht gerade ein schöner Ort, aber der Lokalpatriotismus seiner Bewohner ist echt, hier hat man nicht viel anderes als dieses in der Armut zusammenstehende „Wir“, aus dem so viele repressive Strukturen erwachsen, aber auch ein Lebensgefühl, auf das die Bewohner stolz sind, und der Fortschritt hat, das hat Llosa in seinen späteren Texten auch immer wieder gezeigt, nun mal die Eigenschaft, gerade über die Schwächsten erbarmungslos fortzuschreiten. Der Roman lässt es also durchaus zweifelhaft erscheinen, dass etwas Besseres folgt, und wer „Gespräch in der Kathedrale“, den großen folgenden Roman über die Odriadiktatur, kennt, wird mitzweifeln. Die Vorurteile und vielfältigen Ausschlüsse bleiben, doch die Diktatur nimmt dazu noch die Freiheit, die Luft zum Atmen.

Auch wenn in kaum einem Roman so viele unsympathische Figuren auftreten dürften wie in „Das grüne Haus“, insbesondere bezüglich ihrer Vorurteile gegenüber der indigenen Bevölkerung, ragt „Das grüne Haus“ aus der Literatur des lateinamerikanischen Boom besonders dadurch hervor, dass die indigene Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt und ein genauer Blick gelenkt wird auf Methoden der Ausbeutung, auf Willkürherrschaft und auch die Fraglichkeit selbst positiv gemeinter Projekte wie in diesem Fall der Missionsstation. Denn diese raubt ja nicht nur junge Frauen, um sie zu Christinnen zu erziehen, sondern ist auch letztlich sehr bereit, wenn die Erziehung nicht perfekt verläuft, diese Frauen dann in Haushalte abzugeben, von denen sie weiß, dass sie dort zwar offiziell als Dienstmädchen, oft genug aber als Konkubinen beschäftigt werden. Ein interessanter Aspekt: „Das grüne Haus“ spielt, wie man anhand von ganz wenigen Dingen erkennen kann, etwa von den 1920er Jahren bis in die 1960er, und lässt sich daher mit „Gespräch in der Kathedrale“ zu einem großen zeitlichen Komplex zusammenfügen, der dann sowohl das Amazonasbecken als auch die Provinz und die Hauptstadt abdeckt. Gefühlt scheinen allerdings Jahrhunderte zwischen den Texten zu liegen, gerade das Geschehen in der Selva hat viel von einer Wildwest-Dystopie im Dschungel. Moderne Technik kommt kaum vor, höchstens mal ein Holzboot mit Motor. Die modernste Idee ist die der Genossenschaft, die natürlich niedergeschlagen wird. Aber selbst in der großen Provinzstadt Piura werden Dinge wie Telefone nicht erwähnt, Autos erst ganz zum Schluss und von der großen Welt wirkt dieses provinzielle Peru ähnlich abgekapselt wie Marquez‘ Macondo aus „100 Jahre Einsamkeit“.

Manche Lesende dürften sich schließlich die Frage stellen: Warum das Aufbrechen der Zeiten? Warum nicht einfach chronologisch erzählen, warum diese parallelen Erzählstränge und so weiter und so fort? Die einfache und ästhetische Antwort darauf: Weil es funktioniert, weil so ein großes, vielschichtiges, in keinem seiner Momente langweiliges Werk entsteht. Es kommt ja auch keiner auf die Idee, der Apassionata vorzurechnen, man könnte all diese Töne aber auch schön geordnet hintereinander abspielen, von den tiefsten zu den höchsten. Oder der Jupiter-Symphonie, sie würde doch deutlich übersichtlicher klingen, würden die verdammten Instrumente nicht ständig gleichzeitig spielen. Hat jemals jemand von Kandinsky verlangt, das mit dem Farbchaos zu unterlassen, wo man die Farben doch auch leicht von hell nach dunkel sortiert auf der Leinwand aufbringen könnte?

Einige der literarischen Effekte sind weiter oben schon angeklungen. Die Figuren und Handlungen werden auf diese Weise eben nicht wie in einer klassischen bürgerlichen Erzählung von Anfang bis Ende aufgezählt, mit Figuren, die oft seltsam isoliert in einer Welt zu stehen scheinen, die sie nur hier und da momentan vielleicht einmal ein wenig betrifft, sondern sie treten uns in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vor Augen, so dass gerade die Verbindungen durch Zeit und Raum herausgestellt werden und wir zum Vergleichen und zum Nachvollziehen der kleinen Details, der Veränderungen und des Gleichen aus unterschiedlicher Perspektive gezwungen werden.

Das führt zugleich dann auch zu einem Reiz, der dem klassischen Detektivroman nicht unähnlich ist, nur dass man sich als Detektiv der sozialen Verhältnisse bemüßigt fühlt. Wir spüren den Figuren nach, setzen uns akribisch und aktiv das Bild zusammen, das letztendlich die Verhältnisse des Romans ausmacht, und haben statt zum Schluss einen „Aha, das war also der Mörder“-Moment, unzählige Momente, in denen uns selbst ein Licht aufgeht und wir tieferes Verständnis über die Handlung gewinnen. Nicht zuletzt führt uns der Roman durch seine Komposition auch deutlich aktiver vor Augen, wie sehr sich Menschen verändern können, inwieweit sie oft doch in den Grundzügen gleich bleiben, und welche krassen Unterschiede das Verhalten je nach Milieu plötzlich aufweisen kann. Ich habe in der Vergangenheit Kritiken gelesen, die „Das grüne Haus“ etwa vorwerfen, dass der Sargento aus dem Urwald doch kaum die gleiche Figur wäre wie Lituma in Piura. Es ist schon eine große Kunst, ausgerechnet das nicht zu verstehen: Natürlich ist das so. In der Selva ist Lituma vor allem eine Autoritätsperson, zugleich aber in das Machtgeflecht der Guardia eingebunden, mit realen oder eingebildeten Bedrohungen konfrontiert und dabei als Mensch relativ isoliert, ist unter Kameraden, aber kaum unter Freunden. Er ist in dem rohen Umfeld als Städter zudem sogar eine vergleichsweise sensible Figur. In Piura dagegen ist er als junger Mann ebenso wie zehn Jahre später Teil seiner Säufer-Macho-Truppe, ein „Unbezwingbarer“. Gerade seine Erlebnisse in der Selva machen ihn dann noch unerbittlicher als die Kameraden.

Nun denn, genug geschrieben. „Das grüne Haus“ ist einer der wenigen echt polyphonen Romane, die formal ohne größere Schwächen sind, und es ist ein Text, den man vor allem lesen muss. Llosa hat das Kompositionsprinzip dann mit „Gespräch in der Kathedrale“ im Großstadtsetting von Lima unter der Odria-Diktatur noch einmal verschärft, und danach sein Projekt des totalen Romans aufgegeben. Wie ich bereits in meinen früheren Rezensionen zu späteren Texten sagte: nicht aus Gründen des Scheiterns, sondern aus Gründen des Erfolgs. Es war sicher richtig, das Ganze nicht zum Schema erstarren zu lassen. „Das grüne Haus“ ist von beiden der etwas zugänglichere Text, und der, den ich etwas öfter gelesen haben dürfte. „Gespräch in der Kathedrale“ ist der noch etwas beeindruckendere.

Bild: Pixabay.

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