Endlich: Der große Essay über all die Gründe, die „Der Zauberberg“ so stark machen.

Kürzlich fiel mir auf, dass ich nach über 1000 Blogartikel noch immer nichts Ausführlicheres über Thomas Manns „Zauberberg“ geschrieben habe. Nur diese kleine Bemerkung zur etwas nachlässigen Reihenstruktur, mit der die drei großen Figuren eingeführt werden, die Einfluss nehmen auf das Leben von Hans Castorp im Sanatorium. Das ist natürlich viel zu wenig und wird mit der kritischen Stoßrichtung einem Roman nicht gerecht, der für mich persönlich einer der ersten großen literarischen Texte war, die mich nach der Schule langfristig begeistert haben und der auch als einer der herausragenden Texte seiner Zeit und der modernen Literatur gelten muss. Denn die strukturelle Schwäche wiegen unzähliger Stärken im Stil, in der Darstellung der Figuren, in der Atmosphäre und nicht zuletzt in der geistigen Breite und Tiefe des Werkes, vielfach auf. Ich möchte hier keine umfassende Analyse dieses so oft analysierten Textes liefern. Ich denke, für viele Themenkomplexe könnt ihr die Wikipedia als Ausgangspunkt nehmen und die dort verlinkten Artikel studieren. Stattdessen möchte ich vor allem einige Stärken herausarbeiten und dabei auf meine unterschiedlichen Leseerfahrungen zu unterschiedlichen Lebenszeiten reflektieren.

Was ist das für ein Roman?

Denn als ich den Zauberberg zum ersten Mal zur Hand nahm, habe ich doch etwas ganz anderes erwartet. Das war in einer Zeit, als ich gerade angefangen hatte, Literatur zu studieren und durchaus noch sehr skeptisch war gegenüber Thomas Mann, da die Buddenbrooks in meiner Schulzeit ein hochanstrengender Text waren. Durchaus, wie ich heute weiß, ein herausragender Roman, strukturell sicher gelungener als der Zauberberg, aber in seiner Wohlabgewägtheit, mit seinem unspektakulären Thema, definitiv kein Schultext, definitiv kein Einstiegstext in Thomas Mann. Das Internet war damals noch nicht meine regelmäßige Heimat, über Bücher wurde noch mehr geflüstert, und vom Zauberberg hatte ich das ein oder andere über Krankheit gehört, das ein oder andere über Anklänge an den Walpurgisnachtstraum aus dem ersten „Faust“, über geradezu fantastische Geschehnisse. Und dann ist da natürlich noch der Titel: „Der Zauberberg“. Ich habe nicht gerade Fantasy erwartet, aber ich denke schon etwas, in dem, anschließend an den „Faust“ innerhalb einer morbiden Grundstimmung magische Momente vorkommen, vielleicht in der Art des lateinamerikanischen magischen Realismus, den ich ungefähr parallel kennengelernt haben dürfte. Nun gibt es, anders als im späteren „Doktor Faustus“, im „Zauberberg“ keinen einzigen genuin-fantastischen Moment, und doch dürfte dieser Roman so viel genuiner fantastisch sein als fast alle Fantasy, Mainstream oder auch abseitigere. Darin nämlich, eine ungewöhnliche, fremdartige Welt vorzustellen, die die Lesenden tatsächlich dazu zwingt, sich mit einem Denken und Handeln auseinanderzusetzen, das dem eigenen oft fern liegt. Das in so vielen Weisen fernliegend scheint und zugleich doch viele Einblicke erlaubt in die Welt und die Zeit des Zauberberg abseits eben dieses Zauberberg. Ich versuche auf den Punkt zu bringen, was für ein Roman der „Zauberberg“ ist, um mich später nicht mit längeren Inhaltsdiskussionen rumschlagen zu müssen.

Der „Zauberberg“ ist einerseits ein Bildungsroman über eine Figur, der Krankheit und dadurch bedingtes Exil eine Art Freiraum eröffnet, in dem diese Figur wachsen kann. Dieser Freiraum ist allerdings kein Ort, an dem Hans Castorp vor unangenehmen oder gar schmerzhaften Gedanken und Ideen geschützt wird, sondern im Gegenteil einer, an dem er sich gerade mit solchen auseinandersetzen muss oder zumindest kann. Dass er das kann, was er wahrscheinlich im praktischen Leben, das er ursprünglich angestrebt hat (Castorp hätte eigentlich Schiffsingenieur werden sollen), nicht gekonnt hätte, wird bedingt durch die Absolutheit, mit der die Bewohner des „Zauberberg“ genannten Lungen-Sanatoriums gerade aller praktischen Tätigkeit enthoben sind. Man kann freier mit Gedanken spielen, wenn diese, zumindest auf den ersten und zweiten Blick, keine Konsequenzen haben. Allerdings kann die Praxis nicht dauerhaft außen vor bleiben, und so lässt Thomas Mann die Zumutungen der weltpolitischen Zusammenhänge immer mal wieder in diese scheinbare Idylle durchschlagen, und schließlich kassiert die Idylle der Erste Weltkrieg. Ob der Protagonist stirbt oder tatsächlich nur unseren Blicken verloren geht, bleibt offen. Hier streicht aber nicht einfach die böse Welt die schöne Utopie durch. Sondern auch vom Extrem des „Zauberberg“ aus deutet sich an, dass Ideen sich noch an der Praxis erweisen müssen. Für Hans Castorp schlägt das Schicksal radikal um, aber ob die auf dem „Zauberberg“ gepflanzten Keime nicht irgendwann später doch wachsen können, bleibt bewusst offen. Und wenn auch nicht im Protagonisten, dessen weiteres Schicksal wir nicht kennen, dann doch, idealerweise, in uns, die wir nun die gleiche Reise quasi mitgemacht haben, ohne direkt darauf in den Krieg ziehen zu müssen, wenn auch, sicherlich, in manche Kämpfe. So kann im Schlusswort des Erzählers an seinen Protagonisten, das sich für Castorp eher wenig hoffnungsvoll ausnimmt, für uns doch ein hoffnungsvolles Ideal aufscheinen:

“Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen. Abenteuer im Fleische und Geist, die deine Einfachheit steigerten, ließen dich im Geist überleben, was du im Fleische wohl kaum überleben sollst. Augenblicke kamen, wo dir aus Tod und Körperunzucht ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs. Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?”

Andererseits ist der „Zauberberg“ etwas, das ich ein episches Kammerspiel nennen möchte, über politische und ideologische sowie philosophische Konflikte in der Hinführung auf den Ersten Weltkrieg. Hier trifft eine stark idealisierte Aufklärung in Gestalt von Settembrini mit Naphtas jesuitischem Kommunismus zusammen, wird schließlich überwältigt von Peeperkorns romantischer Begeisterung, die in dieser Figur aber noch nicht aggressiv auftritt, ehe die große Gereiztheit die bis dahin relativ harmonisch miteinander existierenden Nationen im Sanatorium erfasst. Eine sehr stark aufgebaute Parabel, die sich nur in der Zusammenfassung überhaupt parabelhaft liest, und sonst wie so vieles in diesem Roman sich vor allem hintergründig durch die Handlung aufbaut und zwischen den Zeilen herausgeklaubt werden muss.

Verbunden mit beiden Komplexen ist der Text vielleicht zuletzt auch noch eine poly-/dialogische Meditation über den Status der Krankheit im sozialen Gefüge oder vielleicht breiter gesprochen des Außen Stehens im sozial-metaphysischen Gefüge, mit Blick etwa auf die verbreitete Vorstellung, Krankheit oder generelle Non-Konformität sei ein Schaden an der Gesellschaft und vielleicht auch an Gottes Plan. Dagegen steht die Idee, die Mann unter anderem von Nietzsche gehabt haben könnte, dass es zugleich oft auch die „Kranken“ non-konformen Figuren sind, die ein soziales Gefüge oder auch das Geschick der Menschheit gerade aufgrund anderer Standpunkte und einem anderen Blick auf die Welt überhaupt erst in größeren Schritten voranbringen.

Die Atmosphäre und das dichte Geflecht der Motive

Was den Zauberberg in all diesen Bereichen so unglaublich stark macht, zeigt sich schon auf den ersten Seiten mit aller Gewalt: Die Art und Weise, in der wir mit Hans Castorp diese Welt von Davos und dem Berghof entdecken, die atmosphärische Plastizität, mit der diese Welt gestaltet ist, dürfte bis heute im Roman ihresgleichen suchen. All die kleinen Details, die alle Bedeutung tragen und in Zukunft weitere Bedeutung entwickeln werden. Die Art, wie, ganz im Gegensatz zu Thomas Manns schon immer falschem Ruf als besonders zurückgelehnt auktorial erzählender Autor, alles in Beobachtungen und vor allem im Dialog entwickelt wird. Die Art, wie diese Details von Anfang an die Fremdheit des Berghof für Castorp herausstellen – nennen wir nur einige: Im Gespräch über die scheinbar so geringe Höhe der Berge wird der Wechsel in der Perspektive von unten nach oben eingeführt. In ersten Gesprächen über die Zeit des Aufenthalts und die Perspektive auf Genesung werden Castrops Erwartungen zugleich als Ideen von unten abqualifiziert. Castorp derweil ist bald geschockt über seines Vetters zynisches Sprechen über den Tod, das jenem dagegen doch ganz normal erscheint. Bald zieht es uns tiefer in die Berghofwelt. Dort sind all die kleinen sprachlichen Besonderheiten – die Bedienungen heißen Saaltöchter, und der Saal hat eine ganz spezifische Ordnung u.a. mit dem „Guten“ und dem „Schlechten Russentisch“, was bis zum großen Finale einer wechselnden und letztlich ansteigenden Relevanz unterliegt, einschließlich der momentan utopisch wirkenden Auflösung der Grenzen vor dem Zerfall in der großen Gereiztheit. Man hält Liegekur, und Castorp übernimmt bald Settembrinis witziges Sprechen darüber als Existieren “in horizontaler Weise”. Überhaupt hat die gesamte Berghofwelt ihren eigenen gemeinsamen Jargon, während zugleich jede einzelne, zumindest aber jede einzelne wichtige Figur zusätzlich ihre ganz eigenen, dazu durchaus passenden Sprechweisen hat, die sie aber doch noch einmal als Individuum markieren. Da ist Frau Stöhr mit ihren herrlichen Versprechern, da ist Settembrini mit seinem gewaltigen Klassizismus und den italienischen Einsprengseln, wenn er emotional wird, da ist Hofrat Behrens mit seinem deutlich gemütlicheren ebensolchen Klassizismus. Settembrini etwa bezeichnet Krokowski und Behrens als Minos und Radamantis. Behrens dagegen macht den tatsächlich wohlklingenden Vorschlag, Monate in Zukunft nach alter Sitte als „Manote“ zu bezeichnen. Wenn er glaubt, dass Castorp krank sein könnte, nennt er das „aufs Kalbsfell schwören“, und immer lässt er sich zugleich auf die Gedankenwelt seiner Patienten ein, indem er seine Redeweise etwa Ziemsens militärischer anpasst. Eine Figur, „Tous les Deux“, die in keiner Sprache, die auf dem Berghof gesprochen wird, mehr als diese drei Worte beherrscht, wird allein durch diese drei Worte zu einer Gewalt für die Lesenden, dank der Geschichte, die damit verknüpft ist – dem sukzessiven Verlust beider Söhne im Berghof.
Von der Sprechweise, mit der eine Denkweise verknüpft ist, bis zum Einhalten der Liegekur und der Technik, wie man eine Decke umschlägt: Es dauert gar nicht so lange, bis Hans Castorp, noch nicht als krank diagnostiziert, sich schon so halb als Teil dieser Berghofwelt verhält. Während er gleichzeitig noch immer sein altes Leben, das er noch für sein wahres hält, mit diesem Leben kontrastiert, und derweil wird behutsam aufgebaut, dass Castorp sich nicht so richtig gut fühlt – von der Zigarre, die nicht schmeckt, Maria Mancini, eines von mehreren durchgehenden Leitmotiven, bis zum schicksalhaften Moment, als er sich breitschlagen lässt, Fieber zu messen und schließlich von Behrens ein Leiden diagnostiziert bekommt. Und wie auch dieser Weg vom Gesunden zum Kranken anschwellend aufgebaut wird und zugleich vor allem von Seiten Settembrinis durchaus vorausgedeutet wird, dass das alles Unsinn sein könnte, dass der Berghof, der Zauberberg eben, diese Eigenschaft haben könnte, sich Gäste einzuverleiben, bei jedem Anzeichen von Krankheit zu finden! Ja, Settembrini beschwört Castorp geradezu, zu fliehen. Später wird dann bekanntlich der Onkel Konsul Tienappel, dem beinahe schon das gleiche Schicksal droht, der beinahe in die Fänge Radamants gerät, eine solche überhastete Flucht vornehmen, und es schadet ihm nicht. Und natürlich ist da das Knallen der Türen, das uns zum ersten Mal Madame Chauchat ankündigt, und deren Lockerheit bezüglich Konventionen uns in der Folge ihre erste, natürlich sehr unvollständige Charakterisierung liefert. Von Chauchats wachsender Bedeutung muss ich hier wahrscheinlich nicht viel mehr sagen.
Man könnte tatsächlich noch zahlreiche weitere Seiten füllen allein mit dem, was man die erweiterte Exposition nennen kann, und der überwältigenden Stärke ihres Aufbaus und wie alles weitere folgerichtig entwickelt wird. Aber ich denke, für die Zwecke dieses Artikels reicht es. Gerade in seiner Einführung, aber eigentlich durch den ganzen Text hindurch, profitiert der Roman dabei davon, dass er in der Fremdheit des Berghof an zumindest einstmals relativ allgemeine Erfahrungen anschließen kann. Denn dieses Entdecken einer fremden Welt, das Heimischwerden mit den Örtlichkeiten und Gepflogenheiten, in denen man sich mehr und mehr zu Hause fühlt, aber doch nicht komplett zu Hause ist, das dürften viele Leserinnen und Leser etwa noch von Klassenreisen und Schullandheime kennen, oder später vielleicht vom Urlaub in Hotelanlagen oder auf Campingplätzen.
Vor allem: Der Roman hält die Plastizität fast über die ganze Strecke aufrecht, in den Figuren, in der Art und Weise, wie sie auftreten, in ihren sprachlichen Besonderheiten, in der Atmosphäre der Szenerie, in den immer wieder berauschenden oder befremdlichen Szenen, von denen ich nur noch wenige herausgreifen möchte, etwa den Maskenball, auf dem Castorp zum ersten Mal mit Madame Chauchat in Kontakt kommt und den Settembrini mit allerlei Faust-Zitaten anreichert. Dann den Besuch in Naphtas Haus und das „Große Kolloqium über die Krankheit. Später die Sceance, in der Castorp versucht, den Geist seines mittlerweile verstorbenen Vetters zu beschwören, oder noch später Naphtas und Settembrinis Duell. Dass das gelingt, ist bemerkenswert, denn nicht wenige Romane sind gut darin, erst einmal eine starke Atmosphäre, eine plastische Welt aufzubauen, vergessen das mit der Zeit aber aufrecht zu erhalten, weil Handlung vorangetrieben werden muss. Ganz besonders gilt das für Texte, die ähnlich wie der Zauberberg Ideen verhandeln, und kaum ein Text verhandelt Ideen so breit und so tief wie der Zauberberg. Gelänge hier die Balance nicht, der Roman wäre am Ende bloß noch ein schwacher didaktischer Text, den man kaum ertragen könnte. Aber es gelingt, vielleicht sogar noch einen Ticken besser, zumindest aber auf Augenhöhe mit, Dostojewskis großen Romanen. Nicht verschweigen möchte ich allerdings, dass die Bleistiftszene, vielmehr das Bleistiftmotiv, das sich während des Maskenballs verwirklicht, auf mich immer etwas gezwungen gewirkt hat, und das wird nicht besser mit mehrfachem Lesen bzw. Hören. Castorp fühlt sich bekanntlich durch Madame Chauchat an den jungen Przibislav Hippe erinnert, für den er in der Schule eine Faszination hegte, und mit dem kam er damals dadurch in Kontakt, dass er sich bei ihm einen Bleistift geliehen hat. Während des Maskenballs nimmt Castorp nun genau auf die gleiche Weise mit Madame Chauchat Kontakt auf. Und das steckt in dem Roman, durch den die Motive sonst mit solcher Leichtigkeit gefühlt wirken, etwas quer, hier sieht man etwas sehr viel vom Autor hinter dem Erzähler, der einen Moment vorbereitet und ihn dann mit aller Gewalt und zur Durchführung bringt.

Die zweite ungeheure Kraft, die den Roman trägt, sind seine Figuren. Ich glaube nicht, dass ich in einem anderen Text jemals solch glaubhaft wirkende, geradezu aus den Seiten tretende Figuren erlebt habe wie Settembrini, Peeperkorn, Clawdia Chauchat, den Hofrat, Krokowski und das große Ensemble an Nebenfiguren. Ja, man könnte das Gefühl bekommen, dass sie die Hauptfigur manchmal erdrücken, aber das ist durchaus beabsichtigt. Hans Castorp soll ja ein relativ unbeschriebenes Blatt sein und gleichzeitig als relativ ungeformt auftreten, um den Lesenden breit als Begleiter durch den Roman, vielleicht gar als Identifikationsfläche, dienen zu können. Es würde wahrscheinlich den Rahmen sprengen, auszuführen, wie wir all den Figuren zuallererst begegnen. Aber jede hat eine starke Meinung oder Idee zu präsentieren, tritt, wie Settembrini als wortgewaltiger aufklärerischer Drehorgelmann, der gleich einmal die Musik als politisch verdächtig erklärt, in einer Weise in die Handlung, die sie zugleich sofort greifbar macht, aber auch spüren lässt: Da ist noch vieles mehr zu entdecken, und manche Wendung lauert. Ich werde zumindest später die drei “Lehrer” Settembrini, Naphta und Peeperkorn noch einmal genauer betrachten.

All die Ebenen, auf denen Zeit verhandelt wird

Ein großes Thema des Zauberberg, das oft herausgestellt wird, ist der Diskurs über die Zeit und besonders der über Erzählzeit und erzählte Zeit. Das kriegt man oft in verschiedenen Literaturstudiengängen im ersten Semester vorgelegt, doch läuft man so zugleich Gefahr, sich den Roman auf auktoriales Dozieren reduzieren zu lassen. Aber Thomas Mann führt auch dieses Thema mit großer Subtilität ein und dann in verschiedenen Intensitäten, für gewöhnlich eng mit der weiteren Handlung verknüpft, durch. Erste Diskussionen führen Castorp und Ziemsen sehr früh. Da hat noch jener ganz andere Erwartungen an die Länge der Therapie seines Vetters, als dieser, der schon den Begriffen „von oben“ folgt. Etwas später geht es um Schnee, der sich ankündigt, und die Unverlässlichkeit der Jahreszeiten dort oben. Immer wieder erschüttert Thomas Mann durch Erlebnisse von Castorp unsere gewohnte Zeitwahrnehmung und lässt Castorp ins Philosophieren kommen, etwa darüber, wie eng Kurzweiligkeit und Langeweile beieinander liegen können:

“»Und wie haben Sie also Ihren Tag verbracht, – den ersten Ihres Aufenthaltes an diesem
Lustorte?« »Ich danke sehr. Ganz vorschriftsmäßig«, antwortete Hans Castorp. »Vorwiegend auf ›horizontale Art‹, wie Sie es mit Vorliebe nennen sollen.« Settembrini lächelte. »Es mag sein, daß ich mich gelegentlich so ausgedrückt habe«, sagte er. »Nun, und Sie fanden sie kurzweilig,
diese Lebensweise?« »Kurzweilig und langweilig, wie Sie nun wollen«, erwiderte Hans Castorp. »Das ist zuweilen schwer zu unterscheiden, wissen Sie. Ich habe mich durchaus nicht gelangweilt, – dazu ist es doch ein allzu munterer Betrieb bei Ihnen hier oben. Man bekommt so viel Neues und Merkwürdiges zu hören und zu sehen . . . Und doch ist mir auch andererseits wieder, als ob ich nicht nur einen Tag, sondern schon längere Zeit hier wäre, – geradezu, als ob ich hier schon älter und klüger geworden wäre, so kommt es mir vor.«”

Genau das wird später dann vom Erzähler wieder aufgegriffen und in eine allgemeineren Reflexion über Zeiterfahrung überführt, die wiederum zugleich jene Gedanken über die Angemessenheit des Erzählens in verschiedenen Zeitdehnungen oder Raffungen enthält, ohne dass der Erzähler jemals Fachbegriffe benutzen würde. Viel mehr spricht er durchweg über das Erfahren von Zeit, als sei das Erzählen fast eine verlängerte Art des Erlebens und Erfahrens. In der Suche nach einer Rechtfertigung für das Erzählen in verschiedenen Geschwindigkeiten, dafür, dass die ersten sieben Wochen auf dem Berghof etwa viel ausgedehnter erzählt werden als die nächsten 7 Monate, und im Versuch, das in der menschlichen Zeiterfahrung zu begründen, ist Thomas Manns Roman übrigens durchaus modern, wie Mann überhaupt ein viel modernerer Autor ist, als man ihm gemeinhin zuschreibt. Das tatsächlich definierende Merkmal der Moderne ist das Streben nach einem aus sich selbst heraus begründete Kunstwerk, das sich nicht mehr leichtfertig auf Traditionen stützen kann, und genau ein solches ist der Zauberberg. Hier möchte ich auch darauf hinweisen, dass die besonders archaisch wirkende Wortwahl und Erzählweise besonders zu Beginn des Romans eben nicht einfach eine Schrulle von Thomas Mann ist, eine typische Eigenschaft seiner Texte. Die Buddenbrooks etwa steigen sehr „modern“ mit einem Dialog ein. Sondern sie ist Teil dieser besonderen Geschichte und ihrer besonderen Welt und eben der erzählerischen Entrücktheit, die die Entrücktheit dieser Welt auch im Stil transportiert. Es ist auch ein Spiel damit, dieses noch gar nicht lang Vergangene als besonders Vergangen, als absolut abgeschlossen zu behaupten, wie es der Erzähler relativ zu Beginn tut. Während wir dann doch mit jedem Wort, mit jedem Satz, anschwellend spüren: Im Gegenteil, das betrifft uns mehr und mehr, zum Schluss vielleicht: absolut.

Der Zauber der Krankheit, Magie und Wissenschaft

Ein weiteres Faszinosum ist die Art und Weise, wie auch das archaische Denken über Krankheit, verbunden mit teils modernsten Technologien und Ideen, uns in eine groteske Anderwelt zu überführen scheint. Da leugnet man einerseits etwa, dass Erkältungen in der Höhe überhaupt vorkommen können, dazu sei die Luft zu gut. Weiß aber gleichzeitig genau, dass es Erkältungen in dem Sinne gar nicht gibt, sondern man sich für Viren oder Bakterien aufnahmefähig gezeigt haben muss. Ein offenkundiger Widerspruch, denn Krankheitserreger gibt es auch in der Höhe, aber beides wird zugleich vehement vertreten. Dr. Krokowski ist mit seiner Psychoanalyse einerseits unglaublich modern, doch die Psychosomatik, die er vertritt, zugleich so radikal, alle Krankheit zu leugnen bzw. dadurch eigentlich jeden für krank zu erklären, dass seine Zirkel, die vor allem rund um die Liebe kreisen, durchaus wie ein archaischer Kultus wirken können – später driftet Krokowski dann tatsächlich ins Spiritistische. Archaisch ist überhaupt das gesamte Sanatoriumswesen, denn zu der Zeit, in der der Zauberberg spielt, beginnt die Behandlung mit Antibiotika rasche Fortschritte zu machen, und so ist Hans Castorps Schicksal der Welt gewissermaßen doppelt entrückt. Seiner praktischen Welt, aber auch der Welt der modernsten Medizin. Moderne Medizin wiederum kann aber zugleich wie Magie erscheinen, nicht weil man sie nicht durchblickt, sondern gerade weil man sie durchblickt. Im Wortsinne geschieht das beim Röntgen, das Hans Castorp wie eine Totenbeschwörung am lebenden Subjekt erlebt:

“Aber wenige Minuten später stand er selbst im Gewitter am Pranger, während Joachim, wieder geschlossenen Leibes, sich ankleidete. Abermals spähte der Hofrat durch die milchige Scheibe, diesmal in Hans Castorps Inneres, und aus seinen halblauten Äußerungen, abgerissenen Schimpfereien und Redensarten schien hervorzugehen, daß der Befund seinen Erwartungen entsprach. Er war dann noch so freundlich, zu erlauben, daß der Patient seine eigene Hand durch den Leuchtschirm betrachte, da er dringend darum gebeten hatte. Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist, und wovon auch er niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und tiarin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte: ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmückte, der bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen, so daß es frei wird und weiter geht an ein Fleisch, das es eine Weile wieder tragen kann. Mit den Augen jener Tienappelschen Vorfahrin erblickte er einen vertrauten Teil seines Körpers, durchschauenden, voraussehenden Augen, und zum erstenmal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde. Dazu machte er ein Gesicht, wie er es zu machen pflegte, wenn er Musik hörte, — ziemlich dumm, schläfrig und fromm, den Kopf halb offenen Mundes gegen die Schulter geneigt. Der Hofrat sagte: »Spukhaft, was? Ja, ein Einschlag von Spukhaftigkeit ist nicht zu verkennen!« Und dann tat er den Kräften Einhalt. Der Fußboden kam zur Ruhe, die Lichterscheinungen schwanden, das magische Fenster hüllte sich wieder in Dunkel. Das Deckenlicht ging an.”

Das spiegelt übrigens in intensiverer Weise eine Äußerung, die Castorp schon deutlich früher bezüglich des Herrenreiters gemacht hat:

„Während sie ihren Weg fortsetzten, sprach Hans Castorp angelegentlich über den Husten des Herrenreiters. »Du mußt bedenken «, sagte er, »daß ich dergleichen nie gehört habe, daß es
mir völlig neu ist, da macht es natürlich Eindruck auf mich. Es gibt so vielerlei Husten, trockenen und losen, und der lose ist eher noch vorteilhafter, wie man allgemein sagt, und besser, als
wenn man so bellt. Als ich in meiner Jugend (»in meiner Jugend « sagte er) Bräune hatte, da bellte ich wie ein Wolf, und sie waren alle froh, als es locker wurde, ich kann mich noch dran
erinnern. Aber so ein Husten, wie dieser, war noch nicht da, für mich wenigstens nicht, – das ist ja gar kein lebendiger Husten mehr. Er ist nicht trocken, aber lose kann man ihn auch nicht
nennen, das ist noch längst nicht das Wort. Es ist ja gerade, als ob man dabei in den Menschen hineinsähe, wie es da aussieht, – alles ein Matsch und Schlamm . . .«“

Der Kampf der Ideen

Was allerdings beim Zauberberg bei der Erstlektüre stärker als alles andere in Erinnerung bleiben dürfte, ist der Kampf der Ideen und wie Hans Castorp durch seine drei „Lehrmeister“ an das philosophische und politische Denken herangeführt wird. Was hier alles diskutiert und gedacht wird und welche Entwicklung dadurch genommen wird, wer an welcher Stelle recht haben könnte oder welches größere Recht zwischen den einzelnen Seiten aufscheint, dazu ließe sich sicher mehr als eine wohlabgewogene Monographie verfassen, und trotzdem könnte man mehr Schwierigkeiten haben, zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen, als unbedarfte Lesende glauben mögen. Ich skizziere kurz: Castorp, der als „praktischer Mensch“ „da unten“ nie wirklich große Gedanken gewälzt hat, wird von Settembrini zuerst mit einem klassischen Humanismus konfrontiert, der an die Verfeinerung des Menschengeschlechts durch Bildung und manche soziale Tat glaubt. Castorps Charakterisierung als praktischer Mensch ist dabei übrigens nicht einfache Wahrheit, sondern selbst Zuschreibung Settembrinis, die Castorp sich dann mal mehr, mal weniger überstülpt. Aus unserer Perspektive wird immer wieder deutlich, dass für einen jungen Mann und Ingenieur Castorp doch relativ viel klassische Bildung mitbringt und entsprechend von Anfang an aufnahmefähig war für all das Hochgeistige, womit er auf dem Zauberberg konfrontiert wird.

Settembrinis “Lehren” erschüttert der noch wortgewaltigere Naphta, dessen kraftvoller Katholizismus in Kombination mit der Hoffnung darauf, dass ausgerechnet der Kommunismus diesem den Weg bereiten wird, zwar niemals zu Castorps eigener Anschauung wird, diesem aber in vielen Dingen die Gewissheit nimmt, dass der Settembrini schon im Großen und Ganzen richtig auf die Welt blickt. Ein Gegenpol zum Geistigen bietet in dieser Zeit die Liebe zu Clawdia Chauchat, doch schließlich drängt sich ausgerechnet von deren Seite deren Liebhaber Peeperkorn ins Bild, dessen oft zusammenhangslose, in der Summe aber romantisch schwärmerische Begeisterung auch Castorp mitzureißen droht und darin sich, wenn auch noch ohne nach außen gerichtete Aggressivität, jene Schwärmerei ankündigt, die „da unten“ den Ersten Weltkrieg vorbereitet und „da oben“ die große Gereiztheit, die das spiegelt. Etwa in der Mitte von all dem aber verirrt sich Hans Castorp im Schnee und erlebt den berühmten Schneetraum, der gemeinhin als idealer Fluchtpunkt im Ganzen angesehen wird, als eine nach der Rettung nur wieder verschüttete Einsicht. Ich zitiere der Einfachheit aus Wikipedia:

“Während eines Skiausflugs im Hochgebirge, leichtfertig die Gefahr im „weißen Nichts“ der Schneelandschaft hinnehmend, gerät Hans Castorp in einen lebensbedrohlichen Schneesturm. Mit letzter Kraft kann er sich in den Windschatten eines Heuschobers retten und schläft, erschöpft von der ungewohnten Anstrengung, ein. Im Traum sieht er zunächst eine „wunderschöne Bucht am Südmeer“, mit „verständig-heiterer, schöner, junger Menschheit“, „Sonnen- und Meereskinder“, die einander „mit Freundlichkeit, Rücksicht, Ehrerbietung“ begegnen. Im Rücken dieser verklärten Szenerie spielt sich allerdings höchst Schauerliches ab: Zwei Hexen zerreißen und fressen über flackerndem Feuer ein kleines Kind. Halb erwacht und die beiden Traumbilder vergleichend, erkennt Hans Castorp, dass menschliche Form und Gesittung letztlich die Bewältigung des Grässlichen und Rohen in uns sind. Er beginnt nun nicht nur an seinen einseitigen Mentoren Settembrini und Naphta, sondern auch an den Gegensatzpaaren Tod/Leben, Krankheit/Gesundheit und Geist/Natur zu zweifeln. Der Mensch sei vornehmer als sie, und weil sie nur durch ihn existieren, sei er Herr über die Gegensätze. Aus Sympathie mit dem Menschengeschlecht beschließt Hans Castorp, das Wissen um den Tod zwar nicht zu verdrängen, aber fortan folgenden Leitsatz zu beherzigen: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Hans Castorp wird diese Maxime schon bald vergessen, nachdem er dem Schneesturm rechtzeitig entkommen ist. Tatsächlich ist das, was in diesem zentralen Kapitel zum Ausdruck kommt, vor allem Thomas Manns eigenes Credo.”

Settembrini und die dunkle Seite der Aufklärung

Da die Sympathien der Lesenden ebenso wie die Castorps wahrscheinlich die meiste Zeit auf der Seite Settembrinis liegen dürften, und Naphta für heutige Leser wahrscheinlich noch schwerer nachzuvollziehen sein sollte, als er es damals schon war, möchte ich mich hier vor allem darauf beschränken, diese dem Roman nicht gerecht werdende Haltung ein wenig zu hinterfragen. Settembrinis steht „uns“ nahe, weil sein Humanismus der ist, der auch heute noch von den meisten größeren Parteien, Kirchenverbänden und so weiter hochgehalten wird, weil er der ist, der auch meist noch in der Schule gelehrt wird. Allerdings erfährt ihn Hans Castorp, so sehr er davon lernt, so sehr er sein eigenes Denken weiterbringt, auch immer wieder als hohl, und das ist noch nicht einmal das Schlimmste daran. Es ist kein Zufall, dass Castorp Settembrini zu Beginn als Drehorgelmann und überhaupt als etwas windige Gestalt charakterisiert, dass er sich erst mit der Zeit von den Gesprächen und der Persönlichkeit einnehmen lässt. Keinesfalls erst mit dem Schneetraum, nicht einmal erst mit der Begegnung mit Naphta hat Castorp auch bei sich und im Gespräch mit dem Vetter einiges zu kritisieren, etwa Settembrinis herablassende Haltung gegenüber Krankheit und überhaupt die Verdrängung des Leides in der Welt, das nur als Objekt der Ausmerzung gesehen wird. Castorp allerdings geht weiter und fragt, ob diese Ausmerzung überhaupt letztendlich ein Gutes wäre. Von Castorp nicht kritisiert wird, wie in Settembrini immer wieder die dunklen Unterströme des aufklärerischen Denkens hervorbrechen, die Horkheimer und Adorno dann unter anderem in der Dialektik der Aufklärung analysieren. Die Ablehnung der Krankheit kann sich bei Settembrini fast bis zum Hass auf die Kranken steigern, verbunden ist das zudem mit einer generellen Lustfeindlichkeit bis hin zu einer Ablehnung des Körperlichen. Wenn der Körper dem Geist im Wege steht, umso schlimmer für den Körper, könnte man Settembrini formulieren lassen, und das ist durchaus paradox, nicht nur für sich allein, sondern vor allem, weil der Aufklärer später dem Jesuiten vorwirft, dessen Bevorzugung der Philosophie vor der Empirie sei geradezu in dieser Weie verrückt. Naphta allerdings bindet das ein in einen größeren Zusammenhang, den man durchaus auch so formulieren könnte: Allein, dass man Datenpunkte hat, heißt noch nicht, dass man das große Ganze begriffen hat (wobei sein großes Ganzes natürlich christlich ist). Man urteile selbst, wer hier hanebüchner argumentiert. Settembrini überhöht zudem in drastischer Weise westliches Denken und wirkt manchmal wie von einem regelrechten Hass auf alles „Asiatische“ und besonders Russland zerfressen. Und es ist leicht zu sehen, wie dieser Humanist, wäre er gesund genug, um in ein tätiges Amt zu geraten und in die Sphären der Macht aufzusteigen, letztendlich bei einem brutalen Sozialdarwinismus anlangen könnte. Zugleich hat Settembrini etwas zutiefst Lächerliches. Sein großes Projekt, mit dem die Leiden in der Welt ausgemerzt werden sollen, ist eine Enzyklopädie. Nach dem Motto, wenn man es erst einmal alles zusammengestellt hat, wird sich leicht ein Weg finden, es abzuschaffen. Der Typ schwätzt ständig von der Errettung und Verfeinerung des Menschengeschlechts, aber alles, was ihm dazu einfällt, ist, ein Buch zu schreiben.

Naphta und eine ganz andere Denkungsart

Naphta dagegen ist von Anfang an brutal. Der Mensch, aber insbesondere die derzeitige Jugend, wünsche sich nicht Freiheit, sondern etwas Größerem gehorsam zu sein. Was die derzeitigen jungen Bewegungen hervorbringen würden, sei auch nicht die Freiheit, sondern der Terror, eine notwendige Durchgangsstation, hier paraphrasiere ich nun stärker, auf dem Weg hin zum Reich Gottes, das auch nicht einfach ein zuckeriges Wolkenkuckucksheim sei, sondern die Akzeptanz des Ganzen vom Schönsten bis ins Schrecklichste. Naphta schießt dabei Hans Castorp unter anderem das Mittelalter philosophisch-ästhetisch auf, das Settembrini durchweg verworfen hat, zeigt ihm etwa die Erhabenheit einer hochmittelalterlichen Gottesmutter, einer Pieta, die Schönheit, die darin gerade im Leiden eingefangen wurde. Und man kommt ja zumindest in den Sphären der Kunst nicht darum herum – wie arm wäre die Kunst, hätte sie nicht zwischen klassischer Periode und Renaissance, wenn auch hier und da die Arbeit an der Perfektion der reinen Form vernachlässigt wurde, gelernt, den Menschen in seinen emotionalen Zuständen stärker zu fassen. Auffällig ist derweil, wie stark sich Settembrini gegen Naphta als freundlicher Humanist stellt, plötzlich all die Grausamkeiten angreift, mit denen man laut Naphta zu leben hätte, die man teils sogar erst einmal zu befördern hätte. Im Gespräch mit Castorp dagegen hat der Humanist, wie oben bereits ausgeführt, selbst oft durchaus brutal geklungen. Naphta macht gegen den Humanismus genau dessen bekannte Verfehlungen stark, wenn er etwa die von Settembrini angegriffene Inquisition, die laut Naphta aus tatsächlicher Sorge um das Menschengeschlecht brutal sei, gegen die französische Revolution stellt, in der letztlich die Brutalität sich komplett verselbstständigt habe:

„In deren Dienst dagegen«, äußerte Naphta, »arbeitete die Maschinerie, mit der der Konvent die Welt von schlechten Bürgern reinigte. Alle Kirchenstrafen, auch der Scheiterhaufen, auch die Exkommunikation, wurden verhängt, um die Seele vor ewi-502 ger Verdammnis zu retten, was man von der Vertilgungslust der Jakobiner nicht sagen kann. Ich erlaube mir, zu bemerken, daß jede Pein- und Blutjustiz, die nicht dem Glauben an ein Jenseits entspringt, viehischer Unsinn ist. Und was die Entwürdigung des Menschen betrifft, so fällt ihre Geschichte exakt mit der des bürgerlichen Geistes zusammen. Renaissance, Aufklärung und die Naturwissenschaft und Ökonomistik des neunzehnten Jahrhunderts haben nichts, aber auch nichts zu lehren unterlassen, was irgend tauglich schien, diese Entwürdigung zu fördern, angefangen mit der neuen Astronomie, die aus dem Zentrum des Alls, dem erlauchten Schauplatz, wo Gott und Teufel um den Besitz des beiderseits heiß begehrten Geschöpfes kämpften, einen gleichgültigen kleinen Wandelstern machte und der großartigen kosmischen Stellung des Menschen, auf der übrigens die Astrologie beruhte, vorderhand ein Ende bereitete.“

An anderer Stelle gelingt es Naphta recht geschickt, der Seite des Settembrini die Schuld an den Foltermethoden der kirchlichen Inquisition zuzuschreiben:

„…Zweitens war die Folter ein Ergebnis rationalen Fortschritts gewesen. Naphta war wohl nicht völlig bei Sinnen. Doch, er war es so ziemlich. Herr Settembrini war Schöngeist, und die mittelalterliche Geschichte des Rechtsganges war ihm offenbar im Augenblick nicht übersichtlich. Sie war in der Tat ein Prozess fortschreitender Rationalisierung, und zwar so, dass allmählich, auf Grund von Vernunfterwägungen, Gott aus der Rechtspflege ausgeschaltet worden war. Das Gottesgericht war gefallen, weil man hatte bemerken müssen, dass der Stärkere siegt, auch wenn er im Unrecht sei. Leute von der Art des Herrn Settembrini, Zweifler, Kritiker, hatten diese Wahrnehmung gemacht und es durchgesetzt, dass an die Stelle des alten naiven Rechtsganges der Inquisitionsprozess trat, welcher sich auf Gottes Eingreifen zugunsten der Wahrheit nicht länger verließ, sondern darauf abzielte, vom Angeklagten das Geständnis der Wahrheit zu erlangen. Keine Verurteilung ohne Geständnis, – man möge sich nur auch heute im Volke umhören: der Instinkt saß tief, die Beweiskette mochte noch so geschlossen sein, die Verurteilung wurde als illegitim empfunden, wenn das Geständnis fehlte. Wie es erwirken? Wie die Wahrheit über alle bloßen Anzeichen, allen bloßen Verdacht hinaus ermitteln? Wie einem Menschen, der sie verhehlte, verweigerte, ins Herz, ins Hirn blicken? War der Geist böswillig, so blieb nichts übrig, als sich an den Körper zu wenden, dem man beikommen konnte. Die Folter, als Mittel, das unentbehrliche Geständnis herbeizuführen, war vernunftgeboren. Wer aber den Geständnisprozess verlangt und eingeführt hatte, das war Herr Settembrini gewesen, und also war er auch Urheber der Folter.“

Eine Behauptung übrigens, an der mehr Wahres ist, als man sich zugestehen wird, wenn man dem verklärten Bild von Rationalität und Aufklärung folgt, das die Gesellschaft, die aus dieser hervorgegangen ist, von ihr gezeichnet hat. Zumal eben Aufklärung und Rationalismus, wie sie hier Naphta versteht, nicht einfach eine bestimmte Epoche der Menschheitsgeschichte sind, sondern eine Tendenz, die sich immer wieder vollzieht und die gewissermaßen im Bauch der Kirche, im Bauch der mittelalterlichen Gesellschaft, schon lange vor der Renaissance rumorte. Naphta allerdings könnte man nun vorwerfen, dass die Scholastik, die ja doch im Hintergrund vieler seiner Gedanken eine gewaltige Macht ist, selbst Teil einer solchen aufklärerischen Bewegung innerhalb der Kirche war, das Unterfangen, den Plan Gottes mit rationalen Begriffen nachzuvollziehen.

Doch wir wollen nicht abschweifen, nicht selbst Partei werden in den Diskursen des Zauberberg: Immer wieder wird deutlich, und das fasziniert Castorp so, dieser Mensch Naphta denkt in ganz anderen Zusammenhängen, größeren Räumen, längeren Zeitspannen. Selbst die schon sehr großzügige Bemessung von Zeit, die man auf den Berghof gewohnt ist, ist regelrecht klein dagegen. Wir für uns könnten konstatieren: Settembrini hat die richtigeren, die „erlaubteren“ Gedanken, auch die, die uns näher stehen. Vielleicht auch Gedanken, die, würde man ihre dunklen Unterströme einhegen, tatsächlich zur Verbesserung des Loses des Menschen beitragen können. Aber Naphta ist doch in vielen Dingen näher an der empirischen Realität der Gesellschaft seiner Zeit, urteilt vielleicht schonungsloser, als Settembrini, der uns doch gerade mit auf den Weg gegeben hat, schonungslos zu urteilen. Er sieht, was sich in der Zeit andeutet und durchdenkt das von der Warte seines zurückgezogenen Katholizismus, statt der Welt einen so offenkundig schon durchgestrichenen Traum entgegenzustellen. Settembrini belehrt, Naphta fasziniert, verführt, vielleicht, wenn auch nicht in angenehmer Weise – bezaubert.

Thomas Manns Kniff, die jesuitische Mission und die kommunistische Welle in dieser Figur zu vereinen, kann nur als genial bezeichnet werden. Zwar dürften solche Figuren in der Realität selten sein, und eine große christliche sozialistische Bewegung gab es später nur in Lateinamerika. Dennoch kristallisiert sich in dieser Perspektive einiges, das man als starke Vorausdeutung bezeichnen kann. Man bedenke, im Gegensatz zu „Les Thibaults“, das ich kürzlich besprochen habe, erschien der Zauberberg schon 1924. Er wusste also noch relativ wenig davon, wie der sowjetische Sozialismus selbst mit den Revolutionären aufräumen würde und im Personenkult quasi religiös erstarren. Selbst der spanische und der italienischen Faschismus, zwei tatsächlich unter anderem auch katholisch grundierte Jugendbewegungen, die genau wie von Naphta vorausgesagt den allumfassenden Terror brachten, der italienische sogar angeleitet vom früheren sozialistischen Revolutionär Mussolini, hatten damals gerade erst erste Schritte gemacht.

Die Tendenz zum Revolutionär-Autoritären der Zeit, die Art und Weise, wie das, was die Aufklärer und die bürgerlichen „Freiheit“ nennen, zusehends als Zumutung erfahren wird in einer Welt, in der das oft nur die Freiheit ist, zu verhungern oder sich zu verkaufen, das hat Thomas Mann in Naphta gut erfasst. Und gerade die kontrafaktische Kombination von Kommunismus und Katholizismus macht Naphta, der übrigens nach Georg Lukac gemodelt sein soll, dabei zu mehr als einer zeitgebundenen politisch-revolutionären Figur, die man bald vergessen würde, sondern zu einer überzeitlichen Gewalt, die, so wenig man sich mit ihm identifizieren kann, Lesende genau wie Castorp zutiefst beeindruckt, eine Figur, die man nicht mehr vergessen wird. Übrigens soll damit nicht gesagt sein, dass Settembrini ab dem Auftreten Naphtas überhaupt keine Stiche mehr macht, dass Castorp ihm keine Stärke in diesem Widerstreit zugesteht. Im Gegenteil, besonders überzeugend zeigt sich Settembrini phasenweise in jener vielstimmigen Debatte, die der Erzähler „Das große Kolloquium über den Tod und die Krankheit“ nennt. Und zum Schluss hin wird Naphta, auch nach seinen Begriffen, immer wahnhafter und irrationaler, so dass Castorp wiederum sehr negativ urteilt:

“Dieser Kranke besaß nicht die Kraft oder den guten Willen, sich über die Krankheit zu erheben, sondern sah die Welt in ihrem Bilde und Zeichen. Zum Ingrimm Herrn Settembrinis, der den lauschenden Zögling am liebsten aus dem Zimmer gewiesen oder ihm die Ohren zugehalten hätte, erklärte er die Materie für ein bei weitem zu schlechtes Material, um den Geist darin verwirklichen zu können. Dies anzustreben, sei eine Narrheit. Was komme dabei heraus? Eine Pratze! Das Wirklichkeitsergebnis der gepriesenen Französischen Revolution sei der kapitalistische Bourgeoisstaat – eine schöne Bescherung! Die man in der Weise zu verbessern hoffe, dass man den Greuel universal mache. Die Weltrepublik, das werde das Glück sein, sicher! Fortschritt? Ach, es handele sich um den berühmten Kranken, der beständig die Lage wechsele, weil er sich Erleichterung davon verspreche. Der uneingestandene, aber heimlich ganz allgemein verbreitete Wunsch nach Krieg sei davon ein Ausdruck. Er werde kommen, dieser Krieg, und das sei gut, obgleich er anderes zeitigen werde, als seine Veranstalter sich davon versprächen. Naphta verachtete den bürgerlichen Sicherheitsstaat. Er nahm Veranlassung, sich darüber zu äußern, als man im Herbst auf der Hauptstraße spazieren ging und bei beginnendem Regen plötzlich und wie auf Kommando alle Welt Regenschirme über die Köpfe hielt. Das war ihm ein Symbol für die Feigheit und ordinäre Verweichlichung, die das Ergebnis der Zivilisation seien. Ein Zwischenfall und Menetekel wie der Untergang des Dampfers »Titanic« wirke atavistisch, aber wahrhaft erquicklich. Danach großes Geschrei nach mehr Sicherheit des »Verkehrs«. Überhaupt immer die größte Empörung, sobald die »Sicherheit« bedroht scheine. Das sei jämmerlich und reime sich in seiner humanitären Schlaffheit recht artig auf die wölfische Krudität und Niedertracht des wirtschaftlichen Schlachtfeldes, das der Bürgerstaat darstelle. Krieg, Krieg! Er sei einverstanden, und die allgemeine Lüsternheit danach scheine ihm vergleichsweise ehrenwert.”

An anderer Stelle legt Castorp den Finger auf ein Problem der Argumentation Naphtas, das sich heute vermehrt wieder aufdrängt, da vermehrt ein Konzept vonWahrheit zugunsten sogenannter Narrative oder reiner Perspektive negiert wird.:

„Absoluter Befehl! Eiserne Bindung! Vergewaltigung! Gehorsam! Der Terror! Das mochte wohl seine Ehre haben, aber auf die kritische Würde des Einzelwesens nahm es nur wenig Bedacht. Es war das Exerzierreglement des preußischen Friedrich und des spanischen Loyola, fromm und stramm bis aufs Blut; wobei sich nur eines fragte: wie nämlich Naphta eigentlich zur blutigen Unbedingtheit kam, da er eingestandenermaßen an gar keine reine Erkenntnis und voraussetzungslose Forschung, kurz, nicht an die Wahrheit glaubte, die objektive, wissenschaftliche Wahrheit, der nachzustreben für Lodovico Settembrini das oberste Gesetz aller Menschensittlichkeit bedeutete. Das war fromm und streng von Herrn Settembrini, während es von Naphta lax und liederlich war, die Wahrheit auf den Menschen zurückzu-beziehen und zu erklären, Wahrheit sei, was diesem fromme! War es nicht geradezu Lebensbürgerlichkeit und Nützlichkeits-philisterei, die Wahrheit solchermaßen vom Interesse des Menschen abhängig zu machen?“

Und es ist schließlich nur Settembrini vergönnt, sich persönlich und versöhnlich von seinem Zögling zu verabschieden wobei diesem emotionalen Moment zugleich eine tiefe Melancholie innewohnt, denn zwischen die beiden Geistesfreunde, die endlich auf Augenhöhe interagieren, treten der Krieg und der Nationalismus, dem sie sich nun doch verschreiben:

„Die »Heimat« glich einem Ameisenhaufen in Panik. Fünftausend Fuß stürzte das Völkchen Derer hier oben sich kopfüber ins Flachland der Heimsuchung, die Trittbretter des gestürmten Zügleins belastend, ohne Gepäck, wenn es sein mußte, das in Stapelreihen die Steige des Bahnhofs bedeckte, – des wimmelnden Bahnhofs, in dessen Höhe brenzlige Schwüle von unten heraufzuschlagen schien, – und Hans stürzte mit. Im Tumult umarmte ihn Lodovico, – buchstäblich, er schloß ihn in seine Arme und küßte ihn wie ein Südländer (oder auch wie ein Russe) auf beide Wangen, was unseren wilden Reisenden in aller Bewegung nicht wenig genierte. Aber fast hätte er die Fassung verloren, als Herr Settembrini ihn im letzten Augenblick mit Vornamen, nämlich »Giovanni« nannte und dabei die im gesitteten Abendland übliche Form der Anrede dahinfahren und das Du walten ließ!
»E così in giù«, sagte er, – »in giù finalmente! Addio, Giovanni mio! Anders hatte ich dich reisen zu sehen gewünscht, aber sei es darum, die Götter haben es so bestimmt und nicht anders. Zur Arbeit hoffte ich dich zu entlassen, nun wirst du kämpfen inmitten der Deinen. Mein Gott, dir war es zugedacht und nicht unserm Leutnant. Wie spielt das Leben . . . Kämpfe tapfer, dort, wo das Blut dich bindet! Mehr kann jetzt niemand tun. Mir aber verzeih, Wenn ich den Rest meiner Kräfte daransetze, um auch mein Land zum Kampfe hinzureißen, auf jener Seite, wohin“

Allein es ist sinnvoll, wenn man heute über den Zauberberg schreibt, deutlicher herauszuarbeiten, wo Naphta vielleicht erfolgreicher den Wahrheiten seiner Zeit nachspürt als der italienische Humanist, einfach, weil moderne Lesende sich vielleicht noch schwerer tun als Lesende zur Zeit Thomas Manns, nachzuvollziehen, woher diese Argumente kommen, aus welchen Entwicklungen sie sich speisen und auf welche möglichen Entwicklungen sie zielen. Bemerkenswert dahingehend, dass Naphta dann gerade in seinem Wahn wiederum prophetisch wird, indem er früher und klarer als all die anderen, die ihn umgeben, die Tendenz der europäischen Gesellschaft zum Krieg ausspricht.

Peeperkorn und die Strukturellen Probleme des Romans

Was zuletzt Peeperkorn angeht, habe ich, denke ich, oben bereits genug gesagt. Nicht dass die Figur nicht interessant wäre und man nicht auch hier noch einiges mehr schreiben könnte, aber es ist doch, wie auch Castorp immer wieder betont, vor allem dessen mitreißende Persönlichkeit, sein Auftreten, sein Sprechen, seine fast animalische Kraft, die Castorp von den Geistesmenschen zu diesem überschwänglichen Romantiker hinzieht. Mit Peeperkorn wird auch die von mir anderswo schon skizzierte Problematik am deutlichsten, dass diese drei Lehrmeister ein bisschen zu sehr hintereinander weg im Buch auftreten, dass vor allem für den letzten vielleicht ein wenig mehr frühe Vorausdeutung wünschenswert gewesen wäre. So gewaltig auch diese Figur, die in ihrem Habitus an Gerhart Hauptmann angelehnt sein soll, der darüber überhaupt nicht erfreut war, auch in manch anderen Romanen noch alle anderen Figuren überstrahlen würde: Hier erscheint Peeperkorn letztendlich als Schwäche. Zu wenig Raum hat er im Vergleich zu den anderen beiden Lehrern, sich zu entfalten, zu rasch wird er wieder um die Ecke gebracht. Überhaupt geht das einher mit einigen etwas hastiger abgehandelten Stationen, bzw. weniger organisch verbundenen Stationen des Romans nach dem Tode Ziemsens. Stationen, die für sich zwar jeweils weiter überzeugen könnten, aber nicht ganz in dem zwingenden Zusammenhang stehen wie grob die ersten zwei Drittel des Textes. Was für Peeperkorn und all diese Stationen gilt, gilt dabei besonders verschärft für den Antisemiten Wiedemann. Löblich, dass Mann den Antisemitismus für wichtig genug erkannte, ihm bereits eine Figur zu widmen in einem Text, der auf den Ersten Weltkrieg hinführt, aber die Figur taucht unverbunden auf und verschwindet so auch wieder. Überzeugender wäre es gewesen, diese Ideologie aus den bestehenden Animositäten auf dem Zauberberg zu entwickeln, wozu durchaus manche Haupt- oder Nebenfigur Anknüpfungspunkte geboten hätte.

Natürlich bleibt das Ringen der Ideen nicht auf diese drei Personen beschränkt. Impulse kommen von zahlreichen weiteren Figuren, etwa von den Doktoren Krokowski und Behrens, von verschiedenen Nebenfiguren, vom Vetter Ziemsen und nicht zuletzt auch von Clawdia Chauchat. Meines Erachtens wird manchmal übrigens zu viel aus dem Schneetraum gemacht, der letztlich eben doch nicht für mehr stehen kann als für ein sehr losgelöstes Ideal. In entscheidenderem Verhältnis zur Welt der Ideen steht die Welt von unten, die Castorp schließlich in Gestalt des Krieges doch wieder einholt. Und die eben eine notwendige ist, wenn Ideen sich in der Realität erweisen sollen. Übrigens ist es keineswegs so, dass der Schneetraum, wie Wikipedia es darstellt, ein radikaler Umschlagspunkt im Denken Castorps über seine Lehrmeister ist. Kritisch ist Castorp durchaus von Anfang an, und in anschwellender Weise, der Traum mag vor allem vorher Gedachtes erstmals zusammenführen und in Bildern kristallisieren.

Falsche Lehren, die man allzu leicht zieht

Übrigens fürchte ich, dass der Zauberberg auf die kürzere oder mittlere Frist durchaus viele Schreibende erst einmal verdorben hat, dass er, ganz wie die drei großen Lehrer, einseitig zu verlocken mag: Ähnlich wie im Fall von Ulysses oder Vargas Llosas frühen Romanen gilt: Wenn man sich an diesem Text ein Beispiel nimmt, aber das Handwerk nicht meisterhaft beherrscht, kommt im besten Fall grober Unfug, im schlimmsten eine Textwüste dabei heraus. Man tendiert so leicht dazu, die meisterhafte Gestaltung der Szenerie, der Figuren, zu übersehen, und sich daran aufzuhängen, dass Romane Ideen zu verhandeln haben. Und dann entstehen diese typisch deutschen unlesbaren Thesenromane. Man lernt von Mann: Ach ja, das mit dem auktorialen Erzähler, der gern so ein bisschen onkelhaft jovial sogar die Lesenden anspricht, funktioniert ja doch noch. Das sollte ich auch mal versuchen, und man produziert Fremdscham induzierende Texte, weil man schreibt, als habe das 19. Jahrhundert nie geendet. Es ist, als schaue sich ein Typ, 1,85, halbwegs fit, ganz gute Anlagen, geschickt beim Basketball, alle Spiele von Shaq an und lernte daraus: Okay, am besten spielt man dieses Spiel, indem man sich mit dem Rücken zum Korb einfach durchschubst, bis man den Ball in den Korb legen kann. Das funktioniert natürlich nicht, und als Thomas-Mann- Epigone wirkt man leicht ähnlich lächerlich wie dieser zu klein geratene Shaq-Imitator, obwohl wir als Schreibende natürlich stets die Möglichkeit haben, zu wachsen. Immerhin.

Musik und Krankheit bzw. ästhetischer Sinn und Unangepasstheit

Zuletzt noch ganz kurz zu zwei Themen, die in Thomas Manns Werk immer eine große Rolle spielen, und deren Betrachtung sich über die verschiedenen Romane deutlich gewandelt hat, wenn auch vielleicht nicht so deutlich, wie es manchmal unterstellt wird: Musik und Krankheit. Zwei Dinge, die durchaus immer wieder in Verbindung auftauchen. Allgemeiner fasst Thomas Mann im Zauberberg diesen Kontext als den von Krankheit und Genialität, wobei man, denke ich, durchaus berechtigt ist, Krankheit hier breit zu verstehen und nicht auf Tuberkulose und vielleicht manche psychische Leiden zu beschränken, sondern den Blick auch auf allerlei Unangepasstheiten zu erweitern, für die die der Welt entrückte Berghof-Gesellschaft ja doch steht. In den Buddenbrooks erscheint die Musik vor allem bedrohlich. Gerda Arnoldsen ist Musikerin und bringt große Unruhe in die Familie. Ihr Sohn Hanno teilt die Neigung zur Musik und gleichzeitig leidet er von Anfang an an Überspanntheit und Gebrechlichkeit, quasi an einer Existenz zum Tode. Christian, der große Kranke des Romans, ist zwar nicht direkt zur Musik, aber zu allen Künsten laienhaft hingezogen. Wenn in „Buddenbrooks“ die Musik auch nie als „politisch verdächtig“ (Settembrini) bezeichnet wird, könnte man doch auf die Idee kommen, sie als sozial und vielleicht sogar gesundheitlich verdächtig zu sehen, und das Verhältnis von Buddenbrooks zur Musik ensprechend aufgehoben in Settembrini. Im Zauberberg dagegen bekommt die Musik eine positivere Rolle zugewiesen. Früh erkennt Castorp in seinem Bildungsweg, der letztlich auf das Sich-Aussöhnen mit der Bedrohung des Todes bei gleichzeitiger Bejahung des Lebens hinausläuft, die stützende Funktion von Musik für die Berghof-Gesellschaft, auch wenn es nur Blechmusik sei, also humpta-humpta Blaskonzerte. In seiner späteren Beschäftigung mit einigen Meisterwerken der Klassisch-Romantischen Tradition, wobei mit Bizet und Debussy gleich zwei Künstler darunter sind, die während der Niederschrift des Zauberbergs noch relativ „neu“ in ihrem Durchbrechen des total tonalen Materials waren, quasi „neue Musik“ also, findet Castorp dann erst recht eine emotional-geistige Beschäftigung, die ihm noch einmal auf neue Weise Halt und eine Erweiterung des Horizonts schenkt, gewissermaßen eine Perspektive außerhalb des Berghof innerhalb des Berghof. Und ganz parallel, das klang oben schon an, ist die Krankheit im Zauberberg zwar nicht gerade ein Gut, wird aber auch nicht mehr als dieser einfache Verfall dargestellt, wie diese in Buddenbrooks meist gesehen wird. Krankheit ist nicht unbedingt zu begrüßen, warum auch, aber sie eröffnet Möglichkeiten, reißt heraus aus einem Ganzen, das nicht selten auch Verhängniszusammenhang ist. Beides, und ebenso die Verbindung, findet im „Dr. Faustus“ bekanntlich noch eine Weiterentwicklung. Doch ich sagte oben, dass man die gesamte Entwicklung vielleicht zu übertreiben geneigt ist, denn dass Hanno musikalische Dilettant bleibt und zugleich krank muss ja nicht als Urteil über die gesamte Musik gelesen werden, und in Christian ist vieles von der Perspektive, die im Zauberberg dann entwickelt wird, durchaus schon angelegt. Christians Problem ist, dass er nicht zu einer Rolle findet, in der seine, breit gesprochen, musischen Fähigkeiten in irgendeiner Weise in der Welt existieren könnten. Idealerweise wäre das die Rolle des Künstlers. Und die Musik, überhaupt die Kunst als Ganzes, bleibt auch im Faustus noch eine große Kraft, die mit dem Düstersten ebenso Verbindungen eingehen kann wie mit dem Lichtesten. Wenn man Buddenbrooks und Zauberberg aufmerksam liest, stellt man fest, dass die darin sich entwickelnde Perspektive auf Musik schon recht natürlich auf das hinführte, was dann im Faustus steht. Dass die Musikpassagen eben nicht einfach unverdautes Wiederkauen von Adorno sind, sondern dass Adorno der richtige Partner zur richtigen Zeit war. Das gilt übrigens auch für Gesellschaftliches. Manns Blicke auf den in die Krise taumelnden Kapitalismus, gebrochen durch Naphta und Settembrini, bereitet durchaus bereits die noch kritisch-analytischeren Passagen im Faustus vor. Das heißt nicht, dass man Adornos Mitarbeit an diesem Roman unterschätzen darf. In Bezug auf einige Passagen habe ich das in meinem „Faustus“-Artikel ja schon angedeutet. Der Philosoph stünde eigentlich mit Recht als Co-Autor auf dem Buchdeckel. Bloß widerstreiten im Werk eben nicht zwei Haltungen, sondern es haben sich die richtigen Autoren für eine Kollaboration gefunden.

Bemerkenswert ist, dass der Zauberberg eigentlich einer dieser eskalierten Texte ist, die oft so schrecklich aus dem Leim gehen. Man denke an die hier besprochenen Reihen „Song of Ice and Fire“ und „The Wheel of Time“. Beide sollten ursprünglich drei Romane umfassen. Der Zauberberg hätte eigentlich gar als Gegenstück zu „Der Tod in Venedig“ in Form einer kleinen Erzählung erscheinen sollen und wuchs Thomas Mann, unter anderem unter den Eindrücken des Ersten Weltkrieges. Und dennoch erscheint das Ganze, wie oben gezeigt, motivisch und erzählerisch sehr, und formal immerhin leidlich geschlossen. Es ist, als habe der Autor sich gesagt: „Oh, das wächst ja immer weiter, jetzt muss ich besonders darauf achten, nicht einfach ins Schwätzen zu geraten.“ Und entsprechend besonders auf die formale Seite der Gestaltung geachtet. Und nur so funktioniert es.

Zuletzt möchte ich noch einmal an Lehrerinnen und Lehrer appellieren, die sich mit ihren Schülerinnen und Schülern einen Roman von Thomas Mann vornehmen. Das ist natürlich einerseits sehr löblich. Aber zumindest nach meiner Erfahrung sind es dann meist die „Buddenbrooks“, und das ist kein Roman, mit dem man junge Menschen an Thomas Mann heranführen kann. Der ist zu gediegen, so ausgewogen, zu gemütlich selbst noch in seinen Thematiken. Wenn dann wirklich, wie in meiner Schulzeit, die Zeit für einen fast tausendseitigen Text ist (Lehrende, die ich kenne, haben sowieso im besten Fall die Zeit für 100 bis 200 Seiten Lektüren), aber wenn: Lasst es diesen hier sein. Ja, thematisch ist der Zauberberg theoretisch schwerer. Aber es ist einer dieser Texte, die einfach packen, die unglaublich viele Situationen und Ideen enthalten, zu denen man sich auch als interessierte Jugendlicher vielleicht schon aufschwingen kann, die Lust machen, sich zu erheben, sich bilden zu lassen. „Die Buddenbrooks“ sind ein Text, auf den man wahrscheinlich besser trifft, wenn man schon einiges an geistiger und literarischer Vorbildung mit sich bringt.

Bild: Pixabay

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