Umfangreicher Gesellschafts-Roman auf knapp 200 Seiten?“Amuleto“ von Roberto Bolaño.

Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, schon einmal eine ausführliche Rezension zu „Amuleto“ von Roberto Bolaño geschrieben zu haben. Aber ich finde sie nicht mehr, nur noch die uralte Kurzempfehlung. Also (wahrscheinlich) noch einmal:

„Amuleto“ ist eines der literarischen Kleinode, gegen die Bolaño seine Erzähler in „2666“ etwas despektierlich austeilen lässt. Die Texte, die von der Kritik meist besser aufgenommen werden als die Mammutwerke, in die so viel Blut, Schweiß und Tränen geflossen sind. Allerdings ist „Amuleto“ einfach der bessere Roman, und wenn man sich eine bessere Aufnahme der Mammutwerke wünscht, muss man sie besser gestalten. Ich habe „2666“ vor langer Zeit recht positiv besprochen, aber ich könnte trotzdem niemandem verdenken, wenn man den Text im langen, ziellosen Mittelteil abbricht. Ebenso gilt das für „Die wilden Detektive“. „Amuleto“ dagegen ist perfekt durchkomponiert und dabei thematisch alles andere als beschränkt. Es ist nichts anderes als ein Rundumschlag zur mexikanischen Gesellschaft rund um das Jahr 1968, weit ausgreifend in Vergangenheit und Zukunft. Ja, sogar bis in das finstere Jahr 2666, das dann dem umfangreichen Roman den Titel gibt:

„Und ich folgte ihnen. Leichten Schritts liefen sie die Calle Bucareli hinunter bis zum Paseo de la Reforma, den sie überquerten, ohne grünes Licht abzuwarten, beide mit ihren langen, zerzausten Haaren, denn um diese Zeit pfeift ein mächtiger Nachtwind durch den Paseo, und die große Straße verwandelt sich in einen Blasebalg, durch den die imaginären Exhalationen der Stadt sausen, dann begannen wir die Avenida Guerrero hinunterzulaufen, die beiden gingen nun ein wenig langsamer als zuvor, und meine Stimmung wurde immer gedrückter. Die Avenida ähnelt um diese Stunde vor allem einem Friedhof, aber weder einem Friedhof von 1974 noch einem von 1968 oder 1975, sondern einem Friedhof im Jahre 2666, einem Friedhof, vergessen hinter einem toten oder ungeborenen Augenlid, dem wässerigen Rest eines Auges, das etwas vergessen möchte und alles vergessen hat.“

Los geht es freilich relativ gewohnt, wenn man den Autor kennt, mit Literaturkreisen. Zu Beginn folgen wir der junge Dichterin und literaturbegeisterte Auxilio Lacouture, die uns als Ich-Erzählerin durch die Handlung führt und sich mehrfach großmundig als die Mutter der mexikanischen Poesie bezeichnen wird. Sie unternimmt alles, um in die Dunstkreise mittlerweile älterer Dichter eingeführt zu werden und stößt schließlich zu den Dichterkreisen, die gewissermaßen die Fackel übernehmen: junge Wilde. Dann aber kommt es zu einer schicksalhaften Entwicklung, die den Rest des Romans bestimmt. Auxilio ist gerade auf der Toilette, als 1968 das Militär die Universität stürmt. Versteckt entgeht sie den Verhaftungen und Ermordungen, wobei unklar ist, wie lange sie versteckt bleibt. Im Verlauf des Romans werden Zeiten von bis zu mehreren Wochen ohne Essen genannt. Dabei geschieht etwas Seltsames: Auxilio erinnert sich. Und zwar an die Vergangenheit ebenso wie an die Zukunft. Und auch in der Vergangenheit erinnert sie sich an Dinge, die sie gar nicht miterlebt haben kann, denn Auxilio kam noch nicht vor allzu langer Zeit aus Uruguay nach Mexiko-Stadt.

Komponiert ist das einfach in großartiger Weise. Auxilio erzählt in einem Stil fingierter Mündlichkeit, erschüttert dabei durchaus auch immer mal wieder ihre Glaubwürdigkeit als Erzählerin und besitzt doch eine Kraft ihrer Stimme, die uns überzeugt, alles Erzählte erst einmal für wahr zu nehmen. Bolaño ist kein Autor, der hübsche Absätze als einzelne Bilder baut, wo man einfach sagen kann: „Ach, ist das schön.“ Die Schönheit seiner Sprache ist rustikal, entsteht aus dem pseudo-mündlichen Textfluss, aus der Atmosphäre – hier nächtliche Straßen, verrauchte Dichtertreffs, Kneipen – aus den von der Kraft der Jugend gesättigten Dialogen der jungen Schriftsteller und der Melancholie, die sich rückblickend darunter mischt, denn diese Kraft reicht nur so und so weit und geht oft fehl. Doch innerhalb dieses Mündlichen mischen sich durchaus, als sei es das Allernatürlichste, einzelne Sätze, die das reine Berichten von Ereignissen poetisch transzendieren, etwa:

“Mit diesen Leuten freundete ich mich also an. Und ich verbrachte viel Zeit in ihrer Wohnung, wohin sie mich einluden, einmal blieb ich einen ganzen Monat, ein anderes Mal zwei Wochen, dann wieder eineinhalb Monate, denn zu jener Zeit hatte ich schon kein Geld mehr für die Miete oder ein Zimmer auf dem Dachboden, und mein tägliches Leben war ein Herumstreifen von einem Ende der Stadt zum andern, grad wie der Nachtwind durch die Straßen und Alleen von Mexikos Hauptstadt blies

Des Weiteren ist der Text gegliedert über Leitmotive, insbesondere die Bewegung des Mondlichts auf den Kacheln des Toilettenverstecks, der Blick in verschiedene Spiegel, wobei früh der Blick in einen zersplitterten Spiegel auf der Toilette uns vielleicht einiges über die Erzählerin vorausdeutet, und nicht zuletzt wiederkehrend und variiert das Bild vom Wind in den Gassen von Mexiko City.

Wie bereits in meinen Besprechungen von 2666 und „Stern in der Ferne“ ausgeführt, ist Bolaño ein großer Meister darin, kleinere fast abgeschlossene Erzählungen innerhalb einer größeren zu verknüpfen. Während sich „Stern in der Ferne“ tatsächlich fast in fünf abgeschlossene Blöcke unterteilen lässt, ist das Ganze im Fall von „Amuleto“ etwas durchlässiger, vor allem die erste Hälfte enthält nur ganz kleine Erzählungen und Teilbiografien, die man kaum für sich herauslösen kann. Im Mittelpunkt steht hier besonders Arturo Belano, später einer der Protagonisten von „Die wilden Detektive“ und eine Figur, die wohl eigentlich auch noch in 2666 eingearbeitet werden sollte. Der kommt aus Chile nach Mexiko City, findet seine Position unter den jungen Dichtern, wendet sich später einer noch jüngeren Gruppe zu und zuletzt erfahren wir, dass er hochnäsig geworden sein soll, im Grunde aber doch noch immer ein guter Kerl. Seine zentrale Rolle spielt Belano bei der Rettung seines besten Freundes vor dem sogenannten König der Stricher, der den Freund angeblich gekauft haben soll. Hier wird, wie noch mehrfach im Buch, die Macht des Erzählens herausgestellt, denn einerseits gelingt es Belano, den jungen Mann durch konstantes Reden und Erfinden tatsächlich zu befreien, indem der König der Stricher sich zurückzieht. Andererseits könnte das auch zu tun haben mit den Geschichten, die mittlerweile über Belano erzählt werden: Der soll nämlich im Kampf gegen Pinochet dem Tod ins Auge geblickt haben, eine höchstwahrscheinlich von zahlreichen Übertreibungen durchsetzte Legende der Straße. Später wird diese Macht des Erzählens auch Auxilios Geschichte in die Finger bekommen, negativ, denn in der Erinnerung der Straße sind es bald ganz andere Personen, die jene kraftraubenden Nächte auf der Toilette durchgestanden haben.

“Tja, das war’s, Freunde. Die Nachricht zerstob mit dem Wind der Hauptstadt und dem Wind von 1968, sie verschmolz mit den Toten und den Überlebenden, und heute weiß alle Welt, daß eine Frau in der Universität blieb, als in jenem herrlichen, unheilvollen Jahr die Autonomie der Universität mit Füßen getreten wurde. Mein Leben ging ja weiter, aber irgend etwas fehlte, etwas, das ich gesehen hatte, und immer wieder hörte ich meine Geschichte, von anderen erzählt, eine Geschichte, in der jene Frau, die zwei Wochen aushielt, ohne etwas zu essen, eingesperrt auf einer Toilette, in der diese Frau plötzlich eine Medizinstudentin war oder eine Sekretärin aus dem Rektorat, nicht aber eine Frau aus Uruguay, ohne Papiere, ohne Arbeit, ohne Bleibe, um ihr müdes Haupt zu betten.”

Der kurze Roman erzählt unter anderem noch von einer literaturbegeisterten Freundin von Auxilio, die immer wieder verschwindet, so unauffindbar wird, dass man sie fast für einen Geist halten könnte, von der ehemaligen Dichterin Lilian Serpas, die sich nun auf der Straße damit durchschlägt, Zeichnungen ihres Sohnes zu verkaufen, der das Haus nicht verlässt. Wir kennen die Frau schon, als Auxilio sie uns vorstellt, denn sie geisterte bereits als unbekannte Bilder-Verkäuferin durch die Geschichte. Und schließlich erfahren wir auch mehr von deren Sohn Carlos, den Auxilio besucht, der wiederum die Geschichte von Erigone und ihrer Affäre mit Orestes erzählt. Eine klassische Erzählung, die auf den ersten Blick schief im Buch stehen könnte, aber mit ihren Themen von Liebe, Verrat und gehetzter Flucht die Themen des Romans spiegelt. Ja, Bolaño macht die geflohene Erigone und ihre Begleiter sogar zu Vorläufern seiner ziellos durch die Welt mäandernden Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

“Orest wird ungeduldig. Wenn du bleibst, bringe ich dich um, sagt er. Die Götter haben meinen Geist umnachtet. Wieder spricht er von seinem Verbrechen, und er redet von den Erynnien und von seinem Leben, das er dereinst leben wird, wenn sich der Nebel in seinem Kopf lichtet, ja, schon bevor sich alles lichtet: sie werden umherirren, er und sein Freund Pylades, kreuz und quer durch Griechenland, und zur Legende werden. Frei umherstreifende Beatniks, die das Leben in Kunst verwandeln. Aber Erigone versteht Orests Worte nicht, vielmehr fürchtet sie, daß alles einem von Elektras Hirn ersonnenen Plan gehorcht, eine Art Euthanasie ist, eine Reise in die Nacht, die die Hände des jungen Königs unbefleckt läßt.”

Auch Juan de Dios Montes, den man als Erzähler von „Die wilden Detektive“ kennen könnte, hat hier einen Auftritt.

Das Thema des Romans, könnte man in Abwandlung eines Satzes von Vargas Llosa sagen, ist: „Wann haben sich (und wie haben sich) Mexiko und Lateinamerika insgesamt in die Scheiße gesetzt?“ Es sind die Zyklen von Aufbegehren und niedergeschlagen Werden, von revolutionären Hoffnungen, von ästhetischen Träumereien, von gescheiterten Revolutionen und leider oft zu gelungenen Diktaturen. „Amuletto“ ist keine Jugenderzählung, sondern eine Erzählung von Jugend, gefiltert durch den melancholischen Blick einer alternden Mutter der Dichtung. Die muss übrigens zwischendurch zugeben, dass sie gar nicht die Mutter der mexikanischen Dichtung sein kann, und präsentiert uns eine andere, auf die der Titel viel besser passe, worauf sie aber wenig später doch wieder im Brustton der Überzeugung erklärt, die Mutter der mexikanischen Dichtung zu sein. Der Text endet in einem gewaltigen Bild, da Auxilio zu träumen meint und in eine Landschaft geht, die sie an die Hintergründe mancher Renaissancegemälde erinnert. Dort kommt ihr in großer Prozession die Jugend des Landes, des Kontinents, entgegen, die singend auf einen Abgrund zumarschiert und sich nicht aufhalten lässt.

“Und ich hörte sie singen, immer noch, jetzt, da ich schon nicht mehr dort bin, ganz leise, ein Gemurmel, kaum noch hörbar, sie, Lateinamerikas herrliche Kinder, die schlecht genährten, die wohl genährten, die Habenichtse und die, denen es an nichts fehlte, was für ein schönes Lied von ihren Lippen kam, wie schön sie waren, und doch marschierten sie, Schulter an Schulter, in den Tod, ich hörte sie singen und wurde wie wahnsinnig, ich hörte sie singen, und nichts konnte ich tun, damit sie anhielten, viel zu weit weg waren sie schon und mir fehlte die Kraft, hinabzusteigen in das Tal und mich dort unter sie zu mischen und zu rufen, sie sollten anhalten, der sichere Tod warte auf sie, dort, wohin sie marschierten. Ich konnte mich lediglich erheben, schwankend, und dem letzten Seufzer ihres Gesangs hinterher lauschen, immer weiter, denn obwohl der Abgrund sie verschluckte, das Lied schwebte weiter über dem Tal, im Abenddunst, der die Felsspalten und Klippen emporstieg.

Und so durchquerten sie das Tal, die gespenstischen Muchachos, und stürzten sich in den Abgrund. Eine kurze Reise. Und ihr Geistergesang oder das Echo davon, ein Echo wie das Echo des Nichts, er wanderte weiter, im gleichen Schritt wie sie selbst, der Marschtritt der Tapferen, Großherzigen, er hallte in meinen Ohren wider. Kaum hörbar, ein Gesang von Liebe und Krieg, denn in den Krieg zogen sie, die Kinder, und die theatralischen, großen Akte der Liebe, die nahmen sie im Geiste mit.”

“Amuleto“ ist ein Meisterwerk, wie es selten ist. Äußerst kunstvoll und dabei überhaupt nicht gekünstelt wirkend, kurz und dicht – Man wird es höchstwahrscheinlich innerhalb eines Tages lesen – und dabei inhaltlich/thematisch doch ein Roman von epischer Breite. Ich schwanke immer wieder, ob ich „Amuleto“ oder „Stern in der Ferne“ als das stärkste Werk des Autors bezeichnen soll. Mit seiner morbiden Faszination für einen fiktiven dichtenden Faschisten ist „Stern in der Ferne“ inhaltlich vielleicht noch ein Stück überwältigender. Dagegen könnte „Amuleto“ der etwas besser komponierte Text sein. Letztendlich stehen sie als ein herausragendes Zweigestirn im Werk des Autors. Und ich denke, konträr zu dem, was in „2666“ verlangt wird, sollte man mit einem der beiden Romane anfangen, sich mit Bolaño zu beschäftigen. In thematischer Hinsicht liegt „Amuleto“ wahrscheinlich näher. Denn es beackert ja gewissermaßen den gleichen Kosmos wie das berühmtere „Die wilden Detektive“.

Bild: Pixabay.

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