Verführerischer Faschismus. „Stern in der Ferne“ von Roberto Bolaño & der brutalste Ästhetizist.

„Stern in der Ferne“ ist der Roman von Roberto Bolaño, den ich bisher am häufigsten gelesen habe. Das Buch lag in einem offenen Bücherschrank aus, ich habe die knapp 180 Seiten damals noch am ersten Abend ausgelesen, und seitdem dürfte ich das Buch etwa einmal alle zwei Jahre zur Hand nehmen. Bolaños Erzähler in „2666“ beschwert sich, dass Lesende so oft die kleinen dichten Texte den großen Schwergewichten vorziehen, allerdings lässt sich das meines Erachtens nicht bestätigen: Warum sonst verunmöglichen es Verlage unbekannten AutorInnen sonst meist, Texte unter 300 Seiten zu publizieren? Und: Wenn der Autor sich Anerkennung wünscht, müsste er sich halt bei den fetten Büchern noch ein bisschen mehr bemühen (denn „2666“ und auch „Die wilden Detektive“ sind faszinierende Texte, doch kaum welche, die man regelmäßig lesen wollen wird) oder alternativ bei den kleinen dichten ein bisschen weniger. Denn genau hier hat Bolaño einige Meisterwerke geschaffen, die ihresgleichen suchen. Ob „Stern in der Ferne“ das größte ist, möchte ich gar nicht entscheiden. Auch „Amuleto“ ist herausragend. „Stern in der Ferne“ ist aber sicherlich der erschütterndste Roman Bolaños.

Der Text beginnt, wie so viele, in einem Dichterzirkel, eskaliert aber bald noch heftiger als „Die wilden Detektive“. Im Mittelpunkt steht der Autodidakt Ruiz Tagle, der sich unter Pinochet bald als ein Dichter von solcher Grausamkeit entpuppt, dass er selbst dem Regime zu übel wird und verschwinden muss. Tagle schreibt seine Gedichte in Latein mit dem Flugzeug in den Himmel, inszeniert sich als besonders harter Kerl, wobei man ihm keine Spur der Inszenierung anmerken kann, und sein „Meisterstück“ gegen Mitte des Romans ist eine Fotoausstellung mit den Leichenteilen zahlreicher Verschwundener der chilenischen Literaturszene und Intelligenzija. Na und, könnte man sagen, ein weiterer Roman also darüber, wie grausam der Faschismus ist. Aber nein, so ist „Stern in der Ferne“ nicht gebaut. Man kommt nicht darum herum, Tagle, der sich bald Carlos Wieder nennt (oder in Wahrheit so hieß?), als den schillernden Helden dieses Stücks auszumachen. Die linken Schriftsteller, die eine gewisse Zeit mit ihm im gleichen Zirkel verbracht haben, sind offenkundig bis zur Obsession fasziniert von diesem Menschen, sodass es ihnen nicht gelingt, sich einfach abzuwenden und das eigene Leben zu retten. Sie scheinen so etwas wie Größe zu spüren, die sich in anderer Weise ausagiert als sie es gewünscht hätten, der sie sich aber doch nicht verschließen können. Bolaño verstärkt diesen Eindruck, indem seine anderen Protagonisten durchweg als eher arme Würstchen erscheinen. Kaum überlebensfähig, immer am Zweifeln, aber auch nicht fähig, dann wenigstens ein Werk vorzulegen. Tagle/Wieder dagegen wirkt wie ein harter Kerl, um den sich die Geschichte kristallisiert, wie einer, der mit sich im Reinen ist, so schrecklich er objektiv handelt. Und das sogar noch, nachdem er als auf ganzer Linie gescheitert betrachtet werden kann. Als „zu grausamer“ Faschist ist auch er ins Exil gegangen, und viele der grandiosen Legenden rund um ihn haben sich tatsächlich als das herausgestellt: Legenden. Als es dem Protagonisten endlich gelingt, ihn gemeinsam mit einem Detektiv, der für einen anonymen Auftraggeber den Faschisten ermorden soll, aufzuspüren, arbeitet Tagle als Hausmeister und schreibt nur dann und wann noch Kleinigkeiten für Blätter der europäischen Naziszene. Und doch sieht der Erzähler ihn weiter als jemanden, den nichts erschüttert, der in sich ruht.

„Stern in der Ferne“ ergründet nicht als Postulat, sondern als aktive Leseerfahrung, was Thomas Mann die „unheimliche Nähe von Ästhetizismus und Barbarei“ getauft hat und womit er sich im Faustus sowie auch im Nietzsche-Aufsatz auseinandersetzt. Der Roman des dezidiert linken Bolaño macht für seine Leser spürbar, wie diese Faszination des Grausamen aussehen kann, wie in der Sicherheit, mit der sich einer über alle Regeln hinwegsetzt, eine Faszination liegen kann, der nicht zufällig auch deshalb immer wieder so viele Menschen gefolgt sein dürften. Ja, Wieder bekommt am Ende seine gerechte Strafe, auch wenn das sozusagen offscreen geschieht. Aber das in einem Moment, in dem der Erzähler sich ob des Wiedersehens schon gar nicht mehr so sicher ist. Sollte man ihn nicht einfach so weiterleben lassen, wie er jetzt ist? Alt und gescheitert? Aber (diese Frage stelle ich, nicht der Erzähler): wäre das denn tatsächlich die größere Strafe für einen, der im Leben das Gefühl gar nicht zu kennen scheint, irgendetwas falsch gemacht zu haben?
Carlos Wieder bleibt in „Stern in der Ferne“ ein großes Faszinosum, einer, vor dem man erschrecken kann, von dem man sich aber auch sagen muss: ja, es gibt solche Leute, und sie können eine morbide Faszination ausüben. Ich möchte nicht ausschließen, dass es Leserinnen und Leser gibt, die nicht erschrecken, für die Wieder der letztendliche Held dieses Romans bleibt. Das ist ein Dilemma, das wohl aushalten muss, wer wirklich literarisch zur Wirkmacht des Faschismus, gerade auch immer wieder auf Intellektuelle, durchdringen möchte. Bolaño begreift, obwohl er politisch sein erbitterter Gegner wäre, den Faschismus ähnlich präzise auch von seiner verführerischen Seite, wie Ernst Jünger, und kann deshalb so unglaublich überzeugend davon schreiben. Und ich denke es braucht genau dieses Verständnis, um Faschismus vielleicht irgendwann einmal tatsächlich wirksam bekämpfen zu können. Die verschiedenen Spielarten dieser Ideologie haben so oft gesiegt und es besteht die Gefahr, dass sie bei sich verschärfenden Krisen in Europa und in der Welt einmal mehr auf der Siegerstraße sind. Und es ist noch immer auch diese Mischung aus Heroismus und Ästhetik, das Gefühl, einem metaphysischen Ausbruch beizuwohnen, das Menschen fasziniert, von denen man es gar nicht erwartet, und sie auf die Seite der scheinbar „größeren“ Weltanschauung zieht. Zu verstehen, wie und warum das abläuft, kann ein Roman wie „Stern in der Ferne“ helfen.

Doch man hat nicht adäquat über diesen Roman geschrieben, wenn man nicht die ästhetischen Verfahrensweisen in den Blick nimmt, mit denen Bolaño sein Werk so herausragend gestaltet. Ich schrieb es anderswo, denke ich, schon mal, Bolaño ist eigentlich der Meister der verbundenen Kurzgeschichten, wobei seine besondere Meisterschaft gerade darin zu finden ist, dass er am Ende die einzelnen Geschichten in ein absolut zusammenhängendes Werk überführt. Auch hier haben wir eigentlich wieder einige relativ gut abgeschlossene Texte vorliegen. Die Betrachtungen über die Zusammensetzung einer chilenischen Literaturgruppe mit dem Erzähler. Dann die exzessive Entwicklung von Carlos Wieder. Dann eine Art Exkurs über den ehemaligen Kopf der Literaturgruppe, der plötzlich in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten auftaucht und eine Art Gegenpart zu Wieder darstellen könnte, wobei viele dieser Geschichten sich zum Schluss auch als Illusionen auf Basis einer Namensverwechslung und/oder Legendenbildung herausstellen. Dann die Geschichte von Bibiano, Freund des Erzählers und ebenfalls Mitglied der Literaturgruppe, und dessen Suche nach Wieder in den obskursten Literaturzeitschriften, wobei auch das chilenische Exil beleuchtet wird. Und schließlich die Jagd des alten Detektivs, dem gelingt, woran Bibiano scheiterte, und in die auch der Erzähler als Protagonist wieder stärker mit reingeholt wird. Das sind fünf Textblöcke, die man fast in sich abgeschlossen lesen könnte, die ultradicht eine Handlung in der Gegenwart jeweils mit einer Biografie kurzschließen, verbunden durch den Erzähler und vor allem das Enigma Carlos Wieder. Wenige Werke sind so dicht geknüpft, so temporeich und überzeugend erzählt. Und, was Bolaño vielleicht noch von anderen dichten Autoren wie Virginia Woolf oder Arno Schmidt unterscheidet: zugänglich. Bolaño ist nicht „schwer“, zumindest seine kurzen Texte können wirklich als Texte für jeden gelten. Sie sind sprachlich schön, aber nicht prätentiös, sie verlieren sich nicht in Betrachtungen für Intellektuelle, sind äußerst spannungsreich und getragen von Charakteren, die schwanken zwischen liebenswert kaputt und monströs. Ich kann mich, wie gesagt, nicht festlegen, ob „Stern in der Ferne“ Bolaños stärkstes Werk ist. Mindestens „Amuleto“ spielt auf Augenhöhe oder ist vielleicht sogar noch einen Ticken stärker. Aber es ist sicherlich sein erschütterndster Roman.

Bild: Pixabay.

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