Familienkonflikt in Bildern, der mehr Aufmerksamkeit verdient. „Morsches Holz“ von Monique Saint-Hélier.

Von Monique Saint-Hélier oder Berthe Eimann-Briod (so der richtige Name) hatte ich bisher nichts gehört. Die Autorin scheint tatsächlich recht unbekannt zu sein, zumindest unbekannt für eine Autorin, von der die deutsche Wikipedia immerhin folgendes berichtet:

“Für den Schweizer Literaturwissenschaftler Charles Linsmayer ist Saint-Hélier eine „der bedeutendsten Schweizer Autorinnen des 20. Jahrhunderts“. Die französische Literaturkritikerin Isabelle Rüf beschreibt ihren Stil als Bruch mit dem traditionellen französischen Roman und weist auf Ähnlichkeiten zu Virginia Woolf hin. Die Literaturwissenschaftlerin Doris Jakubec sieht Parallelen zu Marcel Prousts polyphoner Erzählweise.”

Überhaupt gibt es Wiki-Beiträge nur in vier Sprachen, eine davon ist Esperanto, und nur der französische geht deutlich über einen kurzen Lexikoneintrag hinaus. Naheliegend, die Schweizer Autorin schreibt in französischer Sprache. Ich habe „Morsches Holz“ von Saint-Hélier im offenen Bücherschrank gefunden, und dies ist einer der wenigen Romane, die nicht nach der Lektüre zurückgehen. Die beiden Pole Virginia Woolf und Marcel Proust als Bezugspunkte sind, obwohl sie auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, nicht ganz absurd. Und obwohl „Morsches Holz“ seine Schwächen hat, Schwächen, die gerade Woolf in einem stärkeren Text definitiv getilgt hätte, hat der Text auch seine großen Stärken. Zu Proust fehlt dem Einzelband die Gewalt der Masse und vielleicht auch ein wenig die Liebe zum Detail, allerdings handelt es sich wohl nur um einen, allerdings durchaus abgeschlossen zu nehmenden, Text aus einem unvollendeten Zyklus, der zumindest im reinen Umfang dann den Vergleich mit der „Suche nach der verlorenen Zeit“ nicht mehr scheuen müsste. Und sind wir ehrlich, auch die „Suche“ hat ihre Schwächen.

Ich möchte damit beginnen, kurz die Geschichte zusammenzufassen. Das spare ich mir oft, aber hier ist es nicht ganz einfach, den Überblick zu behalten, deshalb möchte ich die wichtigsten Ereignisse nicht unerwähnt lassen. „Morsches Holz“ erzählt von einer Art unerklärtem Krieg zwischen zwei Familien, wobei die Familie Alérac die deutlich ältere und „altehrwürdigere“ zu sein scheint, die Familie Graew im Vergleich dazu bürgerlich emporkömmlinghaft. Mit der Zeit kristallisiert sich heraus, dass die Familie Alérac ihr Haus an den derzeitigen Stammhalter der Familie Graew zu verlieren droht, wobei eine Heirat der Tochter Carolle, die zwei Partien in Aussicht hat und vielleicht früher irgendwann sogar mal den Widersacher hätte heiraten können, das Schicksal noch wenden könnte. Der Vater aber will die Tochter nicht an irgendeinen Mann geben und vor allem nicht an einen, den die Tochter nicht will.

Faszinierend ist die Art und Weise, wie all das entwickelt wird. Zuerst bewegen wir uns nämlich mit Fokus auf eine Kammerfrau auf ein großes Abendessen bei den Alérac hin und erst ganz langsam, nicht einmal sicher, schält sich heraus, dass die Tochter die wichtigste Figur sein könnte. Der Roman besteht aus Bildern und Geplauder, die Atmosphäre ist unglaublich stark entfaltet, dagegen wird manchmal etwas unzureichend markiert, wer überhaupt gerade spricht, so dass ich mich manchmal beim Staunen ertappt habe: Ist das plötzlich eine Ich-Erzählung? Vor allem aber hat man in der Gemächlichkeit und Selbstgewissheit, mit der die Teilnehmer beim Abendessen die Welt betrachten und über die Familie Graew urteilen, das Gefühl, dass dies hier die starke Familie ist, jene andere im Verfall begriffen. Das wendet sich erst langsam. Der zweite Teil wendet die Perspektive dann Jonathan Graew zu, der sich in eine junge Frau von „schlechtem Stand“ verliebt hat und plant, diese zu ehelichen. Jene wiederum träumt schon davon, dass ihr irgendwann dann das gesamte Anwesen der Familie Alérac gehören wird. Die weiteren Teile fächern die Perspektive weiter auf, machen einige Nebenfiguren zu Fokus-Charakteren, bis sich scheinbar alles auf eine der beiden Ehen zur Rettung der Familie Alérac zu bewegt. Doch diese Auflösung verweigert uns Saint-Hélier. Weder der Vater ist bereit, die Tochter an den falschen Mann zu geben, noch ringt Carolle sich zu so einer Vernunftehe durch.

Zuerst ein paar Schwächen: Man verliert leicht einmal die Orientierung, insbesondere, weil die Autorin, wie gesagt, sehr sparsam damit ist, uns zu erinnern, wer gerade spricht, aber auch, wer gerade Fokusfigur ist und: einige Verhältnisse sind recht unklar. Dass diese Kathrin, Jonathan Graews Geliebte, etwa auch Carolles beste Freundin ist, kommt erst spät herraus und wirkt angesichts der Antagonismen zwischen den Familien relativ fragwürdig. Also nicht die Freundschaft an sich, aber müsste das dann nicht ein starker Handlungsstrang von Anfang an sein, der von großen Schwierigkeiten geprägt ist? Kathrins Träume verlangen ja geradezu den finanziellen Ruin von Carolles Familie. Überhaupt: Der Text wirkt vielleicht für heutige Lesende, obwohl an sich Konflikte angelegt sind und auch ausgetragen werden, etwas sehr gemächlich. Die letzte Schwäche ist aber schon gar keine wirkliche mehr. „Morsches Holz“, der Titel passt so perfekt: Wir beobachten weniger einen großen Intrigen-Plot, ausgetragen nach typischen Hollywood-Film-Schemen, sondern so eine Art Zersetzungsprozess, da hier und dort einmal etwas wegbricht. Holz gerät nicht in Wut oder Trauer ob seiner Zersetzung, und manchmal bringt der Prozess, etwa mit Moosen, Flechten und Pilzen, gar neue Schönheit zu Tage.

Die große Stärke dieses Romans ist seine Sprache. Besonders in der ersten Hälfte folgt Bild auf Bild, ohne dass eines aus der allgemeinen Trägheit des Ganzen unpassend herausstechen würde.

“Weil der Schritt Jonathan Graews schwerer war und der Wind von seiner Seite kam, hörte man ihn länger. Sie gingen schnell, das heißt, so schnell, als der Wind ihnen erlaubte; die Laterne stach in tintenschwarze Pfützen hinein, der Rücken der Steine glänzte wie lackierte Kröten; ein Fäulnisgeruch stieg aus den Wagengeleisen empor, etwas Rauhes, Herbes, Altersgraues, das in die Nase drang und mit Glück erfüllte. Die Hecke warf einem den Wind an den Kopf, die Straße drückte ihn flach gegen den Rücken, man spürte ihn wie eine große, flache, eilige Hand zwischen die Schultern fahren, und zuletzt fiel er ab; dann hatte man ebenfalls den Eindruck zu fallen, auf die Straße und den nassen Pferdemist niederzusinken, und dann fuhr er plötzlich unter die Röcke, man schwebte in der Luft, man flog, und zuletzt hatte man nasse Blätter im Gesicht, und dann fing alles wieder von vorne an. Die letzten fünfhundert Meter waren eine harte Arbeit gegen die sinnwidrigsten Hindernisse. Die hin und her gejagte Laterne fälschte alles; eine Platane wurde ein Füllen, die Hecke ein galoppierendes Tier, im Weiher klatschte das Wasser, der Wind warf sich auf die Welt, die Äste warfen sich in den Wind hinein; man hörte die Baumrinde krachen, die Blätter bündelweise fallen; der Geruch der gebrochenen, sterben den Pflanzen sprang noch einmal in den Sturm hinauf; es roch nach Astern, nach Dahlien, ein wenig nach gelben Gänseblümchen und nach eingekellerten Kartoffeln. Jungfer Huguenin glich in ihrem schwebenden Radmantel einem jener armen Engel, die man in Friedhöfen sieht. Carolle Alérac hielt die Laterne fest in der Hand; sie war glücklich, so wie sie ging, die Lippen leicht geschürzt (…)”

Doch die Bilder sind zugleich nicht Selbstzweck, sie entfalten die Welt und tragen letztlich auch die Handlung, die sich langsam aber stetig entwickelt. Obwohl mir weder Name noch Titel etwas sagten, habe ich das Buch mitgenommen. Ausschlag gab ein Text von Hermann Hesse innen auf dem Schutzumschlag, den ich hier zitieren möchte, da er denke ich die Wirkweise des Buches wirklich gut trifft:

“In „Morsches Holz“ wird mit einem äußerst feinnervigen Impressionismus eine unendliche Flucht von Bildern hingestellt, Bilder des Alltäglichen und Kleinsten, Bilder von Häusern, Stuben, Tischen, Bäumen, Schneeflocken, Bilder wie das der gebratenen Ente im Haus der Aléracs, der Ente mit der Orange und der grünen Wachskerze, oder im zweiten Teil des Romans jene Bilderfolge, in welcher Frau Vauthier und ihre Küche geschildert werden – es ist wie das Skizzenbuch eines geistreichen, leidenden und durch Arbeitsamkeit gegen sein Leiden ankämpfenden Malers, der ohne Sinn in scheinbar zufälliger Folge alles aus seiner Umwelt abzuschreiben und festzuhalten versucht, was irgend seinen Augen zum Erlebnis wurde. Aber hinter dieser Bilderfolge entsteht eine andere, festere Schicht, während wir scheinbar nichts anderes tun, als diesen kleinen holden Einfällen lauschen, als diese lieben, zart hingemalten Augenblicksbilder betrachten, erfahren wir nebenher und wie durch Zauber die Geschichte einer Familie, zweier Familien, dreier Familien bis um drei Generationen zurück, ja die Geschichte einer Gemeinde, einer ganzen Siedlung. Es ist die Gegend von Chaux-de-Fonds im Jura, die Heimat der Dichterin. Vermutlich ist sie mit größerer Genauigkeit beschrieben, aber sie ist nicht minder verwandelt, denn sie hat nicht nur jene Zerstückelung in eine Menge winziger, impressionistischer Einzelbilder erfahren, sondern auch eine rein dichterische, aus tiefem Wissen und Leiden her stammende Beseelung und Transparenz.”

Ja, diese Kritik und Empfehlung könnte gut das Größte sein, das der meist schrecklich überbewertete Hesse zur deutschsprachigen Literatur beigetragen hat. Okay, von mir aus der Steppenwolf noch.

Schwierig festzumachen ist übrigens, wann der Roman spielt. Er könnte gut irgendwann im 19. Jahrhundert spielen, wahrscheinlich spielt er jedoch irgendwann in der ersten Hälfte des 20. Ein oder zweimal stechen Worte heraus, die überhaupt nicht in den restlichen Stil passen und einen zeitlichen Kontext markieren dürften. „Christian Science“ etwa. „Morsches Holz“ ist der einzige Roman der Autorin, den ich bis jetzt auch relativ günstig antiquarisch gefunden habe, was schade ist. Ich würde dem gesamten Zyklus gerne eine Chance geben. Die kleine Hoffnung: Monique Saint-Hélier müsste nächstes oder übernächstes Jahr gemeinfrei werden. Viel Grund zur Hoffnung ist das allerdings nicht, denn es müsste sich ja erstmal jemand die Mühe machen, die Texte zu scannen und hochzuladen, und bei einer relativ unbekannten Autorin ist das deutlich unwahrscheinlicher als, sagen wir, bei Irmgard Keun, wenn es soweit ist.

Bild: wikiart, gemeinfrei.

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