Der einzige Shortlist-Roman, der den Preis noch verdient: „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon.

“Alle sechs Titel hätten die Jury in ihrer ästhetischen Eigenheit überzeugt. „Gemeinsam ist ihnen: eine künstlerische Unbedingtheit.“” –

So gibt die ZEIT die Erwägungen wieder, die zu der Auswahl für die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geführt hätten. Diese Aussage lässt sich höchstens für „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon wirklich nachvollziehen, mit stärkeren Einschränkungen vielleicht noch für „Spitzweg“ von Gerhard Nickel. Was an einer von A nach B erzählten Romanbiografie einer Mutter, verfasst von der Tochter („Lügen über meine Mutter“), an einem ebenfalls biographisch aufgebauten Schelmenroman („Trottel“) oder einem wohlbalancierten, aber in keiner Weise radikalen Text wie “Nebenan” von künstlerischer Unbedingtheit zeugen soll, das müsste die Buchpreis-Jury doch bitte wirklich einmal genauer ausführen. Ich verstehe „Unbedingtheit“ hier als die Eigenschaft eines Werks, das seine Form aus dem Gegenstand heraus begründet, statt einfach epigonal so zu erzählen, wie man es gerade an den Literaturschulen lehrt und/oder wie es das Gros der Gegenwartsliteratur nun einmal zur Zeit macht. Das verstehe ich so, weil ich mir einreden möchte, dass „künstlerische Unbedingtheit“ nicht nur eine leere Marketingphrase sein soll, sondern den ProtagonistInnen des Preises, der diese postuliert, noch irgendetwas bedeutet.

„Blutbuch“ erzählt die Geschichte einer Person, die sich innerhalb des binären Spektrums von männlich und weiblich nicht auf eine Rolle festlegen möchte und kann. Jedoch ist „Blutbuch“ thematisch deutlich breiter gefasst. Ausgehend von Lebenssituationen der erwachsenen Hauptfigur wird weit in die Familiengeschichte zurückgegriffen, wobei besonders die Auseinandersetzung mit Mutter und Großmutter im Mittelpunkt steht. Immer wieder damit in Verbindung gebracht wird die Vorstellung, als Kind eigentlich überhaupt keinen Körper gehabt zu haben, während besonders die Großmutter in sehr detaillierter Körperlichkeit beschrieben wird. Eigentlich ist der gesamte erste Teil des Romans eine poetische Meditation über das Leben der Großmutter, ausgehend vom Körper der Großmutter, weshalb zahlreiche Kapitel Überschriften tragen wie „Großmeers Hände“, „Großmeers Füße“, „Großmeers Mund“ und so weiter und so fort (Großmeer=Großmutter im Schwyzerdütschen der Hauptfigur). Besonders dieser Teil glänzt mit starken bildlich gefassten Beschreibungen und Gedanken.

Ebenfalls immer wieder zurück kehrt der Text zur Blutbuche im Garten der Großeltern, die mal als etwas vorgestellt wird, dem die Hauptfigur sich angleichen möchte, aber zugleich auch als Kristallisationspunkt zahlreicher Kulturkämpfe imaginiert wird.

„Künstlerisch unbedingt“ kann man „Blutbuch“ nennen, da der Text über weite Strecken tatsächlich aus der jeweiligen Situation heraus seine Sprache neu begründet. Den poetischen Meditationen des ersten Teils folgt ein kindlich verkürzter Stil im zweiten, der „Die Suche nach der Kindheit“ betitelt ist. Wenn die Mutter über Hexen forscht, werden biografische Passagen in älteren Formen des Schweizerdeutschen eingeschaltet, als Erwachsene berichtet die Hauptfigur sehr drastisch und direkt, und wenn die Hauptfigur ihre Briefe an die Großmutter schreibt, die sie auf Deutsch nicht verfassen könnte, stehen diese in einem einfachen Englisch (freundlicherweise aber im Anhang übersetzt). Besonders tief taucht der Text in die Sprachformen des Schweizerdeutschen ein, mit dem die Hauptfigur trotz auch gewisser Ablehnung als Sprache der Mutter und Großmutter eine starke Verbindung aufweist. Es gibt Textpassagen, bei denen ein Wörterbuch Deutsch-Schwyzerdütsch durchaus hilfreich wäre.

Ich will nicht sagen, dass „Blutbuch“ ein rundum gelungener Roman ist. Ab der zweiten Hälfte beginnt sich der Text doch etwas zu ziehen, und die von der Mutter zusammengetragenen Biografien von sogenannten Hexen, die vor allem illustrieren, wie Frauen in früheren Zeiten zu kämpfen hatten, sind vielleicht etwas ausgedehnt geraten. Aber nachdem mit „Ein simpler Eingriff“, „Eine Liebe in Pjöngjang“ und „Freudenberg“ die einzigen ernstzunehmenden Konkurrenten mal wieder bereits vor der Shortlist eliminiert wurden, ist dies der Roman, der unter den verbliebenen sechs den Deutschen Buchpreis verdient hätte und ihn auch ansonsten verdient hat. Nicht einmal in erster Linie, weil er ein wichtiges Thema aufgreift, wie dann im Anschluss die Presse wahrscheinlich wieder verkünden wird. Sondern weil es sich mit Abstand um den sprachlich und formal stärksten, Sprache und Form aus dem Gegenstand begründenden, Text handelt und auch vom Buchpreis abgesehen um eine der literarisch stärkeren Neuerscheinungen des Jahres.

Bild: Pixabay

3 Kommentare zu „Der einzige Shortlist-Roman, der den Preis noch verdient: „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon.

  1. Mir hat ganz persönlich „Dschinns“ sehr gefallen, vom Rhythmus, Tempo, von der drastischen Geradlinigkeit der Erzählung. Ich bin noch bei der Lektüre von „Blutbuch“ … bisher bin ich sehr ratlos. Es reißt mich nicht mit. Ich weiß nicht einmal, ob ich sagen kann, ob es mir gefällt oder nicht. Mal sehen, wie sich die Lektüre entwickelt.

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