Ein Roman mit deutlich faschistischen Zügen. Mishimas „Runaway Horses“ (Unheimliche Nähe II).

„Runaway Horses“, der zweite Teil der „Meer der Fruchtbarkeit“-Reihe von Yukio Mishima, ist schon deutlich näher an dem, was man von dem Autor und besonders von dessen Spätwerk erwarten würde, wenn man nur seinen Lebensweg kennt. Mishima ist, grob gesprochen, irgendwo zwischen hochtraditionell konservativ und rechtsradikal anzusiedeln, und er tötete sich 1970, nachdem er einen dilettantischen Putschversuch anleitete. Während „Spring Snow“ noch eine sehr vergeistigte Ästhetisierung einer Jugend war, bei der man schon zwischen den Zeilen lesen musste, um solche Tendenzen vielleicht herauszufiltern, die aber doch immer von der Kraft der Erzählung konterkariert wurden, geht es in „Runaway Horses“ genau um einen solchen gescheiterten Putschversuch.

Honda, der Jugendfreund von Kiyoaki im vorherigen Roman, ist mittlerweile Mitte/Ende 30 und Richter. Wir befinden uns kurz nach dem sogenannten „Zwischenfall am 15. Mai„, und Honda besucht einen Kendowettkampf, wo er begeistert ist von der Anmut und Kraft der jungen Männer. Einer gefällt ihm besonders, und er entdeckt drei Muttermale an seinen Armen, die ihn auf die Idee bringen, es handele sich um die Reinkarnation seines Freundes Kiyoaki. Dieser junge Mann ist Isao, der Sohn von Linuma, einem Diener von Kiyoaki aus dem ersten Teil. Isao ist mittlerweile ein bedeutender Anführer einer rechtsradikalen Bewegung. Isao schenkt Honda sein Lieblingsbuch, das aus der Sicht der Aufständigen, sehr heroisch verklärt, den Aufstand von 1876 nachzeichnet, und wir bekommen das komplette Buch zu lesen. Danach verlegt sich die Erzählung größtenteils auf Isao, mit einigen Kapiteln, die bei Honda bleiben. Isao plant mit Freunden eine Aktion, mit der sie zuerst Post und Militär unter ihre Gewalt bringen möchten und die japanischen Köpfe des „internationalen Kapitalismus“ töten oder, als ihr Freund beim Militär sich zurückzieht, bloß noch letzteres.

Der Text hat weiterhin seine Stärken in der Ästhetisierung von Erfahrungen, wobei diese Ästhetisierung nicht voraussetzungslos geschieht, sondern stets als abhängig vom Blick eines Menschen markiert wird:

„The window was beginning to whiten. In the pane of glass enclosed by a frame carved in Momoyama style, the reflection of Honda’s night lamp shimmered like a dawn moon. Against the faint light of the sky he could already make out the five-storied pagoda of Kofuku Temple rising up beyond a grove of trees encircling a pond. Only the three top stories and the spire thrusting itself upward into the dawn were visible. As he gazed at the pagoda, hardly more than a shadow in a corner of the gray sky, Honda felt as if he had awakened only to fall into another dream, like a man who thinks that he has escaped from one kind of irrationality only to find himself in the midst of another, even more persuasive…”

Was aber ästhetisiert wird, ist in viel hemmungsloserer Weise als zuvor harte Männlichkeit, Tradition im Gegensatz zur Moderne, und nicht zuletzt die Bereitschaft, sein Leben zu geben für eine größere Sache. Das soll nicht heißen, dass der Roman wirklich eindeutig ist in seiner Botschaft. Romane, die überhaupt noch als Romane verfasst sind und nicht als Pamphlete, haben kaum die Möglichkeit, in dieser Weise eindeutig zu sein. Eigentlich halte ich es nicht für nötig, bei Texten der Weltliteratur, die im Fachartikeln rauf und runter diskutiert werden, vor Spoilern zu warnen. Eine auch nur halbwegs vollständige Besprechung kann nicht verschweigen. Aber da die meisten Deutschen Lesenden wahrscheinlich von Mishima noch nie gehört haben, sei dies der Abstandshalter. Wenn ihr jetzt immer noch nicht aufgehört habt, weiter zu lesen dann sei es so.

Im Fall von „Runaway Horses“ ist es erst Honda, der ein gewisses Gegengewicht zu Isaos Kampf- und Todespathos liefert. Wo er auch den Zielen des Jungen nicht abgeneigt ist, mahnt er doch zu Mäßigung, ist überzeugt, dass man im Alter viele Dinge klarer sehen würde. Später ist es dann ausgerechnet der rechtsradikale Vater, der die junge Gruppe verrät, einerseits, weil er es nicht ertragen würde, den Sohn zu verlieren, andererseits aus der Überzeugung, dass Aufdeckung und Verhaftung das Volk hinter die Aufständischen bringen würden und in der nächsten Krise statt ein paar wirkungslosen Attentaten eine tatsächliche Revolution nach sich ziehen. Der Roman ist dabei sehr klarsichtig ob der Frage, warum der Staat so viel harscher mit linken Gegnern umspringt als mit Rechten:

„Easy now. Calm down, don’t be foolish. It’s very simple. You don’t give us any trouble.”
“And that’s because my ideas are rightist?”
“That’s part of it. But rightist or leftist, anyone who gives us trouble is going to pay for it. Still, when all is said and dene, those Reds . . .”
“Is it because the Reds won’t accept our national structure?”
“That’s it. In comparison to them, Iinuma, you and your friends are patriots. Your thoughts are in the right direction. It’s only that you’re young. The trouble is, you’re too pure, so you went to extremes. Your purpose is good. It’s your methods. What about making them more gradual, toning them down a bit? If you made them a little more flexible, everything would be fine.“

Eine Tatsache, die Isao sehr verletzt, und er fordert: „Foltert mich auch!“. Das ist der eine Moment, in dem die „Roten“ vielleicht sogar stärker erscheinen als die Rechte, denn der Wächter antwortet:

“You’re quite a debater, aren’t you? Now, don’t get so excited. I’ll tell you just one thing that would be good for you to know. There’s not a man among those Reds that asked to be tortured, as you’re doing. They take it if they have to. They’re not like you, they don’t respond to us even if we torture them.”

Später, vor Gericht, könnte man Isaos Erklärungen, wie und warum er sich das mit seinem Aufstand so gedacht hat, durchaus als Selbstentlarvung lesen, es klingt durchweg lächerlich, etwa:

“I never thought in terms of killing people, only of destroying the deadly spirit that was poisoning Japan. And to do so I had to tear away the robe of flesh with which this spirit was garbed. By this action the souls of those whom we cut down would also become pure, and the bright, wholesome Yamato Spirit would come alive in their hearts again. And they, with my comrades and me, would rise to heaven. For we in turn, after destroying their flesh, had to commit seppuku immediately. Why? Because if we did not cast aside our own flesh as soon as possible, we could not fulfill our duty as bearers of an urgent message for heaven.
Even speculating on the Imperial Mind is disloyal. Loyalty, I think, is nothing else but to throw down one’s life in reverence for the Imperial Will. It is to tear asunder the dark clouds, climb to heaven, and plunge into the sun, plunge into the midst of the Imperial Mind.”

Ich gehe davon aus, dass Mishima es nicht lächerlich gemeint hat, aber das eben sind die Kräfte, die ein Text im Dialog mit den Lesenden entwickelt. Was ein Text „aussagt“, hängt vielleicht stärker davon ab, wer ihn liest, als wer ihn geschrieben hat.

Die Ästhetisierung des Todes

Besonders ins Auge sticht natürlich, wie die jugendlichen Rebellen ihren eigenen Tod viel stärker ästhetisieren und glorifizieren, als dass ihnen der tatsächliche Erfolg ihrer Sache im Mittelpunkt steht. Das ist meines Erachtens nicht nur eine Eigenschaft der Ideologie Mishimas oder auch nur des japanischen Faschismus oder der japanischen Reaktion, auch wenn es hier natürlich bedeutende kulturelle Elemente gibt. Den Faschismus und seine verwandten Bewegungen versteht man nicht, wenn man nicht versteht, wie viel Todeskult darin immer wieder mitspielt. Und wo immer eine Organisation eine solche Todesverachtung oder sogar Glorifizierung bzw. Ästhetisierung des eigenen Sterbens zeigt, dürfte man zielsicherer auf ein im Kern faschistisches Denken stoßen als bei all den oberflächlichen strukturellen Betrachtungsweisen (Führerprinzip, paramilitärische Truppen und so weiter), an die man sich heute gewöhnt hat und die auch zahlreiche andere totalitäre Bewegungen aufweisen.

Das zweite Phänomen, das dieser Roman fast prototypisch vor Augen führt, ist das, was Thomas Mann die „unheimliche Nähe von Ästhetizismus und Barbarei“ nannte. Dass die meisten Ästhetizisten zumindest faschistoide Tendenzen hatten, sobald sie politische Systeme entwickelten oder sich politischen Bewegungen anschlossen, stand Mann noch ganz praktisch aus der Zeit vor Augen. Mittlerweile hat man sich dieser Einsicht weitgehend verschlossen, so sehr, dass man weiten Teilen der Bevölkerung einreden konnte, gelungene Kunst sei eigentlich durchweg links oder zumindest irgendwie liberal. Quasi eine hochgestochene Variante der Volksdummheit, nach der „böse Menschen … keine Lieder“ hätten (dabei gibt es sogar Lieder, die man zum Morden und Brandschatzen singt). Nicht nur die wenigen Autoren und Autorinnen, die die Linke tatsächlich relativ eklektisch in den Giftschrank gesteckt hat (Ernst Jünger beispielsweise, mit Abstrichen Celine, George), standen weit rechts oder waren erklärte Faschisten. Selbst Zeitgenossen, die man sich teilweise oder zeitweise beinahe eingemeindet hat, wie Gottfried Benn und Fjodor Dostojewski, waren das. Benn war sogar ein lupenreiner Nazi. Und liest man viele „unpolititische“ Schöngeister des 19. und 20. Jahrhunderts aufmerksam, wird man zumindest auf Keime von elitär-konservativem bis protofaschistischem Denken stoßen. Ich erinnere mich noch, wie nach dem Auftauchen der schwarzen Hefte zuerst erklärt wurde, Martin Heideggers Antisemitismus sei ja in erster Linie „metaphysischer Natur“, und dieser Typ, der sich selbst mehrfach der NSDAP angedient hat, könne deshalb gar kein Nazi sein. Aber der Faschismus und als dessen volkstümlichste Unterart auch der Nationalsozialismus und besonders dessen Antisemitismus sind und waren ja gerade immer ein metaphysisches Konzept, der Faschismus eine durchaus hochvergeistigte und stets das Ästhetische in alle gesellschaftlichen Bereiche mit einbeziehende Weltanschauung. Ich fürchte, die deutschen Stiefelnazis der 90er Jahre und das klassische Nazi-Bild des Hollywood-Films haben den Blick darauf weitestgehend verstellt. Was aber auch bedeutet, dass viele selbsterklärten Antifaschisten ihren Feind kaum kennen und immer wieder staunend vor klugen oder sogar schöngeistigen Faschisten stehen wie der Ochs vorm Berg.

Allein, um davon ein Verständnis zu gewinnen, lohnt es sich, auch diesen Roman Mishimas zu lesen. Es ist überhaupt ein so erzählerisch wie kompositorisch starker Roman mit nur ein oder zwei Durchhängern. Und dennoch, trotz aller Uneindeutigkeit, sollte man sich, im Gegensatz zum Vorgänger, nicht scheuen, dieses Buch ein faschistisches Buch zu nennen. Ob Isaos Vater oder Honda, beide scheinbaren Gegenkräfte zum jungen Aufstand, teilen spätestens zum Schluss die Ziele der Aufständischen, wenn auch nicht die Mittel. Auch die Gesellschaftskritik gleicht sich.

Für Isao ist das allerdings nicht genug. Auf einem Freigang besorgt er sich ein Messer und ermordet zum Schluss einen „Großkapitalisten“. Und auch wenn der anschließende Selbstmord nicht genau in der Weise gelingt, wie er sich das erträumt hat, bringt er im Tod quasi durch einen Akt der Schöpfung die Sonne selbst hervor, die eigentlich seinen Selbstmord bescheinen sollte. Die Annahme des eigenen Todes mit ihrer kultischen Verklärung des Samurai-Ideals wird gewissermaßen zum protofaschistischen Schöpfungsakt.

Bild: Pixabay.

Die Romane Mishimas werden Teil einer Reihe im Blog werden, die Versucht, den Konnex „Ästhetizismus und Barbarei“ genauer zu umkreisen, als das bisher geschehen ist und dabei einige Gründe für diese Verbindung herauszuarbeiten, soweit sich das verallgemeinern lässt.
Bereits als Teil der Reihe dürfen gelten:

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