„Ästhetizismus und Barbarei“ I – Yukio Mishimas „Meer der Fruchtbarkeit“ – „Schnee im Frühling“

„Schnee im Frühling“ von Yukio Mishima ist tatsächlich viel eher der Roman, den ich von Tanizaki erwartet hätte, nachdem ich dessen Essay „In Praise of Shadows“ gelesen habe. Eine detailreiche Ästhetisierung von Alltagserfahrungen, in der die Geschichte oft weit hinter das momentan Beobachtete zurücktritt. Die deutsche Ausgabe ist oft nur sehr teuer antiquarisch zu bekommen. Entsprechend habe ich eine englische Übersetzung gelesen.

Die Handlung des 400-seitigen Romans ist vordergründig relativ einfach: Kiyoaki, Sohn einer erst kürzlich zu Reichtum gekommenen Samurai-Familie, ist in enger Verbundenheit mit Satoko aufgewachsen, der Tochter einer einst einflussreichen, aber im Niedergang befindlichen Adelsfamilie. Satoko ist offenkundig in Kiyoaki verliebt, der deren Interesse aber bemüht deutlich immer wieder zurückweist. Dann bahnt sich eine Heirat mit dem Herrscherhaus an, und plötzlich stellt Kiyoaki fest, dass er doch in Satoko verliebt ist. Die beiden beginnen zum ungünstigsten Zeitpunkt eine Affäre.

Das Buch beginnt sehr langsam, wird aber in der zweiten Hälfte spannend genug und hält einige dieser „jetzt seid doch nicht so dumm“ Momente bereit, wegen derer man auch moderne Serien weiter verfolgt. Es ist jedoch nur das Gerüst, auf dem der Autor eine besondere Ästhetisierung des Alltags einer japanischen Oberschicht aufbaut, die sich ihre Stellung, ihre Rituale und auch ihre Ästhetik immer wieder selbst bewusst machen muss, da eine Durchmischung der Klassen längst im Gange ist und auch die Einflüsse westlicher Kultur und eines alles verändernden Kapitalismus unaufhaltsam Fuß fassen. So ist der Autor dann auch immer wieder bestrebt, darauf hinzuweisen, welche Teile eines Anwesens etwa im westlichen Stil gebaut sind, wer und zu welchen Anlässen westliche oder traditionelle Kleidung trägt und so weiter (wir kennen das von Tanizaki). Aber obwohl Mishima noch ein gutes Stück konservativer sein dürfte als Tanizaki (eingeordnet wird er irgendwo zwischen ewig gestrig, kaisertreu und, besonders von seinen Gegnern, Faschismus; berühmt ist er für einen lächerlich schlecht organisierten Putsch 1967, nachdem Mishima Seppuku beging), geht auch hier die einfache Gleichung „traditionell=gut, westlich=schlecht“ nicht auf. Mishima zeichnet ein Bild einer komplexen gesellschaftlichen Veränderung und glaubhafte runder Charaktere darin.

Im Vergleich mit anderen ästhetizistsch orientierten Autoren, und vielleicht auch breiter Spätromantikern, fällt dabei die besondere Bedeutung des Blickes auf. Der Ästhetizismus oder wiederum breiter das ästhetisierende Schreiben in der westlichen Literatur hat meines Erachtens grob zwei Richtungen: diejenigen, die das Ästhetische im Gemachten betonen, die aktive und bewusste Verkunstung des Lebens, mit Huysmans als den herausragenden Vertreter, und diejenigen, die das Ästhetische scheinbar im Äußeren finden, in der Natur, in der Architektur, in der Kunst, wobei aber selten das Finden bzw. das Anschauen selbst als konstituierendes Moment mitgedacht wird. Genau das geschieht jedoch bei Mishima allenthalben, etwa:

“„Left to himself, Kiyoaki looked up at the tree above him and for the first time that day gave some thought to the cherry blossoms. They hung in huge clusters from the black austerity of the branches like a mass of white seashells spread over a reef. The evening wind made the curtains billow along the path, and when it caught the tips of the branches, they bent gracefully in a rustle of blossoms. Then the great, widespread branches themselves began to sway with an easy grandeur under their weight of white. The pallor of the flowers was tinged here and there by pink clusters of buds. And with almost invisible subtlety, the star-shaped center of each blossom was marked with pink in tiny, sharp strokes, like the stitches holding a button in place.
The sky had darkened, and the outline of the clouds began to blur as they merged into it, and the blossoms themselves, already turned into a single mass, began to lose their distinctive coloring for a shade that was almost indistinguishable from that of the evening sky. As he watched, the black of the tree trunk and branches seemed to grow steadily heavier […]“”

Oder:

„If he gazed fixedly at the clouds, he noticed no alteration, but if he looked away for a moment, he found that they had changed. Without his realizing it, their heroic mane became ruffled like hair disheveled in sleep. And as long as he kept his eyes on it, this new disorder persisted in just the same slow-moving way.
What had disintegrated? One moment their brilliant white shapes dominated the sky, and the next, they dissolved into something trivial, an enervated banality. Yet their dissolution was a kind of liberation. For as he watched, their scattered remnants gradually reformed and as they did so, they cast strange shadows over the garden as if an army were marshaling its forces in the sky above. Its might first overshadowed the beach and the vegetable field, and then, moving up toward the house, it overran the southern border of the garden. The vivid colors of the leaves and flowers that covered the garden slope, laid out in imitation of Shugakuin Palace, glowed like a mosaic in the dazzling sunlight—maples, sakakis, tea shrubs, dwarf cedars, daphnes, azaleas, camellias, pines, box trees, Chinese black pines, and all the others […]“”

Die Natur ist ihm nicht einfach in einer bestimmten Weise schön, und wenn man schaut, sieht man das und fertig. Ebenso Architektur. Immer braucht es den auffinden Blick, der dabei nicht unbedingt kühl-analytisch gedacht wird, aber doch mit bestimmten Fähigkeiten zum überhaupt erst konstruieren von Schönheit. auch das ist ein zweischneidiges Schwert und nicht durchweg positiv konnotiert. Besonders verräterisch eine Schlittenfahrt von Kiyoaki mit Satoko, während der dieser erstmals auf die Idee kommt, er könnte vielleicht doch in Satoko verliebt sein. Aber nicht, weil ihn einfach gewisse Gefühle überkommen, sondern weil Kiyoaki über das Bild nachdenkt, dass die beiden ergeben. Über die ästhetische Schönheit des Moments und über ihre beider körperliche Schönheit zusammen. Entsprechend flaut die Verliebtheit auch wieder rasch ab und wird erst durch die Eifersucht später wiederentdeckt. Kiyoaki ist vielmehr in die Idee der beiden als Paar verliebt als in die tatsächliche Frau mit ihren tatsächlichen Charaktereigenschaften. Ich würde sogar behaupten, das bleibt so. Es ist die Panik, die Idee aufgeben zu müssen, falls es tatsächlich zur Ehe mit dem Sohn der Herrscherfamilie kommt, was Kiyoaki schließlich zurück zu Satoko führt.

Wenn man über Mishima schreibt, kommt man nicht drumherum, auch über den Politiker zu schreiben. Ehrlich gesagt finde ich es faszinierend, wie wenig dessen Politik dazu führt, dass etwa auch linke Leser sagen: den lese ich nicht. Nicht dass ich jemals für diese Haltung eingetreten wäre: Lest stets, bildet euch ein Urteil! Man versteht die Welt nicht, wenn man sich bestimmte Gedanken einfach vorenthält, statt sie kritisch zu durchdringen. Ich möchte mich nicht zum Experten stilisieren, denn ich weiß über den Autor auch nicht viel mehr, als was man auf Wikipedia nachlesen kann. Doch Mishima dürfte sich in ähnlichen Gefilden bewegen wie Ernst Jünger oder D’Annunzio, und die beiden finden sich bei vielen Lesern bekanntlich im Giftschrank wieder. Ob nun Faschist, Monarchist oder nur sehr konservativ, das ist meiner Ansicht nach Augenwischerei: Der Mann hat aus Angst vor einer Bedrohung vor allem durch linke Studentenproteste versucht, gewaltsam eine sowieso schon nicht besonders progressive Regierung zu stürzen und sich im Anschluss umgebracht. Was die Propaganda der Tat betrifft, überholte Mishima andere weit rechts stehende Autoren also spielend. Aber „Schnee im Frühling“ ist ein objektiv starkes Buch. Stilistisch, kompositorisch, in seinen Figuren. Für Menschen, die nur Spannungsliteratur lesen, wahrscheinlich zu langatmig. Aber für alle, die sich tatsächlich für Literatur interessieren, auf jeden Fall eine interessante Lektüre. Eine, die man bei ernsthaftem Interesse an internationaler Literatur schon ob ihrer weitreichenden Bedeutung in der japanischen Literatur nicht ignorieren kann. Wiki weiß:

„The tetralogy was described by Paul Theroux as „the most complete vision we have of Japan in the twentieth century“. Charles Solomon wrote in 1990 that „the four novels remain one of the outstanding works of 20th-Century literature and a summary of the author’s life and work.““

Interessant allerdings auch, wenn man ergründen möchte, was Thomas Mann die „unheimliche Nähe von Ästhetizismus und Barbarei“ (aus dem Gedächtnis zitiert) nannte, die Tatsache, dass viele gerade der schöngeistigsten Autoren der Moderne Ideen von gewaltsamem Umsturz, autoritärer Gesellschaft und Ähnlichem überraschend stark zugeneigt waren, oft auf der Seite der Rechten, manchmal aber auch auf Seiten der Linken. Und zugleich stellt man einmal mehr fest, dass es einem die Kunst ernst nehmenden Schriftsteller dann trotz allem nicht möglich ist, einen einfach nur reaktionären Roman zu verfassen. Die Figurenkonstellationen, das Eingehen auf gesellschaftliche Aspekte, das Streben nach Schönheit, sie beginnen zu arbeiten und das Werk steht in einer Weise da, die es als Appell an eine engstirnige Weltanschauung absolut untauglich macht.

Die Romane Mishimas werden Teil einer Reihe im Blog werden, die Versucht, den Konnex „Ästhetizismus und Barbarei“ genauer zu umkreisen, als das bisher geschehen ist und dabei einige Gründe für diese Verbindung herauszuarbeiten, soweit sich das verallgemeinern lässt.
Bereits als Teil der Reihe dürfen gelten:

Bild: Pixabay.

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