„Interpretieren wir das nur rein“, oder: Wo kommen die Symbole her? Überlegungen nach einer Schullesung.

Vor ein paar Wochen war ich auf einer sehr interessanten Schullesung, die ein guter Freund organisiert hatte. Die Schülerinnen und Schüler hatten mein Buch „Zwölf Ausschweifungen“ und teilweise den Lyrikband „Stimmen in Ödland“ akribisch durchgearbeitet und entsprechend viele Fragen. Eine besonders interessante Frage, die vielleicht anfangs nur dazu da ist, den Lehrer zu ärgern, über die man aber doch einmal detailliert nachdenken sollte, ist die, wie eigentlich die „Symbole“ und Anspielungen in den Text kommen, die im schulischen Kontext regelmäßig gefunden werden sollen. Oder die provokativere Formulierung: „Interpretieren wir das da eigentlich nur rein, oder machen Autorinnen das tatsächlich alles mit Absicht?“
Als Autor kann man da die Lehrpersonen nicht immer zufriedenstellen. Ja, es gibt Symbole, die relativ bewusst konstruiert sind, etwa in der ersten meiner Tramper-Geschichten „Tramper-Geschichten: Barcelona“, wenn der Reisende sich am Ende zum Bahnhof aufmachen muss, sich durch die Reihen der Vogelverkäufer kämpft und dabei der Blick an einem großen Papagei im Käfig hängen bleibt, auf dem sich ein Sperling niederlässt. Der Reisende denkt über die Vögel nach, darüber, wie er zurück muss in den deutschen Alltag und wie seine Freunde sich zur gleichen Zeit um ein Schiff bemühen, um weiter zu trampen über den Ozean und durch Lateinamerika. Er steigt schließlich in die Tiefen des Bahnhofs, der Sperling erhebt sich und fliegt gen Süden, also in Richtung des Hafens, und der Papagei schreit wie wild. Die Art und Weise, wie da die Vögel den Gefühlshaushalt spiegeln, ist natürlich beabsichtigt. Allerdings könnte ich selbst hier nicht mehr sagen, ob ich nun ganz bewusst an dem Text gesessen habe und gesagt habe: „Ah ja, was da genau fehlt, ist Vogelsymbolik.“ Die Vögel, der Tramper, sie sind da, wenn man über das Leben auf der Straße in Barcelona schreibt. Der Rest mag sich dann als geradezu Notwendig einfach aufgedrängt haben. Aber ja, hier kann ich immerhin guten Gewissens sagen: Das ist relativ bewusst konstruiert (und sollte sich dann natürlich im Text trotzdem nicht konstruiert lesen).

Die Überfahrt als Coming-of-Age-Bild?

Aus der Erzählung „Die Überfahrt“ haben die Schülerinnen und Schüler dagegen unglaublich viele Symbole gezogen, die auf den Titel des ersten Bandes verweisen: „Irgendwo zwischen Kind und Erwachsen sein“. Symbole für das Überschreiten dieser Grenze, Coming-of-Age-Symbole, könnte man sagen. Im Zentrum stand die Überfahrt selbst. Sie stehe praktisch für diesen Weg ins Erwachsenwerden. Dass das Schlauchboot mit der Zeit immer mehr Luft verliert, stehe für die Schwierigkeiten, die diese Zeit bereithält. Das letzte Untergehen, aber gleichzeitig feststellen, dass das Ufer sehr flach ist und man längst stehen kann, für die Tatsache, dass alles vielleicht doch nicht so schlimm ist, die Grenze diffus, und dass es immer wieder Halt gibt. Die Versuche, das Boot zwischenzeitlich mit Babybel-Wachs zu stopfen, stehen für die oft rückblickend oft sinnlosen wirkenden wilden Kämpfe der Pubertät und des Erwachsenwerdens.

In diesem Fall musste ich allerdings zugeben: Das war gewiss nicht bewusst konstruiert, und es haben sich an dieser Stelle nicht einmal Bilder in die Geschichte geschlichen, die ganz einfach als aus meinem Unterbewusstsein gezogene Symbole gelten könnten. Die Entstehung von „Die Überfahrt“ ist deutlich einfacher: Als ich 16 wurde, habe ich angefangen, Alkohol zu trinken, und mit zwei Freunden dachte ich wirklich, es wäre einfacher, für eine Party auf der anderen Seite des Sees im Urlaub das Schlauchboot zu nehmen und die ein bis zwei Kilometer zu rudern, statt die 10 km rundherum mit dem Fahrrad zu fahren. Das Schlauchboot leckte immer mehr, wir haben versucht die Löcher mit Babybel-Wachs zu stopfen, irgendwann kam das Ding kaum noch weiter. Wir hatten zwar nicht, wie in der Geschichte, Todesangst, aber wir gingen ins Wasser, und tatsächlich konnte man dann sogar schon stehen. Nun ist es ohne weiteres möglich, dass ich mich falsch erinnere, dass ich Dinge vermische, dass vielleicht die Fahrt mit dem Absaufen eine andere Fahrt, etwa mittags, war, als die zur Party, und solcherlei mehr. Des Weiteren entsprechen fast alle persönlichen Beziehungen in dem Text nicht der Realität, sind bewusst so gewählt, dass sie gewisse Themen und Ideen herausarbeiten. Und natürlich konnte ich mich nach mehr als 20 Jahren an keine Gespräche mehr erinnern. Die Gespräche sind alle so gebaut, dass sie der Geschichte dienen und die Figuren und die Atmosphäre glaubhaft zeichnen. Auch war der Heimweg sehr viel weniger spektakulär. Aber ausgerechnet die scheinbar symbolischste Passage speist sich aus der Erinnerung und wurde nicht bewusst als symbolische Überfahrt konstruiert.

Interpretieren die Schülerinnen und Schüler das also alles da rein? Bzw., denn darum geht es den Schülerinnen und Schülern ja eigentlich, bringen die Lehrer uns in der Schule Unsinn bei, wenn sie uns darauf drängen, nach genau solchen Symbolen Ausschau zu halten, die helfen, möglicherweise eine tiefere Ebene eines Textes zu „entschlüsseln“?

Leben wir bereits „symbolisch“?

Ich denke nicht. Denn die Symbole sind ja definitiv da. Als die Schülerinnen und Schüler mir ihre Ergebnisse präsentiert haben, habe ich die ganze Zeit genickt und mir dabei gedacht, toll, wie aufmerksam die gelesen haben und was die da alles entdeckt haben. Das wird nicht dadurch durchgestrichen, dass ich es gewissermaßen beim Schreiben noch nicht entdeckt hatte. Es lässt sich überzeugend argumentieren, also stimmt es. Zumal ein fertiger Text eben nicht mehr für mich da ist, sondern für die Lesenden. Auch nicht für die Schule und für irgendeine Art von bestimmter Entschlüsselung, denn hier sollen am Text eigentlich ganz andere Dinge eingeübt werden, die Literatur ist vor allem Mittel, um diskutieren zu lernen, Gedanken klar zu formulieren, Dinge aufmerksam zu betrachten, und so weiter und so fort. Sie ist dafür da, dass die Lesenden Schönheit erfahren, gewisse Momente quasi in ästhetisierter Weise selbst erleben und so ihren Horizont erweitern und Bedeutung aus dem Text ziehen, Dinge, die ihr Leben berühren. Und genau das scheint mit den „Symbolen“ in „Die Überfahrt“ zu geschehen.

Aber wo kommen die nun verdammt noch mal her, wenn sie nicht, wie in „Tramper-Geschichten: Barcelona“ und natürlich vielen anderen Geschichten, bewusst oder zumindest halbbewusst konstruiert sind?

Ich denke, sie sind in gewisser Weise bereits vor dem Schreiben da, vielleicht schon auf der ganz einfachen Ebene des Erlebens. Wie kommt man denn als Jugendliche dazu, ausgerechnet mit 16, in dem Jahr, in dem man anfängt zu trinken, ein gottverdammtes Boot zu nehmen, um einen See zu überqueren, wo man doch wirklich auch da schon wissen könnte, dass es mit dem Rad schneller gehen würde, wahrscheinlich sogar zu Fuß? Haben Überfahrten nicht vielleicht eine so tiefe kulturelle Bedeutung, dass man sich tatsächlich zwecks Erleben eines Abenteuers dazu entscheidet, eine von Anfang an gewissermaßen symbolische Fahrt zu tun? In gewisser Weise erzählen wir uns unsere Leben ja schon, während sie geschehen, leben möglicherweise also tatsächlich bereits „symbolisch“.

Symbole sind Teil unseres „Mythenschatzes“.

Dann folgt natürlich die Entscheidung des Schreibenden für genau diese Geschichte und keine andere und das detaillierte Beschreiben genau dieses Teils der Geschichte. Ich hätte ja über unzählige Dinge in diesem Urlaub schreiben können, unzählige Geschehnisse. So ein Urlaub dauerte drei Wochen, hätte ich alles stenografiert, hätte ich ganze Romanreihen damit füllen können. Aber wie der berühmte Bildhauer, der auftrumpft, um einen Löwen aus einem Marmorblock zu schlagen, müsse man nur alles wegschlagen, was nicht nach Löwe aussieht, habe ich durch meine Wahl dieses Ereignisses alles weggeschlagen, was nicht nach Überfahrt aussieht, und was allein schon durch diese Wahl dann mit Bedeutung aufgeladen sein muss. Der Text konzentriert sich dann noch einmal vor allem auf diese Überfahrt, während andere Dinge eher angerissen werden, auf andere Erlebnisse nur angespielt. Diese Auswahl schafft Bedeutung, auch wenn mir die genaue Verbindung Erwachsenwerden-Überfahrt vielleicht beim Schreiben nicht bewusst war. Definitiv kannte ich aber zumindest prinzipiell die symbolische Bedeutung, die das Überqueren eines Gewässers im westeuropäischen Kulturkreis hat, und ich behaupte sogar, fast in allen nur denkbaren Kulturkreisen. Die Symbolik war also bereits im doppelten Sinne da, bevor sie überhaupt den Weg in den Text fand. Das ist, wie gesagt, nicht immer so. Symbolische Bedeutungsebenen in meinen Texten, und ich denke, ich kann verallgemeinern, in allen Texten, sind mit unterschiedlichen Graden der Bewusstheit entstanden. Hinzu kommt natürlich auch, dass solche Konstruktionen immer unbewusster, immer unkonstruierter entstehen können, je mehr Erfahrung im Schreiben man hat. So wie man etwa auch in der Musik, wenn man ein Instrument 20 Jahre beherrscht und vielleicht viel mit Freunden oder in der Band improvisiert hat, nicht mehr jedes Mal darüber nachdenken muss, wie man zur Melodie einen improvisierten Kontrapunkt spielt oder dergleichen. Ich denke, die Musik lässt recht gut zeigen, dass das Unbewusste oder nicht absichtliche Schaffen von Bedeutung nicht bedeutet, dass diese Bedeutung nicht da ist. Selbst ein Autodidakt, der nie mit der westlichen Tonalität in Berührung gekommen ist, der aber ein Instrument irgendwann so gut beherrscht, dass er ästhetisch runde musikalische Werke aufführen kann, würde gewisse Töne anschlagen, die Emotionen wie Trauer, Euphorie und so weiter hervorrufen, die vielleicht sogar „Geschichten“ erzählen. Man könnte nun ohne weiteres mit den Mitteln der Dur- und Moll-Tonalität bzw. einer Untersuchung, in welcher Weise diese Regeln gebrochen werden, aufzeigen, warum dieses Werk in einer bestimmten Weise funktioniert und bei vielen Menschen bestimmte vergleichbare Reaktionen hervorruft. Die Tonalität und ihre Erwartungshaltungen sind da, sie sind gewissermaßen kollektives kulturelles Erbe, in das wir alle täglich durch unsere Hörgewohnheiten eingeführt werden. Die meisten von uns kennen die „Regeln“ nur unbewusst, und mein fiktiver Musiker hier kennt sie sogar gar nicht. Aber trotzdem sind die Effekte, die seine unregelmäßige Musik produziert, objektiv vorhanden. Man interpretiert sie nicht einfach in das Werk, sondern vergleicht, wiederum unbewusst, sozusagen mit dem kollektiven musikalischen Mythenschatz und reagiert darauf, wie das Werk mit diesem konform geht und wo es aus ihm ausbricht. Wenn man selbst hier objektiv vorliegende Bedeutung vorfinden kann, dann umso mehr in Texten, die vielleicht nicht immer bewusst auf diese Symboliken, auf diese sogenannte tiefere Ebene hin, konstruiert sind, aber anders als im Fall unseres nie mit der westlichen Dur- und Moll-Harmonie in Kontakt gekommenen Musikers eben von Autorinnen und Autoren stammen, die selbst in einer Welt voller solcher Symbole leben, mit der Literatur groß geworden sind, aus der sie viele symbolische Bedeutungen mitgenommen und in ihr eigenes Leben integriert haben, und so weiter und so fort.

Vorsicht! Nicht alles ist gleichermaßen „Symbol“.

Natürlich heißt das nicht, dass nun jede Symbolik, die irgendwer in einem Text entdeckt, von der vielleicht Lehrerinnen und Lehrer sogar total überzeugt sind, tatsächlich gleich valide ist. Man muss es immer noch auch sauber argumentieren können, man sollte es eben nicht in den Text hinein interpretieren, sondern sich immer wieder der Bezüge im Text vergewissern und sich fragen: Stimmt das wirklich? Passt das tatsächlich in Verbindung mit dem Rest des Textes? Auch dahingehend gab es übrigens bezüglich anderer Geschichten von den Schülerinnen und Schülern auf der Lesung interessante Einwände.

Sehr schwierig sind meiner Erfahrung nach Farbsymboliken, auch darüber wurde während der Lesung diskutiert. Es gibt natürlich Texte, in denen Farben mit einem Netz aus Symbolen verknüpft sind, sodass man relativ deutlich schließen kann, dass diese Symboliken entweder beabsichtigt oder durch das Material (also die Ideen & Erlebnisse, aus denen man die Geschichte schöpft) in den Text eingedrungen und damit real sind. Es gibt aber auch diese berühmten Situationen, in denen einzelnen Farben in einem Text, der sonst eher nicht auf bedeutungstragende Farben baut, Bedeutung zugeordnet wird, nach dem Motto: „Sie schaut durch grüne Vorhänge in die Landschaft, grün ist Hoffnung, also bedeutet das, dass sie trotz allem noch Hoffnung hat.“ In solchen Fällen sollte ich schon sehr akribisch begründen, warum das Grün tatsächlich Bedeutung trägt und nicht einfach nur die Farbe der Vorhänge ist. Gewiss, in der Literatur der Vormoderne wäre eine bedeutungslose Farbe wahrscheinlich undenkbar gewesen. Die ganze Welt wurde stets symbolisch gedacht, und die Literatur entsprechend aufgebaut. Aber spätestens seit u.a. Flaubert gezeigt hat, dass man Realismus gerade auch damit schaffen kann, dass man unwichtige Gegenstände, unwichtige Details ausmalt, um die Welt plastisch zu gestalten, kann man sich nicht mehr darauf verlassen, dass tatsächlich jedes Detail symbolisch aufgeladen ist.

Ebenfalls vergewissern sollte man sich, dass der kulturelle Kontext, vor dem man Symbole interpretiert, überhaupt gegeben ist. Wenn wir, wie im obigen Beispiel, davon ausgehen, dass die Symbolik der Überfahrt für eine Coming-of-Age-Geschichte dermaßen präfiguriert ist, dass sie vielleicht schon die realen Erfahrungen mit beeinflusst hat, die schließlich in der Geschichte verarbeitet wurden, muss ich natürlich sicher sein, dass im kulturellen Kontext, in dem die Geschichte spielt, diese Symbolik existiert. Ich halte die Bedeutung der Überfahrt, wie gesagt, für relativ kulturübergreifend, kenne aber natürlich beileibe nicht alle denkbaren kulturellen Kontexte weltweit. Vielleicht müssten wir bei einem Autor oder einer Autorin, die aus einer sehr trockenen Gegend kommt, oder auf der anderen Seite aus dem Amazonasbecken, wo Flussquerungen oder gar ein Leben auf dem Fluss Alltag sein können, so dass Überfahrten eben gerade keine Besonderheit darstellen, eine solche Überfahrt sogar zwingend anders lesen.

Bild: Pixabay.

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