Wirkt unfertig, faszinierender Schluss. Mishimas „Meer der Fruchtbarkeit“ IV.

„The Decay of the Angel,“ der vierte Teil von Mishimas „Meer der Fruchtbarkeit“-Trilogie, wirkt irgendwie unausgegoren, phasenweise mehr wie ein Entwurf zu einem Roman, der nicht mehr komplett gestaltet wurde. Der Text ist deutlich kürzer, was für sich natürlich kein Problem ist und oft die Qualität fördert, aber vielleicht ist es ein Hinweis. Hier und da stößt man gar auf Passagen, in denen der Autor wichtige Geschehnisse in einer Weise zusammenfasst, wie er das in den drei vorangegangenen Romanen eher nicht getan hätte, im Gegenteil.

Auch die Geschichte ist deutlich einfacher. Honda ist mittlerweile in seinen Siebzigern und trifft gemeinsam mit seiner Freundin Keiko, die wir aus mindestens einem früheren Roman kennen, den jungen Hafenarbeiter Tōru. Er entdeckt die bekannten drei Muttermale und hält ihn für die dritte Wiedergeburt von Kiyoaki. Kurzerhand beschließt der Anwalt, den Jungen zu adoptieren. Der stellt sich als hoch intelligent und bösartig kalkulierend heraus und versucht mit der Zeit, den Ziehvater auszubooten. Als das nicht gelingt, versucht er Suizid zu begehen, doch erblindet nur durch die Tabletten, die er genommen hat.

Obwohl der Text vor allem zu Beginn noch mit ein paar schönen Beschreibungen glänzt, fehlen hier auch weitgehend die besonderen Momente, die in den Vorgängern Bildlichkeit und Ideen in dieser überwältigenden Weise verbanden. Auf der positiven Seite: Auch die längeren schwächeren Passagen, wie sie der zweite und vor allem der dritte Roman kannten, fehlen.

Schwer zu sagen, was der Text genau will und wie er den Blick auf das „Meer der Fruchtbarkeit“ verändert. Einerseits ist ausgerechnet der letzte Roman tatsächlich total apolitisch. Politische Ereignisse kommen ebenso wenig vor wie politische Bewegungen. Nur einmal wird ein Tutor des jungen Tōru gefeuert, weil der den Verdacht äußert, jener könnte einer politischen Bewegung nahe stehen. Honda stürzt sich ganz in die Erziehung und zieht sich weiter zurück in buddhistische Spekulationen. Doch all die Träume von Wiedergeburt werden scheinbar konterkariert durch die Verhaltensweisen des Jungen, der so gar nicht wie die Wiedergeburt des alten Freundes wirkt. Auch Honda weist die Idee, dass es sich bei dem Jungen um eine Wiedergeburt von Kiyoaki handeln könnte, schließlich von sich und beginnt dadurch daran zu zweifeln, ob die anderen Wiedergeburten real waren.

Hier und da scheint Schönheit ein entscheidendes Thema zu sein, so etwa in einer Freundin von Tōru, die glaubt, die schönste Frau der Welt zu sein, und dieses Leid mit Würde zu tragen, obwohl sie alle ständig anstarren. Laut Tōru allerdings ist sie das Gegenteil von schön, und der Großteil ihrer Interaktionen mit der Welt beruhen auf Wahnvorstellungen. Honda dagegen beklagt mehrfach seinen körperlichen Verfall und dass er niemals die Chance gehabt hat, überhaupt je in einem schönen Körper zu leben und zu wissen, wie das ist. Zugleich wird mehrfach nahegelegt, dass eigentlich geistiger Verfall und körperlicher Verfall aus buddhistischer Sicht das Gleiche seien, was dann allerdings auch bedeuten würde, dass Honda ebenso wenig je gewusst hat, was es heißt, mit einem schönen Geist zu leben.

Der Schluss dann ist sehr rätselhaft. Honda entschließt sich, nachdem er sich in den vorherigen Romanen mehrfach dagegen entschieden hat, endlich Satoko, die junge Geliebte des im ersten Band verstorbenen Freundes Kiyoaki, zu besuchen, die seit dem Ende des ersten Romans in einem Kloster weilt und dort mittlerweile die Vorsitzende geworden ist. Sie erinnert sich gut an Honda, behauptet aber den Namen Kiyoaki noch nie gehört zu haben. Sollte Satoko lügen? Auch wenn sie gute Gründe habe, diese weltliche Vergangenheit aus ihrem Leben herauszuhalten, hält Honda das für eine fragwürdige, weil „unheilige“ These. Satoko sagt:

„No, Mr. Honda, I have forgotten none of the blessings that were mine in the other world. But I fear I have never heard the name Kiyoaki Matsugae. Don’t you suppose, Mr. Honda, that there never was such a person? You seem convinced that there was; but don’t you suppose that there was no such person from the beginning, anywhere? I couldn’t help thinking so as I listened to you“

Und Honda fragt sich schließlich:

„But if there was no Kiyoaki from the beginning—” Honda was groping through a fog. His meeting here with the Abbess seemed half a dream. He spoke loudly, as if to retrieve the self that receded like traces of breath vanishing from a lacquer tray. “If there was no Kiyoaki, then there was no Isao. There was no Ying Chan, and who knows, perhaps there has been no“”

Was soll man daraus machen? Vorausgesetzt, Satoko lügt nicht einfach, hat es Kiyoaki nie gegeben? War Honda derjenige, der in Satoko verliebt war und sie ins Kloster getrieben hat? Dann müssten wir voraussetzen, dass die drei Vorgängerromane, zumindest aber der erste, verdrehte Rekonstruktionen aus der Erinnerung des Protagonisten sind. Waren dann Isao (Band 2) und Prinzessin Ying Chan (Band 3) real, aber keine Wiedergeburten? Oder selbst nur Erfindungen des Protagonisten? Letzteres sollte man eigentlich ausschließen können, so sehr wie besonders Isao die Politik des Landes beeinflusst hat. In jedem Fall wird durch diesen Schluss jedes Verständnis von Realität und Existenz stark erschüttert und in Frage gestellt. Und das wiederum ist ja genau, was Honda durch sein sich immer tieferes Vergraben in buddhistische Lehren selbst getan hat. Allerdings streut der Text auch hier Zweifel: War das wirklich fruchtbar? Oder ist Satoko durch eine einzige radikale Entscheidung in ihrer Jugend den Weg gegangen, den Honda durch sein ganzes Hin und Her durch die Welt bis zum Schluss nicht zu beschreiten vermochte?

Der Roman schwingt dann noch einmal ganz stark bildlich aus:

„The grove beyond the lawn was dominated by maples. A wattled gate led to the hills. Some of the maples were red even now in the summer, flames among the green. Steppingstones were scattered easily over the lawn, and wild carnations bloomed shyly among them. In a corner to the left were a well and a well wheel. A celadon stool on the lawn seemed so hot in the sun that it would surely burn anyone who tried to sit on it. Summer clouds ranged their dizzying shoulders over the green hills. It was a bright, quiet garden, without striking features. Like a rosary rubbed between „the hands, the shrilling of cicadas held sway. There was no other sound. The garden was empty. He had come, thought Honda, to a place that had no memories, nothing. The noontide sun of summer flowed over the still garden“

Neben einem eher mittelmäßigen, zum Schluss dann aber doch noch einmal starken Abschluss der ‚Meer der Fruchtbarkeit‘-Reihe ist ‚The Decay of the Angel‘ auch noch einmal eine starke Erinnerung daran, dass man aus Romanen nicht unmittelbar und selbstverständlich höchstens sehr vorsichtig auf Leben und Einstellungen der Schreibenden schließen sollte. Dieser letzte Roman und auch schon der Vorgänger klingen wie die Texte eines Menschen, der sich aus Politik und den Kämpfen des Alltags zurückzieht, seine Radikalität hinter sich gelassen hat und milde spirituell geworden ist. Der frühere harsche Urteile zurückgenommen hat und zwar mit dem Weltlauf nicht zufrieden ist, die Antwort aber eher in Selbstbesinnung und Meditation sieht als in politischen Aktionen. Doch es ist dieser Roman, der verfasst wird, kurz bevor der Autor einen operettenhaften, aber doch monarchistisch konservativen bis faschistoiden Aufstand anführt und sich nach dem Misslingen tötet, nicht etwa das einige Jahre früher erschienene ‚Runaway Horses‘, das so naheliegend auf genau solche Pläne hinweist. Vorbereitet wurde der Plan wohl von 1967 bis zur Ausführung, sodass die Milde der späteren beiden Romane wohl eben genau das ist: literarische Milde. So wie die Brutalität von Texten manch anderer AutorInnen eben ohne weiteres auch das sein kann: rein literarische Brutalität. Natürlich finden sich auch in den letzten beiden Romanen der ‚Meer der Fruchtbarkeit‘-Tetralogie noch zahlreiche Gedanken und Ideen, wie ich sie im Text über D’Annunzio herausgearbeitet habe, und aus deren prinzipiellen Unverwirklichbarkeit in der Welt, wie sie ist, jene politisch-ästhetische Kränkung erwachsen kann, die meines Erachtens im ästhetizistischen Faschismus stets eine Rolle spielt. Aber um diese zu identifizieren, muss man eben tiefer einsteigen. Das oberflächliche Lesen nach dem Motto „Was ist denn nun die Aussage des Buches?“ kann analytisch sehr leicht fehlleiten.

Die Romane Mishimas werden Teil einer Reihe im Blog werden, die Versucht, den Konnex „Ästhetizismus und Barbarei“ genauer zu umkreisen, als das bisher geschehen ist und dabei einige Gründe für diese Verbindung herauszuarbeiten, soweit sich das verallgemeinern lässt.
Bereits als Teil der Reihe dürfen gelten:

Bild: Eigenes.

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