Küsten-Gegenstück zu „Moby Dick“? “Sylvia’s Lovers” von Elizabeth Gaskell.

“Sylvia’s Lovers” fällt zeitlich ein wenig aus dem restlichen Werk von Elizabeth Gaskell heraus. Es ist der einzige Roman der Autorin, dessen Handlung außerhalb ihrer Lebenszeit angesiedelt ist, genauer im späten 18. Jahrhundert. Selbst “Wives and Daughters”, das zurückblickt in die Welt vor der industriellen Revolution, baut ja noch stark auf Jugend- und Kindheitserinnerungen auf. “Sylvia’s Lovers” dürfte auch der dichteste Roman der Autorin sein, sehr konzentriert auf das Leben in einer Fischerstadt und den umliegenden Höfen, dabei auch in einer Weise dicht geplottet, die dann höchstens noch vom Spätwerk “Wives and Daughters” erreicht wird.

Im Zentrum steht das Phänomen der Pressgangs, der im Roman scharf kritisierten Vorgehensweise der britischen Navy, in Küstendörfern und Städten Männer mit Seefahrterfahrung aufzugreifen und diese gewaltsam zum Dienst in der Navy zu verpflichten oder gleich zu entführen. Eine im 18. Jahrhundert verbreitete Praxis, der viele zehntausend Männer zum Opfer fielen und vielleicht für Heutige eine Erinnerung daran, dass der britische Imperialismus nicht einfach ein gemeinschaftlich nach außen getragenes Projekt war, sondern nicht zuletzt auch eine innere Klassen- bzw. Autoritarismus-Komponente hatte. Natürlich dienten diese gewaltsamen Zwangsverpflichtungen dem Kampf um die britische Vormachtstellung zur See. Wer Näheres zu den Vorgängen, zum Umfang und vor allem zur Rechtslage nachlesen möchte, wird auf der englischen Wikipedia fündig. Das Thema wird nach meiner Erfahrung immerhin ganz kurz mal im Englischunterricht am Gymnasium behandelt. Im Studium kommt es dann schon sehr auf die Schwerpunktwahl an, ob man da tiefere Einblicke erlangt. Neben “Sylvia’s Lovers” beschäftigen sich aber zumindest noch eine Handvoll weiterer Romane mit Pressgangs und deren Machenschaften.

Der Plot des Romans ist relativ einfach. Sylvia und Molly sind zwei junge Frauen, enge Freundinnen, die auf zwei Höfen abseits der kleinen Küstenstadt leben. Zu Beginn sind sie auf dem Weg in die Stadt und erleben dort mit, wie ein Bewohner vor einer Pressgang gerettet wird. Der Retter, Kinraid, wird dabei schwer verletzt und von der Familie Mollys gesund gepflegt. Er verliebt sich dabei allerdings in Sylvia. Ebenfalls in Sylvia verliebt ist deren Cousin Philip, ein gebildeter junger Mann, der versucht, ein Geschäft zu übernehmen, in dem er noch arbeitet. Die Übernahme gelingt irgendwann. Philip würde nun gerne Sylvia die Ehe antragen, doch die hat sich heimlich mit Kinraid verlobt. Auf einer Reise nach London erlebt Philip nun mit, wie der Verlobte von einer Pressgang entführt wird, erzählt davon aber nichts, woraufhin Sylvia ihren Verlobten für tot hält. Es kommt zu einem kleinen Aufstand gegen die Pressgang, angeführt nach einigen Bieren zu viel von Sylvias Vater, der daraufhin verhaftet wird. Ihm droht die Todesstrafe. Aufgrund seines Einsatzes für den Vater verlobt sich Sylvia doch noch mit Philip und heiratet ihn schließlich. Die beiden haben ein Kind, doch dann kommt der tot geglaubte Verlobte zurück, und Sylvia erfährt, dass Philip die ganze Zeit über dessen Schicksal Bescheid wusste.

“Sylvia’s Lovers” ist ein sehr stark gearbeiteter Text, gemeinsam mit Wives and Daughters vielleicht der am stärksten gearbeitete der Autorin. Die Küstenstadt wird ähnlich lebendig wie etwa die Kanalstädte in Victor Hugos „Die Meerarbeiter“. Das gelingt sowohl durch starke Naturbeschreibungen, etwa:

“Shutting the door behind him, he went out into the dreary night, and began his lonesome walk back to Monkshaven. The cold sleet almost blinded him as the sea-wind drove it straight in his face; it cut against him as it was blown with drifting force. The roar of the wintry sea came borne on the breeze; there was more light from the whitened ground than from the dark laden sky above. The field-paths would have been a matter of perplexity, had it not been for the well-known gaps in the dyke-side, which showed the whitened land beyond, between the two dark stone walls. Yet he went clear and straight along his way, having unconsciously left all guidance to the animal instinct which coexists with the human soul, and sometimes takes strange charge of the human body, when all the nobler powers of the individual are absorbed in acute suffering. At length he was in the lane, toiling up the hill, from which, by day, Monkshaven might be seen. Now all features of the landscape before him were lost in the darkness of night, against which the white flakes came closer and nearer, thicker and faster. On a sudden, the bells of Monkshaven church rang out a welcome to the new year, 1796. From the direction of the wind, it seemed as if the sound was flung with strength and power right into Philip’s face. He walked down the hill to its merry sound — its merry sound, his heavy heart. As he entered the long High Street of Monkshaven he could see the watching lights put out in parlour, chamber, or kitchen. The new year had come, and expectation was ended. Reality had begun.”

Als auch durch ein glaubhaftes soziales Gefüge, ein Miteinander und Gegeneinander von Menschen in ihren verschiedenen Berufen und sozialen Rollen. Ein wenig könnte man sich “Sylvia’s Lovers” dabei als Gegenbild zu “Moby Dick” vorstellen, denn auch in Gaskells Roman spielt der Walfang eine große Rolle. Doch während wir in Moby Dick fast immer zur See unterwegs sind, verlassen wir in “Sylvia’s Lovers” das Land nicht, und erleben dieses gefährliche Gewerbe aus der Perspektive der Zurückgebliebenen, die sich Sorgen machen, die die Heimkehrer bejubeln und die zugleich unter den großen Schocks für die lokalen Ökonomien zu leiden haben, wenn ohne jede Vorwarnung durch Pressgangs wichtige Teile der männlichen Bevölkerung zwangsrekrutiert werden und als Handwerker, Seeleute und so weiter ausfallen. Hier etwa werden die Auswirkungen deutlich beschrieben:

„Fear and confusion prevailed after this to within many miles of the sea-shore. A Yorkshire gentleman of rank said that his labourers dispersed like a covey of birds, because a press-gang was reported to have established itself so far inland as Tadcaster; and they only returned to work on the assurance from the steward of his master’s protection, but even then begged leave to sleep on straw in the stables or outhouses belonging to their landlord, not daring to sleep at their own homes. No fish was caught, for the fishermen dared not venture out to sea; the markets were deserted, as the press-gangs might come down on any gathering of men; prices were raised, and many were impoverished; many others ruined. For in the great struggle in which England was then involved, the navy was esteemed her safeguard; and men must be had at any price of money, or suffering, or of injustice. Landsmen were kidnapped and taken to London; there, in too many instances, to be discharged without redress and penniless, because they were discovered to be useless for the purpose for which they had been taken.“

Sehr viel stärker als in ihren vorangegangenen Arbeiten implementiert Gaskell in diesem Roman eine starke local color durch den Versuch einer phonetischen Dialektabbildung. Das gab es auch in den Arbeiterromanen bereits bis zu einem gewissen Grad, wurde aber doch immer von sehr viel Standardenglisch unterbrochen und bestand meist nur aus ein paar verschluckten Silben. Hier wird der Text dagegen zugegebenermaßen mindestens für Nichtmuttersprachler, ich schätze aber auch für Muttersprachler, teils wirklich schwer zu lesen:

„‘Well! yo’ lasses will have your conks’ (private talks), ‘a know; secrets ‘bout sweethearts and such like,’ said Mrs. Corney, with a knowing look, which made Sylvia hate her for the moment. ‘A’ve not forgotten as a were young mysen. Tak’ care; there’s a pool o’ mucky watter just outside t’ back-door.’“

Auf der anderen Seite ist der Gewinn an Atmosphäre natürlich enorm und mit der Zeit entwickelt man ein inneres Ohr für den Sprachklang und versteht das Gesagte doch deutlich besser.

Ungewöhnlich ist auch, wie Gaskell in diesem Roman das Verhältnis der Protagonistin zu ihren beiden Männern gestaltet. Auch wenn die Autorin nie direkt gepredigt hat, lässt sich in allen anderen Romanen davor und danach zumindest recht gut durchblicken, wer die falsche und wer die richtige Wahl im Sinne christlicher, viktorianischer Moralvorstellungen und letztlich auch des gesunden Menschenverstandes wäre. Denn die falsche Wahl hat eigentlich immer einige gefährliche Red Flags parat. Das ist hier anders. Der Verlobte entspricht zuerst eindeutig dem Prototyp des falschen Mannes, Philip dem des richtigen. Der Verlobte ist ein wilder Seefahrer, die Verbindung beruht auf reiner Anziehung, wilder Liebe, nennt es, wie ihr wollt, keinesfalls auf Vernunft. Und nicht zuletzt gibt es zumindest ein paar starke Indizien, dass er bereits mit anderen Frauenherzen gespielt und sich dann davon gemacht hat. Philip dagegen kümmert sich um Sylvia, ist der Familie von Anfang an als guter Mann bekannt, versucht sogar, für ihre Bildung zu sorgen, ist also nicht mal allzu konservativ. Auf der anderen Seite ist Philip ein Zauderer, und der Verlobte kämpft gegen das große Übel, das das Dorf bedroht, die Pressgangs. Die Waage senkt sich dann aber gegen Philip, indem er den Verlobten verrät und über dessen schreckliches Schicksal schweigt. Gerade also, als Philip endlich Erfolg hat, ist er als die falsche Wahl markiert. Der Verlobte dagegen straft die Gerüchte über sein leichtes Seefahrerherz Lügen und tut alles, um trotz seiner unglaublich schwierigen Situation zu Sylvia zurückzukehren und ihr die Ehe anzutragen. Plötzlich findet aber auch Philip Vergebung, indem er den Verlobten unter Einsatz des eigenen Lebens rettet. Und der Verlobte wiederum beweist, dass er tatsächlich zu Beständigkeit fähig ist, indem er eine andere glückliche Ehe eingeht. Am Ende könnte man durchaus sagen, dass beide die richtigen sein könnten, zumindest beide keine schlechten Menschen sind, die sich nur ein oder zweimal, Philip heftiger als der Verlobte, zu einer schlechten Tat haben hinreißen lassen. Das ist, wie gesagt, durchaus ungewöhnlich im Werk der Autorin. Ebenfalls ungewöhnlich ist die Intensität und die Breite, mit der Gaskell in diesem Roman zeigt, wie beengend und unglücklich machend die Rolle als Ehefrau und Mutter für die Frauen in Sylvia’s Stadt und den umliegenden Dörfern sein kann. Auch diesbezüglich stand Gaskell in anderen Texten den viktorianischen Idealen näher als hier.

„Silvia’s Lovers“ ist ein ganz starker Roman und konkurrierte nicht nur mit dem ganz anders gelagerten „Wives and Daughters“ um die Spitze im Werk der Autorin, sondern darf wie jener auch ruhig unter die stärksten Romane des 19. Jahrhunderts gezählt werden. Plot, Atmosphäre, Sprache – hier passt alles. Es gibt wirklich wenig Gründe, diesen Text nicht zu lesen, es sei denn, man lässt sich von den schwierigen Dialektpassagen abschrecken. Allerdings sollte es auch eine deutsche Übersetzung geben, die ebenso wie das Original längst gemeinfrei geworden ist. Die Frage ist natürlich, ob man die findet.

Nachtrag: Die deutsche Version scheint komplett bei Google Books online zu stehen, allerdings als Frakturschrift-Scan aus dem Original. Ich weiß nicht, ob das einfacher zu lesen ist. Ich würde es dann doch mit dem englischen Original versuchen, das in mehreren Ausgaben kostenlos online zu finden ist.

Bild: Wikiart gemeinfrei.

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