Anspielungsexzess, der ins Nichts führt. Umberto Ecos „Baudolino“.

„Okay, lasst uns das Buch doch einmal so anfangen, das 90 Prozent der Lesenden schon auf den ersten Seiten aussteigen.“ Das mag sich Umberto Eco gedacht haben, als er das erste Kapitel seines Romans „Baudolino“ verfasste. Die, die dann dranbleiben, werden wahrscheinlich auch den Rest mögen. Dieses erste Kapitel ist ein relativ typisches dieser postmodernen „Schreiben, wie der Protagonist schreiben würde“-Kapitel. Vergleiche etwa ein neueres Buch wie „Ich, Ellyn“. Verfasst in einem nach Gehör geschriebenen volkstümlichen mittelhochdeutsch, bzw. im Original dann natürlich in einem italienischen Äquivalent, mit zahlreichen Streichungen und Korrekturen:

“ich Baudolino sohn des Galiaudo von denen Aulari mit einem haupt alswî ein leu halleluja Dank sei dem Herrn der mir möge vergêben ich hab gemacht den gröszten raub meines lebens indem ich genommen aus einem schrein des herrn bischoffs Otto vil bögen die villeicht gehören der kaiserlichen Kanzlei und hab sie fast allesamt abgeschabet auszer wo es nit abgienc und hab nun alsô manniglich Pergamint zum draufschreiben was ich will daz heiszt meine Chronica wiewôl ich sie nit kann schreiben in Latino”

Danach springen wir zum Glück in die Zukunft, also zur Gegenwart der Erzählung, und in der dritten Person wird die eigentliche Erzählsituation vorgestellt, die nun die Rahmenhandlung des ganzen Werkes bilden wird. Baudolino, ein hoher Würdenträger unter dem mittlerweile verstorbenen Friedrich Barbarossa, rettet während der Plünderung von Konstantinopel den dortigen Beamten Niketas. Während die beiden versuchen, die Stadt zu verlassen, erzählt Baudolino in allergrößter Gemächlichkeit über mehrere Tage seine Geschichte. Erneut eine dieser von mir schon häufiger monierten hanebüchenen Ausgangslagen in Ecos Romanen, die sogar dazu führt, dass an einer Stelle Baudolino Niketas weiter begleitet, um seine Geschichte weiter zu erzählen, obwohl er sich besser in Sicherheit bringen könnte. Überhaupt sorgt Eco dafür, dass die beiden Geflüchteten in einer Stadt voller Brandschatzen und Morden dauernd sichere Ecken finden, in denen man stundenlang erzählen kann.

Nun ja, dennoch ist „Baudolino“ dann zumindest einer der unterhaltsameren Eco-Romane. Im Gegensatz zu dem zuletzt hier besprochenen „Das Foucaultsche Pendel“ enthält er relativ viel Handlung und ist abwechslungsreich gestaltet. Das allerdings ist erkauft mit den Problemen, die alle Texte „nach der Art des Schelmenromans“ haben, die ja im Großen und Ganzen eine moderne Unsitte sind, um ungeniert zusammenhanglos daherschwafeln zu können. Die Handlung ist größtenteils vom Zufall getrieben, nie kommt wirklich Spannung auf, weil immer wieder ein verrückter Einfall von Baudolino die Situation rettet. Und die mittelalterliche Welt, anders als in „Der Name der Rose“, fühlt sich kaum je glaubwürdig an, da der Protagonist in einem Tempo zwischen italienischer Provinz, Paris, Deutschland, Konstantinopel, wieder Paris und so weiter und so fort wechselt, dass es eher an das 20. oder 21. Jahrhundert denken lässt. Eco sucht sich die interessantesten Momente heraus, ohne jemals zu vermitteln, was für eine Beschwerlichkeit und was für einen Zeitaufwand ein solches Herumreisen in Europa bedeuten würde.

Und Baudolino ist quasi überall dabei. Seine Ideen stecken hinter vielen von Friedrichs großen Siegen. Er hat die Heiligsprechung Karls des Großen angeleiert, hat gemeinsam mit Freunden die Legende vom Heiligen Gral erfunden oder zumindest groß gemacht, hat den Brief des Priesterkönig Johannes gefälscht, hat das Grabtuch von Turin in Europa eingeführt. Das sind nur die „Höhepunkte“. In Anführungszeichen, weil es sich hier wie mit zu viel Zucker oder zu viel Salz in der Speise verhält. Ein Text, der so von Höhepunkt zu Höhepunkt springt, hat keine Höhepunkte.

Wie gesagt, aufgrund seiner Absurdität ist der Roman zumindest über Strecken relativ unterhaltsam. Doch auch diesmal ist Eco letztendlich das Demonstrieren von Gelehrsamkeit wichtiger, als das Konstruieren einer überzeugenden Geschichte. Immerhin, anders als in „Das Foucaultsche Pendel“, erfolgt diese Demonstration von Gelehrsamkeit deutlich seltener über lange Monologe, die aus irgendwelchen Enzyklopädien abgeschrieben sein könnten. Die Figuren agieren relativ lebendig, sprechen nicht allzu viel über Geschichte, sondern handeln in dieser. Und das durchaus auch mit einigem Witz. Aber die Anspielungen, ach, die Anspielungen. Es gibt natürlich unzählige. Eco ist sich nicht mal zu schade, als zwei der besten Freunde Baudolinos einen Boron und einen Kyot auftreten zu lassen. Bei meiner ersten Lektüre vor 20 Jahren sagten mir diese Namen nichts, und entsprechend war es mir ziemlich egal. Heute gehe ich davon aus, dass Boron auf Robert de Boron anspielen dürfte, einen der frühesten Verfasser einer zusammenhängenden Grals-Erzählung. Und Kyot dürfte jene fingierte Quelle sein, auf die sich Wolfram von Eschenbach für seinen Parzival beruft. Das ist wahrscheinlich die formvollendetste der mittelalterlichen Grals-Erzählungen. Einfach nur anhand dieses Beispiels: Was bringt diese Anspielung? Wer sie nicht versteht, wird anhand der Namen mit Sicherheit nicht nachschlagen, sich weiterbilden und dadurch mit Gewinn aus der ganzen Sache hervorgehen. Zumal es im Text überhaupt keinen Hinweis darauf gibt, dass es hinter diesem Namen etwas nachzuschlagen gäbe. Wer die Namen aber kennt, weiß sowieso mehr über Boron und Kyot, als man im ganzen Text Ecos erfahren wird. Zumal die beiden nicht wirklich in ein neues produktives Verhältnis zu den ihnen dann zugeschriebenen Gralsvarianten gesetzt werden. Der einzige Gewinn, den es aus solchen Spielereien zu ziehen gibt, ist also genau der, über den sich „South Park“ in der Folge „Memberberries“ lustig macht: ein Erkennen von etwas, mit dem man sich schon einmal beschäftigt hat, eine Bestätigung, zur In-Crowd zu gehören. Heute kritisiert man gerne das moderne Hollywood, in dem neueren Filmen nur noch ältere Filme zu zitieren, Fanservice betreiben. Aber die postmodernen Autoren wie Eco betrieben schon lange genau solchen Fanservice für Intellektuelle.

Dass „Baudolino“ durch seine Handlung den Geist besonders anregt, kann man auch für das Ganze nicht behaupten. Das Prinzip, Handlungen großer Persönlichkeiten oder ungeklärte Momente in der Geschichte irgendeinem Schelm aus dem Bauerntum zuzuschreiben, ist nun kein besonders kluges. Soll das die Vorstellung erschüttern, Geschichte werde von „großen Männern“ gemacht? Das funktioniert nicht wirklich. Denn statt tatsächlich den Blick auf die Kämpfe und Kräfte zu lenken, die Geschichte von unten gestalten (während natürlich durchaus Personen in Machtpositionen, anders als beispielsweise Tolstoi es darstellen wollte, großen Einfluss auf den Gang der Geschichte haben), wird hier einfach nur ein bekannter großer Mann, Friedrich, ersetzt durch einen unbekannten großen Mann, Baudolino, bei dem sogar noch viel mehr Fäden der Geschichte zusammenlaufen, der also, konventionell gedacht, größer ist.

Absolut verliert mich der Roman dann in seinem kürzeren zweiten Teil. Hier sind Baudolino und seine Freunde endlich tatsächlich unterwegs Richtung Indien und zum Priesterkönig Johannes. Sie treffen zahlreiche Fabelwesen, die alle irgendwelchen heretischen christlichen Richtungen angehören. Werden in einem Vorpostenreich des Priestereiches von Hunnen überfallen und müssen umkehren. Und sind mittlerweile fast überzeugt, dass es den Priesterkönig nicht gibt. Was will dieser total in der Luft hängende, im Stil eines ewigen „und dann und dann und dann“ beschriebene Fantasy-Part in diesem Roman? Ja, ein paar Toleranzbotschaften anhand schlecht geeigneter Beispiele verbreiten, zeigen, wie viele mittelalterliche Fabelwesen der Autor kennt. Sowas vielleicht. Aber das Ganze steht doch komplett konträr zum vorher Entwickelten: Erst ist Baudolino der Fälscher hinter fast allen wichtigen Ereignissen der europäischen Geschichte, und plötzlich sollen die Dinge, die de facto falsch sind im mittelalterlichen Weltbild, wahr sein. Oder aber, wir setzen voraus, dass Baudolino an den Stellen, an denen er nicht zugibt, erfunden zu haben, in der gleichen Weise erfunden hat wie an den Stellen, an denen er es zugegeben hat. Dann aber bleibt vom Roman nicht viel übrig, bzw. es funktioniert eben auch die erste Hälfte nicht mehr, die ja gerade ihren Witz daraus gewinnt, dass wir wissen, dass Baudolino wichtige Dokumente der europäischen Geschichte gefälscht hat. Manch einer mag das für eine besonders gewitzte Auseinandersetzung mit der Frage danach, was überhaupt real sei, halten. Aber das ist es nicht. Eine kluge Auseinandersetzung mit dieser Thematik sollte doch auf etwas mehr hinauslaufen als ein kontinuierliches Schwätzen, das am Ende zur Folge hat, dass alles Geschwätzte, wenn man nur einen Moment darüber nachdenkt, als vollkommen egal da steht. Und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass, so verquer wie der zweite Teil im ersten steckt, sich Eco ernsthaft Gedanken über die Implikation der fragwürdig unterschiedlichen Verhältnisse beider Teile zur fiktionalen Realität gemacht hat.

Ich sagte es anderswo schon: Es hat seinen Grund, dass der Schelmenroman tot ist. Er ist ein vorbürgerlicher Roman, eine spezifische Erzählweise einer spezifischen Zeit, und so etwas lässt sich nicht einfach wiederbeleben, indem man dem Schema nun mit ein wenig Augenzwinkern folgt. Der Text ist trotzdem, wie gesagt, leichter verdaubar als „Das Foucaultsche Pendel“, das aber thematisch dann doch der interessantere Text bleibt. Vor allem ist Baudolino mit seinen 500 bis 700 Seiten je nach Ausgabe auch einfach deutlich zu lang für die Substanz, die es bietet.

Bild: Priester Johannes, wiki, gemeinfrei.

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