Der Gott der kleinen Dinge ist einer meiner absoluten Lieblingsromane. Und nicht aus einer einfachen Laune heraus. Das Buch kommt so schlicht daher, so einfach, doch mit formvollendeter Virtuosität wird die soziale Struktur eines Landes reflektiert, ja, auf die Weltgeschichte von der Warte eines einstigen Kolonialstaates geblickt. Das geschieht praktisch ohne „predigende“ Passagen, in denen politische Philosophie, Sozialkritik und Ähnliches ausformuliert würden, das geschieht sogar ohne weitreichende historisch-kritische Passagen. Der Gott der kleinen Dinge ist ein hocheleganter Roman an erster Stelle und bis in die letzte Formulierung. Und obwohl Der Gott der kleinen Dinge im Wesentlichen eine Erzählung des Scheiterns ist, gelingt die perfekte Ballance zwischen einer immer wieder optimistischen erzählerischen Grundhaltung und den Schocks, die die Handlung bereithält. Gerade weil Roy trotz einigem Anlass kein „Jammerbuch“ geschrieben hat, berührt die Tragik, ohne den Leser abzustumpfen.
Der Roman erzählt (unter anderem) die Geschichte von Rahel Kochamma, die aus den Vereinigten Staaten zu ihrem indischen Geburtsort in der Stadt Ayemenem zurückkehrt, und von ihrem Zwillingsbruder Esthahapen, der von ihrem Vater „zurück-zurückgegeben“ wurde. In Vor und Rückgriffen werden Ereignisse aus Vergangenheit und Zukunft erzählt, der Tod der Engländerin Sophie Moll, des Arbeiters Velutha und des langsamen Verfalls von Rahels Mutter Ammu Kochamma. Die Charaktere sind überzeugend, lebendig gestaltet, eine Seltenheit bei Figuren, die gleichzeitig immer auch symbolisch für bestimmte Momente und Strömungen in indischer Geschichte und Gesellschaft stehen können. Diesbezüglich dreht sich der Roman hauptsächlich um zwei miteinander verflochtene Themen: Es wird untersucht, wie den ehemals Kolonisierten „ein Ort und eine Beziehung zu jenen anerkannten und linearen Arrangements von Ereignissen in dem, was wir konventionell ‚Geschichte` nennen, verweigert wird“ (Mullaney) – bzw., wie man auch selbst diese Ausschlüsse immer wieder reproduziert, und es werden andererseits jene Orte, die vermeintlich außerhalb eines historischen Kontextes stehen, Orte der Stagnation, des Verfalls, immer noch als Orte aufgedeckt, „an denen ALLES passiert“ (ebd). Das Leben nämlich, die kleinen menschlichen Geschichten, persönliche Tragödien, die Geschichte der Kleinen Dinge.
Zentraler Kristalisationspunkt all dessen ist das „History House“, „Kari Saipu’s Haus. Der Schwarze Sahib. Der gebürtige Engländer… Aymenem’s eigener Kurtz“. Es ist der Mittelpunkt aller Sehnsüchte und Träume der Charaktere. Es ist auch der Ort, um den sich große Teile der Geschichte drehen, und „der Hauptort der… Transgressionen[]“ (Mongia 91). Ein Ort, an dem mehr als nur ein unsäglicher Verstoß gegen kulturelle Werte oder gesellschaftliche Grenzen stattfindet. Von den Zwillingen Esthahapen und Rahel Kochamma, aus deren Perspektive die Geschichte weitgehend erzählt wird, wird das Geschichtshaus als „Heart of Darkness/Herz der Finsternis“ bezeichnet. Hierhin versuchen die beiden sich abzusetzen, als jene schreckliche Katastrophe passiert, deren Folgen, dem Leser noch nicht bewusst, bereits auf den ersten Seiten des Romanes abgehandelt werden. Hier trifft auch Ammu ihren Liebhaber, hier werden die „Gesetze der Liebe“ gebrochen.
Ich sagte es breits: Der Gott der kleinen Dinge wird nicht linearer erzählt. Die Art und Weise, wie die einzelnen Zeitebenen miteinander verwoben werden um am Ende ein rundes Ganzes zu erzielen, das immer wieder zu überraschen vermag, sind neben der zugänglichen, doch so schönen wie anspruchsvollen Sprache Roys die Kunstgriffe, die diesen Roman so besonders machen. Wie Form die Rezeption des Inhalts transformieren kann zeigt vielleicht kein Text besser als „Der Gott der kleinen Dinge“. Denn den einen Moment des großen Glücks Ammus montiert Roy an den Schluss des Romans. Erst als alles schon zu Ende ist und die Familie am Boden liegt wird von dem letzten Ausbruch erzählt, dem Versuch auf die Freiheit, der nachklingt, mag er auch in der Chronologie des Romanes längst vergangen und gescheitert sein.
Bild: gemeinfrei
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