Strukturell ambitioniert, aber nicht wirklich gelungen: Wir, im Fenster von Lene Albrecht.

Wir, im Fenster von Lene Albrecht ist, auch wenn es auf den ersten Blick wie eine übersichtliche kleine Novelle wirkt, ein verdammt kompliziertes Buch. Das muss kein Problem sein: Wenn es dafür gute Gründe gibt, muss man es dem Leser nicht zu einfach machen, Literatur ist auch dazu da, um daran zu wachsen.
Als Referenzpunkt für solche komplizierten Bücher, in denen tatsächlich jeder Satz, jede Wendung, jeder Perspektivwechsel am Ende aufgeht, ziehe ich sonst gern Woolfs To The Lighthouse oder Llosas Gespräch in der Kathedrale heran. Im Fall von „Wir, im Fenster“ drängt sich auch noch Roys Der Gott der kleinen Dinge auf, das auch zuerst sehr schlicht wirkt, dann die Erzählung auf überraschend vielen Ebenen entfaltet, und alles doch am Ende wundervoll zusammengefügt.
Wir, im Fenster ist nicht in gleicher Weise gelungen. Innen und außen harmonieren nur hier und da, besonders die Zeitsprünge wirken regelmäßig willkürlich, und der drastische Schluss ist zwar tatsächlich lesenswert, ist aber kaum wirklich zwingend aus dem vorhergehenden entwickelt.

Was der Komposition noch fehlt

Wir, im Fenster erzählt die Geschichte der Kinder- und Jugendfreundschaft von Linn, der Erzählerin, und Laila, die zeitweise auch sexuell miteinander experimentieren, von einem barbarischen Akt, den Freunde Linns verüben und davon, wie Linn nur zusieht.
Das erste, was auffällt, ist der Stil. Es ist eines dieser Beobachtungs-/Erinnerungs-Aufzählungsbücher. Ich lese und denke gleich: Hildesheim, Leipzig, oder Biel? Und natürlich ist die Autorin eine Literaturstudentin, in diesem Fall vom Leipziger Institut. Na gut, was will man machen, über den zunehmenden Gleichklang (nicht nur) deutscher „gehobener“ Literatur habe ich bereits oft genug geschrieben.
Als nächstes werden Leser wahrscheinlich über die zahlreichen Zeitsprünge stolpern. Mal befinden wir uns in der Kindheit der Protagonistin, dann ist sie 15, dann wahrscheinlich etwa 18, dann wieder vielleicht 10. Ich werde jetzt nicht zahlreiche genannte und geschätzte Alter weiter aufzählen. Als Präsens-Erzählung davon abgesetzt gibt es noch einige Passagen aus dem Leben der Erzählerin als junge Erwachsene. Dabei fehlt mir sowohl ein stilistisches voneinander Absetzen der einzelnen Passagen (das Buch liest sich durchweg wie die freie Assoziation einer noch eher jugendlich-naiven Protagonistin), als auch, vielleicht, ein deutlicheres sprachlich-zeitliches (Das Deutsche hat mehr als zwei Zeitformen). Vor allem aber ließ sich nicht wirklich ausmachen, dass ein Prinzip hinter den Momenten steckt, in denen in der Zeit gesprungen wird. Obschon auch Roy frei zu assoziieren scheint, spürt der Leser die Bedeutung hinter einem jeden Zeitsprung. Die Sprünge konterkarieren und kommentieren sich, berühren sich und balancieren sich gegenseitig aus. Wir, im Fenster dagegen hat genau einen Erzählstrang, eine Perspektive, durch die derart munter gehüpft wird, dass jeder Leser die Orientierung verlieren dürfte. Das ist nicht absolut unangemessen, verdrängt und verschleiert die Protagonistin doch Teile ihrer Erinnerung offenkundig, aber es ist in der literarischen Gestaltung doch ein ziemliches Holzhammermittel, und schmälert den Genuss der Lektüre zeitweise deutlich.
Zumal die ersten grob 70 % des Buches tatsächlich Jugenderinnerungen ohne größere Vorkommnisse sind. Das Laila irgendwann geht, wissen wir, aber die krassen Gründe, warum Sie mit Linn nichts mehr zu tun haben will, kommen aus heiterem Himmel. Das wirkt, anders als Gespräch in der Kathedrale etwa, wo man rückblickend die unerwarteten Entwicklungen von langer Hand vorbereitet findet, auch mit dem Wissen, dass der Leser zum Schluss hat, nicht so recht passend zum Anfang. Hauptgrund dürfte sein, dass die entscheidenden Figuren, die für die letztendlichen Wendungen sorgen, größtenteils erst im letzten Drittel des Buches überhaupt eingeführt werden.

Autorin könnte noch großes Werk in sich haben

Wir, im Fenster hat durchaus eine interessante Handlung, die aber sehr langsam in Fahrt kommt, was für ein Werk von 140 Seiten schon einmal eine Leistung für sich ist. Der Stil ist eben eines dieser 2 bis 3 Register, die man von der deutschsprachigen Literturschulen-Literatur zur Genüge kennt, und ich kann nur hoffen, dass sich Autoren, die ein Werk sprachlich anders gestalten wollen als mit dem Ziel der reinen Vermittlung des Geschehens (und das möchte Albrecht offenkundig, was Hoffnung für die Zukunft macht), irgendwann wieder erinnern, dass Sprache neben Rhythmus auch Melodie besitzen kann. „Wir, im Fenster“ mag man lesen, und hat seine Zeit sicher nicht verschwendet, eine zwingende Empfehlung möchte ich aber nicht aussprechen.

Bild: Pixa, gemeinfrei

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