Des Erbrechens schuldig

Orhan Pamuks Das Museum der Unschuld.

Irgendwo habe ich schonmal argumentiert, dass Orhan Pamuks Werk unbestreitbaren Qualitäten zum Trotz einiges zu wünschen übrig lässt. Zu wünschen im Wortsinn, nämlich insofern als dass es wünschenswert wäre, dass der Autor einmal all seine Kraft zusammen nähme und detailreiche Beobachtungen, interessante Lebensgeschichten, sprachliche Eleganz sowie ein beinahe unerschöpfliches kulturgeschichtliches Wissen zu einem funktionierenden Ganzen zusammenbrächte, anstatt dass er sich im eigenen Anspruch, besonders gewitzt zu wirken, verzettelte:

„Einige Passagen aus Pamuks Das schwarze Buch etwa gehören mit zum Schönsten und Dichtesten, was in der Großstadtliteratur seit Dos Passos und Döblin hervorgebracht wurde. Ähnliches gilt für manche Bilder und Reflexionen im autobiografischen Istanbul. Dass sich bei Pamuk Fiktion und Autobiografie literarisch so nebeneinanderstellen lassen, legt den Finger in eine Wunde: Der Autor bleibt bis heute ein formal geschlossenes Werk schuldig, dass sich guten Gewissens als rund bezeichnen ließe (…) Dennoch sollte man Pamuk nicht aufgeben. Er hat das Zeug neben Marquez, Rushdie, Llosa und anderen unter den ganz großen Schriftstellern der letzten Jahrzehnte genannt zu werden. Das belegt nicht zuletzt die betont unaufgeregte Auseinandersetzung mit islamischem Fanatismus in Schnee (…) Vielleicht würde es (…) ausreichen, Das schwarze Buch noch einmal zu überarbeiten. Etwas weniger kann hier mehr sein (…) Wenn Pamuk will klappt’s vielleicht irgendwann einmal vollends mit der Literatur. Den Nobelpreis hat er ja schon.“

Pamuks vorletzter Roman, Das Museum der Unschuld, ist nicht das Werk, die Wünsche zu erfüllen. Es handele sich hierbei, waren zumindest die Rezensenten deutscher Sprache einig, um einen „Großen Liebesroman“, bzw. um den „Roman einer großen Liebe“. „Die Geschichte einer großen Liebe ist die Geschichte einer ganzen Welt“ urteilt der Buchsalon der Brigitte. Das klingt nach Schwulst, Tränen und unerträglichem Pathos. Auf der anderen Seite handelt es sich bei Das Museum der Unschuld um Pamuks am wenigsten verspielten Roman seit Das stille Haus, endlich einmal wirken zumindest eingangs Rückblenden und Vorgriffe, Parallelen zwischen der zentralen Geschichte und Nebenhandlungen, Leitmotive u.ä. dem Geschehen nicht von außen aufgedrückt, sondern werden aus der Handlung entwickelt. Einmal mehr begeistert Pamuk zu Beginn mit meisterhaften Szenen und Beschreibungen, sei es eines lindenduftdurchfluteten Frühlingstages in Nişantaşı, sei es der blutüberströmten Gassen der Armenviertel zum Opferfest. Einmal mehr ist Pamuk am stärksten, wo Istanbul das Übergewicht über Handlung und Charaktere gewinnt, und einmal mehr geht alles entzwei, wo Pamuk beginnt sich vor allem auf den Plot zu konzentrieren:

Ein Mann in seinen Dreißigern (Kemal), bis zur Verlobung mit Sibel Jungfrau, verliebt sich in eine achtzehnjährige nahe Verwandte (Füsun). Er hat eine heiße Affäre mit ihr und kann die Trennung nicht verwinden, sammelt fortan alles was ihm von ihr in die Hand fällt, konzipiert um diese Gegenstände schließlich sein „Museum der Unschuld“.

Diese Geschichte, die eindeutig hohes Kitschpotenzial hat, ist spätestens ab Seite 100 von mehr als 500 Seiten durch keinen Kunstgriff mehr zu retten. Der Kitsch obsiegt. Und das umso heftiger, gerade aufgrund der verbleibenden postmodernen Kunstgriffe, die wahrscheinlich sicherstellen sollen, dass Das Museum der Unschuld nicht nur als irgendein (manchmal sehr grafischer und regelmäßig seufzer- und tränenreicher) Liebesroman gelesen wird, sondern eben als der „große Liebesroman“, den die Literaturkritik darin sehen will. Diese Kunstgriffe wären:

Die Führung durch das „Museum der Unschuld“ als Rahmenhandlung, das Auftreten des Schriftstellers Pamuk als Nebencharakter, sowie ganz klassisch der tragische Tod der geliebten Füsun in dem Moment in dem das Glück realisierbar erscheint.

In allen drei Fällen drängt sich die Frage auf: Gewinnt Das Museum der Unschuld dadurch in irgendeiner Weise an Tiefe, an Dichte, Bedeutung? Und wenn nicht: wozu das alles dann? Die Antwort auf beide Fragen sind lächerlich einfach. Erstens: Nein. Zweitens: Weil das irgendwie intelektuell wirkt.

Pamuk tritt eigentlich nur auf, damit zum Schluss in bewährter postmoderner Weise die Grenzen zwischen Protagonist, fiktivem Schriftsteller und realem Autor zum Verschwinden gebracht werden können, des weiteren, damit Kemal Pamuk und Pamuk dem Leser noch einmal versichern kann, wie unglaublich tief und gesellschaftlich bedeutend die erzählte Liebesgeschichte sei („die Geschichte Istanbuls“), und zuletzt, um der gesamten Rahmenhandlung vom Museum (das so in Istanbul ja wirklich eingerichtet wurde) ein wenig literarische Plausibilität zu verleihen. Der Tod Füsuns tränkt eine Geschichte mit Pathos, die von Pathos bereits nur so trieft, im Kapitel „Die Geschichte meines Vaters“, die ein der Erzählung Kemals paralleles Erlebnis des Vaters ausbreitet, hätte Pamuk von sich selbst lernen können, wie es zurückhaltender geht. Das Museum selbst zuletzt, die Führung durch den Erzähler als Rahmenhandlung, die zum Glück nicht all zu aggressiv in den Vordergrund gestellt wird, verdoppelt nur die Bedeutung der mit Füsun verknüpften Gegenstände, die diese aufgrund der geradezu anstrengend-kitschigen Obsession Kemals mit ihnen sowieso erlangen würden.

Es gehe Pamuk um die Heiligkeit der kleinen Dinge, liest man. Doch wo diese, die doch zu entdecken, der doch vorsichtig und überlegt nachzuspüren wäre, dem Leser mit einer derartigen Vehemenz eingehämmert wird, wie es in Das Museum der Unschuld geschieht, geht sie erst recht verloren. Kein Vergleich etwa zu den Reisen, auf die uns Celals Kolumnen in Das schwarze Buch mitnehmen, oder auch noch der von den Zwängen der modernen Fiktion befreite Pamuk in Istanbul.

Einwenden ließe sich: Dieses Museum, diese Verdoppelung des Liebeswahn zwingt den Leser, den Wahn zu belächeln, wenn nicht gar zu verlachen. Und wäre das nicht ein berechtigtes Unterfangen eines Romans? Diese fanatische Fixierung auf einen Menschen, dessen Körper man einmal berühren durfte, eine Fixierung, der sich insbesondere manche Männer krankhaft und bis zur Selbstaufgabe hingeben, lächerlich zu machen, zu unterlaufen? Die Suche nach der verlorenen Zeit als Groteske, zur Kenntlichkeit entstellt? Sicher, das wäre etwas.

Aber sollte es die Absicht gewesen sein, gelingt auch das in Das Museum der Unschuld nicht. Man führe sich nur eine Passage wie die folgende zu Gemüte:

„… und im Küssen hatten wir Fortschritte gemacht. Anstatt den Leser zu betrüben will ich lieber erzählen, dass Füsuns Zunge in meinem Mund geradezu dahinschmolz. Bei unseren immer längeren Küssen bildete sich in der Höhle unserer vereinigten Münder eine Honigsüße Flüssigkeit, die uns manchmal von den Mundwinkeln bis zum Kinn herabtroff …“ usw.

Bleibt da das Lachen nicht im Halse stecken? Einfach, weil wir Menschen so gebaut sind? So, dass wir eben nicht gleichzeitig lachen und kotzen können?

Einige Nachträge:

– Ständig „küssen“ und „umarmen“ sich bei Pamuk die Liebenden. Es ist, als kennte der Autor tatsächlich keine Synonyme (die dann ja jeweils, und die Abwechslung täte Not, auch ein wenig anders konnotiert wären). Das führt dann zu unfreiwilliger Komik, wenn der Liebesakt und ein Besuch bei der Großmutter in exakt der gleichen Terminologie beschrieben werden (oder ist der Übersetzer schuld?).

– Was Pamuk durch Kemal als Liebe vorzuführen sucht ist bei näherem Hinsehen nichts mehr als das hingezogen Sein zu einer sexuell sehr attraktiven etwa 18-jährigen. Im nicht Verwinden des Verlustes wird Lust zur Besessenheit. Nicht ein Gespräch zwischen Beiden, ein Charakterzug Füsuns, irgend ein geteiltes Interesse weist auf Gemeinsamkeiten Kemals und Füsuns hin, die über das körperliche Begehren hinausgehen. Das wäre nicht weiter schlimm, wäre nicht der ganze Roman darauf angelegt, den Wahnsinn Kemals zu sakralisieren.

– Dass nicht nachvollziehbar wird, was Kemal an Füsun so lange begeistert, mag auch daran liegen, dass keine einzige jüngere Frauengestalt im Roman in irgendeiner Weise charakterliches Profil gewinnt. Dem Leser erscheinen die Frauen stets relativ austauschbar.