Wenn der Markt Gott wird. Gaskells „North and South“ ist ein Rückschritt nach „Mary Barton“.

Ich hatte sehr gehofft, „North and South“ wäre tatsächlich das bessere „Mary Barton„, wie ich das über den Roman von Elizabeth Gaskell bereits einige Male gehört habe. Es liegt ja durchaus nahe. „Mary Barton“ hatte bereits einige Stärken, aber die Autorin hatte noch kein Konzept davon, wie man die Kriminalgeschichte im Mittelpunkt von Anfang bis Ende spannend hält. Das verwundert nicht, da das Konzept des Kriminalromans noch nicht einmal wirklich geboren worden war. In späteren Romanen gab es aber durchaus positive Entwicklungen zu vermelden. Bereits „Ruth“ etwa wird von vorn bis hinten von einer spannenden Geschichte getragen, wenn auch von der im viktorianischen Roman viel geläufigeren einer sogenannten „gefallenen Frau“. Und der letzte Roman der Autorin, „Wives and Daughters„, ist ein vollendeter, runder Gesellschaftsroman, wie man ihn etwa in den stärksten Werken von Jane Austen zu lesen bekommt. Während „Ruth“ aber immerhin noch ein paar Schlaglichter auf das für Gaskell so wichtige Thema der Lebensbedingungen des Industrieproletariats wirft, kommt das in „Wives and Daughters“ nicht mehr vor. „North and South“ kreist dagegen noch einmal in etwa um die gleichen Themenkomplexe wie „Mary Barton“, und der Text ist leider eher, nein, ist in jedem Fall, schwächer. Man mag zugestehen, dass das erzählerische Gerüst vielleicht ein klein wenig besser trägt, doch die Autorin schafft sich dafür neue Probleme. Man sollte allerdings im Hinterkopf behalten, dass dieser Roman wohl von Charles Dickens als Fortsetzungsroman für eine Zeitung erbeten wurde, und dass es auch im Verlauf immer mal wieder Dispute über die Darstellungsweise gab. Ob das den Roman verbessert oder verschlechtert hat, ist schwer zu sagen, aber es ist gut möglich, dass die Autorin diesen Text nicht mit derselben Überzeugung verfasst hat wie ihre anderen Werke.

„North and South“ erzählt von Margaret, die in einer Londoner Familie als Dienstmagd gearbeitet hat, dort auch Freundschaften geschlossen hat und jetzt wieder zum Vater in ihr südenglisches Dorf zurückgekehrt ist. Der ist ein anglikanischer Priester, hat aber kurzerhand entschieden, zwar noch an Gott, aber nicht mehr an die Kirche zu glauben, und geht auf Vermittlung eines Freundes in eine nordenglischen Industriestadt, wo er als Hauslehrer arbeitet. Hier lernt Margaret sowohl den Fabrikanten Thornton kennen, der eine wandelnde Adam-Smith-Phrasendreschmaschine ist, bzw. eben die Ideologie des Manchester-Kapitalismus herunterbetet, als auch die Arbeiterfamilie Higgins, wo der Vater ein Gewerkschaftsführer ist und die Tochter dabei ist, an Baumwollstaublunge zu verrecken. Margaret ist gewissermaßen die Mittlerin zwischen den Welten, während nebenbei ihr Bruder abwesend auf den Weltmeeren herumschifft, seit er eine aufgrund der Brutalität des Kapitäns wohl berechtigte Meuterei angezettelt hat, auf die aber trotzdem die Todesstrafe steht.

Das ganz große Problem von „North and South“ ist einfach Margarets vermittelnde Position, die dem Roman, wie wir sehen werden, ideologische Schlagseite verleiht, die von der Geschichte ablenkt bzw. sie allzu oft unterbricht und gerade die größte Stärke von „Mary Barton“ einkassiert. „Mary Barton“ war, wie ihr in meiner Rezension nachlesen könnt, letztlich auch ein christlich-sozialer Roman über einen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Der Roman steht sicherlich nicht auf der Seite der organisierten Arbeiterschaft, und zumindest die Autorin stand immer tendenziell auf der Seite des Kapitals, allerdings mit viel Einsatz dafür, die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern. „Mary Barton“ geriet aber nicht einfach zur Predigt, weil die Stimmen von Arbeit und Kapital sich unvermittelt gegenüberstanden, ebenso die Handlungen. Lesende konnten zuhören und zuschauen und waren gezwungen, sich eigene Gedanken zu machen, weil keine der Figuren klar als Autorinnen-Sprachrohr auftrat. Genau diese Rolle aber übernimmt jetzt Margaret. Margaret findet zwar, dass das Kapital ein wenig harsch und instrumentell über Menschen denkt, aber erkennt das große Wohl, das die Kapitalisten über die Welt bringen, kritiklos an. Sie sieht zwar, dass es den Arbeitern schlecht geht, aber den Unternehmern geht es ja auch „schlecht“, weil der Handel nicht so gut läuft und eigentlich müssten die Unternehmer den Arbeitern das nur richtig erklären, dann müssten die doch einsehen, dass sie mit weniger Geld zufrieden sein müssten. Keinen Gedanken verschwendet Margaret daran, dass die Arbeiter, besonders die jungen Frauen, die mit Baumwolle arbeiten, ganz real spätestens in ihren 20ern an Staublunge verrecken, dass es also bei den geschilderten Arbeitskämpfen um nichts weniger als um das blanke Überleben geht, auf der Unternehmerseite dagegen um mehr oder weniger Gewinn.
Anders als „Mary Barton“ zeigt dieser Roman tatsächlich eine durchaus sympathische Figur, die aufgrund der Arbeitsbedingungen früh stirbt. Und trotzdem wird das niemals zum Argument im Kampf zwischen Arbeit und Kapital und ist schon gar nicht ein Gedanke, mit dem sich Margaret wenigstens mal ein bisschen beschäftigen würde. Was für heutige Lesende so naheliegt, dass nämlich das nackte Überleben und ein bisschen mehr Geld haben keine gleichwertigen Interessen sind, zwischen denen man eine freundliche Mittelposition einnehmen kann , es scheint in diesem Roman undenkbar.
Die Schlagseite wird noch dadurch verstärkt, dass ausgerechnet diese sterbende junge Frau tief gläubig ist und nichts von Arbeitskämpfen hält. Natürlich kann man den Roman noch immer kritisch gegen den Strich lesen, aber der Strich ist eindeutig und aufdringlich: Wir sollen Mitgefühl mit diesen Arbeitern haben, aber auf keinen Fall auf die Idee kommen, dass der organisierte Kampf um mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen irgendwie berechtigt ist. Das ist interessanterweise, obwohl dieser Roman noch krasseres Leid zeigt als „Mary Barton“, ein Schritt zurück von der dort zumindest implizit vorhandenen Grundlinie, dass die Kapitalisten quasi eine christliche Pflicht hätten, gut für ihre Arbeiter zu sorgen. Margaret ist tatsächlich sogar so dreist, zu erklären, der Kampf um höhere Löhne sei egoistisch, insbesondere angesichts dessen, was das Kapital alles Gutes für den Fortschritt des Landes tut. Nun könnte man den Kampf eines Einzelnen um höhere Löhne egoistisch nennen, von mir aus. Sobald sich aber viele Menschen zusammen tun, um gemeinsam für höhere Löhne zu kämpfen und dabei eben gerade auf kurzfristige eigene Vorteile zu verzichten, ist das nicht egoistisch, es ist solidarisch. Es ist auf keinen Fall egoistischer als die Lohndrückerei der Bosse, die Anlass für den Streik ist und hier einfach mit schlechten Handelssituationen begründet wird, was ähnlich viel bedeutet wie: Gott will es. Die Quasi-Vergöttlichung des Marktes ist in „North and South“ deutlich weiter fortgeschritten als in dem sieben Jahre früher erschienenen „Mary Barton“, als möglicherweise die nationalökonomischen Theorien die Gesellschaft noch nicht so durchdrungen hatten und der Schock über die Entstehung eines auch physisch klar leidenden Industrieproletariats und Lumpenproletariats noch größer war. Der Roman geht sogar so weit zu behaupten, jeder Arbeitskampf schade schließlich den Arbeitern, weil das langfristig die Löhne sogar fallen lasse. Der das vorträgt, ist der Vater von Margaret, der in ähnlicher Weise als Leser-Stand-in, als Filterfigur, als Stimme der Vernunft im Text steht, zumindest wenn es um Fragen von Kapital und Arbeit geht.

Wenn der Markt Gott wird, und das ist vielleicht der gesellschaftlich interessanteste Aspekt dieses Romans, muss Gott natürlich zurücktreten. Das ist besonders signifikant angesichts des stets christlichen Grundtons, den die Autorin anschlägt. Aber in „Mary Barton“ hatte Gott noch einen klaren Zugriff auf das Gesellschaftliche; der Roman machte deutlich, dass aus der christlichen Weltanschauung auch bestimmte notwendige Verhaltensweisen und eine gewisse gesellschaftliche Ordnung folgen. Hier ist „North and South“ deutlich zurückhaltender. Aus der christlichen Weltanschauung folgt zwar noch eine gewisse Haltung zur Welt – das Mitleid, eine gewisse zwischenmenschliche Freundlichkeit – aber nicht mehr eine Art und Weise, wie gesellschaftliche Verhältnisse zu ordnen sind. Das regelt nun, auch bei dieser christlichen Autorin, ganz zurecht der Markt, selbst wenn er es nach dem Verständnis, das noch „Mary Barton“ zugrunde lag, schlecht regelt.

Eine wichtige Einsicht auch gegenüber bis heute andauernden Diskussionen, wer eigentlich Gott getötet hat und das christliche Weltbild erschüttert. Hier nehmen konservative, meist mehr oder minder wirtschaftsliberale, Menschen ja bis heute gerne Progressive in den Fokus, die mit ihren Ideen angeblich das gesellschaftliche Fundament zersetzen. An der überzeugten Christin Gaskell kann man sehen, dass die „Zersetzung“ quasi-natürlich kam, indem ein neuer Gott installiert wurde, eben jener Gott, dem auch jene konservativen Kritiker heute meist huldigen. Natürlich könnte diese Einsicht auch progressive Antiglaubenskämpfer erschüttern. Es scheint als ist der vielbesungene „Tod Gottes“ mindestens so sehr, wahrscheinlich sogar mehr, die Ursache eines breiteren Atheismus, als die Folge atheistischer Agitation. Und erlegt wurde der alte Gott von einem neuen Gott, mit dem zumindest der linke Atheismus, zumindest nach der eigenen Sicht auf sich selbst, genauso wenig anfangen kann.

Man sieht, „North and South“ ist ein relativ einseitiger Roman, und das passiert faszinierenderweise genau, weil die Autorin eine Mittler-Figur, also gewissermaßen eine Figur, die für das Ideal des Ausgleichs steht, erschaffen hat. Die legt Lesenden sehr deutlich nahe, wie man den Roman zu lesen hat, so dass jegliche Kritik im Gegensatz zum vielstimmigen „Mary Barton“ nur noch gegen eine doch sehr offenkundige Textintension möglich ist. Das wäre wahrscheinlich deutlich erträglicher, wenn nicht unglaublich viel Zeit mit ausufernden Diskursen über Kapital und Arbeit verschwendet würde und die Geschichte insgesamt stärker wäre. Aber sind wir ehrlich: Schon allein der Vorwand, der die Familie Hale in den Norden verschlägt, ist hanebüchen. Ein Priester gibt einfach so seinen sicheren Job auf, um mit der Frau, die danach prompt verreckt, und der Tochter, in eine dreckige Arbeiterstadt zu ziehen? Es gibt da noch eine angedeutete Love Triangle; am Anfang wirbt der Sohn der Familie, für die Margaret in London gearbeitet hat, um die junge Frau, der wird dann aber über viele hundert Seiten vergessen, und natürlich soll sich auch zwischen Thornton und Margaret so eine „Will-they-won’t-they“-Geschichte anbahnen. Aber nichts spricht ernsthaft für irgend so etwas wie Anziehung zwischen den beiden Figuren, das Ganze ist von vorne bis hinten steif entwickelt. Und Thornton, den wir in seiner kühl kalkulierenden Manchester Art wohl für ähnlich abstoßend, aber auch faszinierend und schließlich dann eben doch gewinnend halten sollen wie Margaret, insbesondere im Kontrast zu den „verweichlichten“ südlichen Großbürgern und Adeligen, sorgt halt einfach mit seiner Fabrik dafür, dass junge Frauen spätestens in ihrem 20ern an Staublunge sterben. Nicht wirklich eine Ehe, die man der Protagonistin wünschen möchte.

„North and South“ ist ein Roman nach Schema; schon die schematische Gegenüberstellung von Norden und Süden wirkt steif (sollte man wirklich glauben, dass Margaret in London kein Arbeiterelend gesehen hat?), die schematische Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit mit der warmherzigen Mittelfigur Margaret wirkt ebenso steif, und die zentrale Liebesgeschichte ist auch nicht der Rede wert. Ein Text, den man wirklich nur lesen muss, wenn man sich für das Gesamtwerk der Autorin interessiert oder vielleicht sogar an der Uni dazu arbeitet.

Bild: Wiki, gemeinfrei.

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