Mehr als Nils Holgerson 1 – Selma Lagerlöfs „Der Ring des Generals“.

„Der Ring des Generals“ von Selma Lagerlöf ist eine ungewöhnlich aufgebaute, relativ kurze Erzählung, die eine Zeit von etwa 100 Jahren überspannt und dabei dennoch nicht zerfahren wirkt. Die zweite Hälfte ist eine relativ klassische Schauergeschichte, also schon recht nah an dem, was man heute Horror nennen würde. Die erste Hälfte dagegen hält in der Schwebe, ob es etwas Übernatürliches gibt, das unsere Welt beeinflusst, und ob Gott die Geschicke der Menschen hier und da auch aktiv lenkt.

Es beginnt mit einem Paar auf einem schwedischen Dorf, das nicht lange nach dem Großen Nordischen Krieg einen wertvollen von König Karl XII verschenkten Ring aus dem Grab eines Generals entwendet. Noch in der Nacht des Diebstahls brennt ihnen der Hof ab. Später findet der Sohn den Ring und versucht, ihn außer Landes zu bringen, doch stirbt er schon bald, und drei Männer werden des Mordes angeklagt und einem Gottesurteil unterworfen. Sie sollen gegeneinander würfeln, der mit der niedrigsten Zahl wird gehängt. Tatsächlich werfen sie alle zwei Sechsen, und der Rat spricht sie auf Vorbehalt frei. Der König entscheidet aber, das Ergebnis bedeute, dass Gott alle schuldig gesprochen habe. Viele Jahre später entdeckt die Geliebte eines der Männer den Ring in der Mütze des Sohnes des ursprünglichen Diebes eingenäht. Ob sie nun aus Rache die Mütze in den Landsitz der Familie des Generals schmuggelt oder der Ring auf anderen Wegen dorthin kommt, bleibt ein wenig im Dunkeln. Zumindest erlebt man dort dann noch einmal viele Jahre später eine klassische Schauergeschichte mit Geistererscheinungen des Generals, bis eine Begegnung mit diesem den Sohn der Familie an die Schwelle zum Tode führt. Die Magd schafft es schließlich, den Ring zu finden und zurück ins Grab zu bringen, wobei aber auch hier offen bleibt, ob das den Fluch tatsächlich aufhebt.

Der Text könnte ein Schauertext unter vielen sein, hätte er nicht zwei besondere Stärken. Die erste: die schon erwähnte Verknüpfung von Geschichten aus gut 100 Jahren, als wäre das eine Leichtigkeit. Man hat nicht das Gefühl, hier ist etwas hastig mit Brüchen heruntergeschrieben, oder man bewege sich durch einzelne, nur locker verbundene Geschichten. Die Zeitsprünge wirken so unglaublich organisch, da die Figuren, die in späteren Jahren übernehmen, zuvor schon aufgebaut wurden. Die Erzählung wechselt zwischen personalen Erzählsituationen, die es erleichtern, vieles im Dunkeln zu lassen, und einigen Einschüben einer Ich-Erzählerin, die sich als Verfasserin ausgibt und sich wiederum auf eine alte Legende stützt. Lagerlöf weiß genau, was sie alles weglassen kann und welche Lücken der Erzählungen aus jeder früheren Zeitspanne sie geschickt in einer späteren für die Lesenden füllen kann. Die zweite Stärke ist die plastische Darstellung des schwedischen ländlichen Lebens. Der Text ist eben nicht einmal in erster Linie eine Schauergeschichte, sondern eine Geschichte über gesellschaftliche Verknüpfungen, über Machtverhältnisse, über Traditionen und Gebräuche, Glaube und Unglaube und wie sich all das auf das Leben auswirkt. Der verfluchte Ring wirkt wie ein Band oder, nunja, eben ein Ring, der durch all das gezogen wird und 100 Jahre sauber und geschlossen miteinander verknüpft. Eine sehr gelungene Erzählung, die zugleich der Auftakt einer Trilogie ist, die mit noch zwei etwas längeren Romanen fortgesetzt wird, die mir alle in einem Buch vorliegen. Es werden also höchstwahrscheinlich noch zwei weitere Besprechungen folgen.

Bild: eigenes.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..