Ein deutlich besserer Roman – „Daheim“ von Judith Hermann

Hätte man mit „Lettipark“ und „Aller Liebe Anfang“ den Eindruck gewinnen können, Judith Hermann habe nach ihren beiden frühen Kurzgeschichtenbänden „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“ sowie dem Roman in verbundenen Erzählungen „Alice“ plötzlich das Schreiben verlernt, präsentiert sich das gerade erst vor zwei Jahren erschienene „Daheim“ wieder deutlich stärker. Auch das ist noch einmal ein Roman, also nach den bisher von der Autorin veröffentlichten Texten zu urteilen nicht gerade ihre natürliche Heimat. Aber dieser Roman bringt mit, was bei „Aller Liebe Anfang“ größtenteils abwesend ist: das bildhafte Erzählen der früheren Kurzgeschichten, Figuren, die eine gewisse Plastizität gewinnen, eine Handlung, die in nachvollziehbarer Weise durchgeführt wird.

Dabei könnte man anfangs durchaus einen gegenteiligen Eindruck bekommen. Denn die ersten 15 Seiten erzählt die Ich-Erzählerin eine Geschichte davon, wie sie als Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik von einem Zauberer angesprochen wird und mit ihm auf Kreuzfahrt gehen soll, als Assistentin. Dann folgt der Bruch. Die Erzählerin ist nicht gefahren, hat stattdessen geheiratet, ihre Tochter großgezogen, sich scheiden lassen, bleibt dem Mann aber in Brieffreundschaft verbunden, die Tochter reist auf einem Schiff um die Welt, und die Erzählerin ist nach Norddeutschland gezogen. Dort spielt sich nun der Hauptteil der Erzählung ab, der von ihrer Freundschaft zu einer Künstlerin namens Mimi handelt, zu deren Bruder Arild, einem relativ einfachen, in sich ruhenden Schweinebauern, mit dem die Erzählerin mit der Zeit eine Beziehung aufnimmt. Es geht immer wieder um Versuche, einen im Haus streunenden Marder in die Falle zu bekommen, und was stattdessen in der Falle gefangen wird. Der fast 60-jährige Bruder der Erzählerin führt derweil eine verstörende, nicht genau definierte, Beziehung, mit einer gerade erst 20-jährigen Halb-Obdachlosen.

In ein paar Gedanken und Gesprächen wird die Sache mit dem Zauberer noch hier und da aufgegriffen, und auch der Schluss bezieht sich noch einmal auf diese Möglichkeit eines alternativen Lebensentwurfs und den Trick mit der Kiste und der zersägten Jungfrau, die die Erzählerin in diesem Lebensentwurf hätte sein können. Wie eng aber diese Geschichte mit dem Rest des Romans verbunden ist, wird bei genauerem Hinsehen deutlich. Denn immer wieder geht es um solche Kisten und was man darin fängt oder nicht fängt. Die 20-Jährige Halb-Obdachlose wurde als Kind von den Eltern in eine Kiste gesperrt. Der Marder soll in einer Kiste gefangen werden, doch die hält immer wieder andere Überraschungen bereit. Die Künstlerin versenkt ihre Leinwände im Meer und fängt auf diese Weise Gegenstände und Abdrücke, aus denen sie dann ihre Bilder gestaltet. Einmal erzählt diese Künstlerin eine Geschichte darüber, wie Fischer eine Nixe gefangen und gefoltert haben und wie die letzten Sturmfluten des 18. Jahrhunderts die Rache der Nixe gewesen sein sollen. Und natürlich hält der Roman auch zahlreiche rein metaphorische Kisten bereit. Und: Nicht jede Kiste ist rein negativ konnotiert, viel mehr geht es auch darum, wie man sich dazu verhält, was man will. Die Beziehungskiste, in der etwa die Erzählerin mit Arild landet, kann auch Geborgenheit und Schutz bieten.

„Daheim“ ist im großen und ganzen ein ruhiger, stiller, reflektierender Roman. Am Ende fehlt mir sprachlich die letzte Meisterschaft, um ihn ebenso sehr zu empfehlen wie die kürzeren Erzählungen der Autorin, mit Ausnahme von „Lettipark“. Ebenso fehlt mir das absolut Dringende der Handlung, etwas, das mir sagt, warum ich genau diesen Text und keinen anderen lesen sollte. Aber wahrscheinlich sind 90 Prozent der jemals publizierten Bücher dennoch deutlich schwächer, und da die auch gelesen werden, würde ich doch nahelegen, im Zweifelsfall dann lieber zu „Daheim“ von Judith Hermann zu greifen.

Bild: Wikiart, gemeinfrei.

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