Die prototypische Wut des Bürgers in der verwalteten Welt? Max Frischs „Graf Öderland“ –

– und seine politischen Kritiken.

„Graf Öderland“ von Max Frisch ist offenkundig ein Text, der in Erinnerung bleibt. Von allen Stücken Frischs, die ich zum Ende meiner Schulzeit oder zu Beginn des Studiums gelesen habe, ist dieses das einzige, bei dem ich zumindest öfter mal drüber nachgedacht habe, es mir noch einmal anzuschauen. Und auch mein Bruder, dem ich nachdem ihm in der Schule irgendwas von Frisch gefallen hatte, alle meine Frisch-Bücher überlassen hatte, hat später noch öfter darüber geredet und kürzlich wieder angeregt, wir könnten das noch einmal lesen. Also habe ich das Buch noch einmal besorgt.
Was macht den Reiz aus? Ich denke, vor allem die absurde Ausgangslage, die die Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem immer gleichen Alltag, in ein einziges Bild packt, das sich einprägt, selbst wenn man die Handlung größtenteils wieder vergessen hat. „Graf Öderland, mit der Axt in der Hand.“

Genauer: Ein Staatsanwalt soll einen Axtmörder hinter Gitter bringen, der sich von genau diesem Staatsanwalt als einzigen verstanden fühlt. Der Staatsanwalt legt seiner Frau dar, dass der Mörder, zusammengefasst, gewissermaßen aus Langeweile und ohne besonderes Ziel mordet. Wenig später begegnen wir dem Anwalt auf einem Dorf wieder, wo er bald in die Rolle des Rächers Graf Öderland schlüpft, der mit seiner Axt ebenfalls relativ wahllos Leute umbringt und eine Gefolgschaft um sich schart. Wie viel wirkliches Aufbegehren gegen Autoritäten ist, das zumindest hypothetisch zu einer anderen Gesellschaft führen könnte, oder auch nur halbwegs die „Richtigen“ trifft, und wie viel willkürliches Morden, bleibt unklar. Die Autoritäten aber nehmen mit der Zeit den Aufstand als Revolution wahr, identifizieren den Anwalt/Grafen als Anführer und tragen ihm, als sie ihn nicht festmachen können, die Macht an, um hoffentlich auch unter der neuen Herrschaft halbwegs ihre Freiheiten zu sichern.

Das alles erweckt sehr den Eindruck einer bürgerlichen Macht-Fantasie, eines Traumes von Ausbruch, der eigentlich nicht real sein kann. Dass das Stück statt in Akte in Bilder gegliedert ist, verstärkt das noch mal. Und tatsächlich scheint im 12. und letzten Bild der Graf wie aus einem Traum zu erwachen, ist zurück in seinem Haus und sagt: „Alles vorbei.“
Allerdings sind da die Schuhe, die noch so dreckig sind, als wäre der Graf gerade aus seinem letzten Rückzugsort in der Kanalisation gekommen. Und natürlich die Herrscher aus Wirtschaft und Militär, die ihm die Macht eintragen. Trotzdem gab es zuvor ein paar Momente, die den Eindruck stützen könnten, dass die gesamte Grafenhandlung nicht ganz real ist. Etwa begegnet der Graf als Graf in einem früheren Bild seinem Freund Hahn und seiner Frau, und man erkennt sich gegenseitig nicht. Wikipedia enthält einige ausführlichere Überlegungen zum Verhältnis von Traum und Realität im Stück, wobei man ehrlich sagen muss, dass jegliches In-der-Schwebe-Halten nicht funktioniert: Das Stück schlägt sich zum Schluss ganz klar auf die Seite der Realität.
Ich tendiere dazu, das Ganze für einen hastig runtergeschriebenen Spaß zu halten, der eine Fantasie einfach einmal ausbuchstabiert, die wahrscheinlich in ihrem trögen Alltag mehr Menschen haben, als man glaubt, und die Frisch ohne größeres Interesse an Konsistenz und konsequentem Aufbau der Handlung ins Extrem getrieben hat. Der Erfolg gab ihm dahingehend wohl recht.

Denn wirklich gut ist das Stück nicht. Die Handlung vom ursprünglichen Mörder und die Handlung vom Grafen werden kaum vernünftig enggeführt, wenig Folgendes geht auch nur halbwegs plausibel aus dem Vorangegangenen hervor. In meinen diffusen Erinnerungen an das Stück hatte ich mir die Zeit in der Kanalisation und den Aufbau der Revolution viel detaillierter ausgemalt, tatsächlich kommt das kaum über eine Erwähnung heraus. Wieso Autoritäten eines doch allem Anschein nach modernen Staates, die doch eine Armee mit Schusswaffen haben dürften, vor ein paar Deppen mit Äxten einknicken, deren Bewegung nicht einmal Ziele formuliert hat, bleibt absolut unplausibel. Aber die Idee und das Bild von dem Mann mit der Axt, der einfach mal mit allem aufräumt, was im Alltag auf den Nerv geht, scheint bei vielen Menschen einen Nerv getroffen zu haben.

Zuletzt noch eine Bemerkung zu einer der zahlreichen Kritiken und Interpretationen, die Wikipedia versammelt. Da heißt es:

„Manfred Durzak sah in Graf Öderland einen Fortschritt gegenüber Frischs früheren Stücken, die thematisch in der Sehnsucht nach persönlicher Selbstverwirklichung und Liebeserfüllung verharrten. Allerdings werde die sozialpolitische Aussage des Stücks immer wieder ‚metaphorisch vernebelt‘. So verwandle sich der romantische Ausbruch nicht nur in eine Revolution, sondern werde letztlich zur Farce, die ohne jede ideologische Botschaft unter dem bloßen reklamehaften Zeichen der Axt stehe. Frisch weiche einer utopischen Präzisierung aus und flüchte sich in Negation und legendenhafte Allgemeinheit, was Durzak auf fehlende politische Reflexion sowie die Scheu vor konkretem Engagement zurückführte. Indem das Stück am Ende die Macht in einem Kreislauf erneut etabliere, werde Frisch schließlich doch ungewollt ideologisch und postuliere die Aussichtslosigkeit jeder politischen Veränderung. Als Fazit sah Durzak Graf Öderland in seiner historischen Bedeutung deutlich hinter Vorbilder wie Ernst Tollers ‚Masse Mensch‘ zurückfallen.“

Das ist schon eine faszinierend intelligente Formulierung von Dummheit. Keine Sorge, ich kenne dieses Denken. Ich habe Texten früher auch vorgeworfen, was sie nicht sind, insbesondere, was sie politisch nicht sind. Was soll das denn heißen, Frisch weiche einer utopischen Präzisierung aus? Vielleicht hat er ja gute Gründe, keine Utopie zu schreiben? Vielleicht ist ja genau das der tiefere Sinn des Textes. Und dadurch, dass der Text die Aussichtslosigkeit jeder politischen Veränderung postuliere, werde er ideologisch? Nun, erstmal: Ein literarischer Text kann niemals etwas Absolutes für die außerliterarische Welt postulieren. Dass der Öderland-Aufstand nicht in eine bessere Gesellschaft führt, bedeutet nicht, dass es keine politischen Bewegungen geben kann, die in bessere Gesellschaften führen können. Und wäre es nicht genauso ideologisch, zu behaupten, ein Aufstand müsse in eine bessere Gesellschaft führen? Empirisch haben beide Seiten ihr Recht: Einerseits kennen wir durch die Geschichte zahlreiche Beispiele gewaltsamer Bewegungen, deren Ende eine gesellschaftliche Veränderung, etwa ein Staatswesen, darstellen, das wir von unserer heutigen Warte aus als besser als das vorherige bezeichnen würden (z.B., die Französische Revolution, auch manche, aber nicht jede, postkoloniale Befreiungsbewegung). Auf der anderen Seite ist es aber doch so, dass bisher noch jede Revolution, die aus verfestigten Machtstrukturen auszubrechen gedachte und die Herrschaft des Menschen über den Menschen abzuschaffen, zurück in solche gefestigte Machtstrukturen führte. Ideologisch könnte man also mit Fug und Recht behaupten, dass die Postulat, das Stück hätte zeigen müssen, wie eine Revolution in eine solche befreite Gesellschaft führt, erst recht ideologisch sei. Das wiederum soll nicht heißen, dass es keine utopischen Stücke geben soll, oder dass eine deutlich freiere Gesellschaft nicht denkbar ist, sondern vor allem: Wenig ist dümmer, als einem literarischen Text vorzuwerfen, dass er nicht so ausgeht, wie ich mir das aus politischen Gründen vorstelle. Zumal, und das nur nebenbei, der Öderland-Aufstand ja in keiner Weise je eine geplante politische Revolution war, hinter der eine Theorie stand und ein Konzept für die Organisation der Gesellschaft nach dem Sieg. Es ist ein gewaltgewordener Wutausbruch, ein Ausbruch aus dem als Gefängnis empfundenen Alltag, den sich dessen wichtigster Protagonist zum Schluss selbst nur noch als Traum erklären kann. Vielleicht ist es überhaupt, wenn man den Leuten mal genauer zuhört, d i e typische Wut des Individuums an der verwalteten Welt. Wenn wir das Stück jetzt aber nicht metaphorisch lesen wollen, also als eine Art bildliche Ausgestaltung jener Wut, die mancher vielleicht angesichts des einengenden Büroalltags und ähnlicher Probleme manchmal in sich trägt, sondern tatsächlich als politische Vision, dann stünde die doch weder früheren liberal-bürgerlichen Revolutionen nahe, noch sozialistischen oder selbst noch anarchosyndikalistischen, sondern in ihrer Unmittelbarkeit und in der Gewalt als scheinbarem Selbstzweck vor allem – faschistischen. Damit möchte ich dem Stück nicht Faschismus vorwerfen, denn das Stück ist nicht sonderlich politisch. Ich sehe es eher als hochkulturelles Äquivalent zum Ballerspiel, zu einer Runde am „Punching Ball“, zu einem Halbmarathon im Regen nach der Arbeit, mit ein paar Twists, die verhindern, dass der Exzess des Grafen Öderland und seiner Bande am Ende glorifiziert werden können.

Bild: Pixabay.

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