Ein Roman in fünf Erzählungen? Judith Hermanns atmosphärischer Band „Alice“.

„Alice“ von Judith Hermann ist einige Jahre vor „Lettipark“ und „Aller Liebe Anfang“ erschienen, die beide schockierend schwach waren (Besprechungen folgen), insbesondere vor dem Hintergrund der starken Erzählbände „Sommerhaus später“ und „Nicht als Gespenster“. Erfreulicherweise darf ich mitteilen, dass zumindest „Alice“ noch das Niveau der vorangegangenen Werke hält, je nach Betrachtungsweise vielleicht sogar übertrifft, und dass die Lorbeeren, die der Text sich selbst auf dem Buchdeckel ausstellt (ernsthaft, gleich sechs enthusiastische Zitate, man kann es wirklich übertreiben!), im Großen und Ganzen gerechtfertigt sind.

„Alice“ ist ein zusammenhängender Text in fünf Erzählungen, die jeweils um ein einschneidendes Erlebnis im Leben der Hauptfigur kreisen, gewöhnlich den Tod eines männlichen Freundes oder Familienmitglieds. Alice wird im Verlauf der Texte immer älter. Man könnte das durchaus auch als Roman bezeichnen; zumindest thematisch ist der Text als Ganzes dichter und zeigt mehr Zusammenhänge als das hastige „Aller Liebe Anfang“.

Jede Erzählung funktioniert für sich, wobei die zweite und besonders die vierte im Vergleich abfallen, aber zusammen zeigen sie das Bild einer Protagonistin in verschiedenen Lebenslagen, und was besonders beeindruckt: So sehr sich zumindest vier der fünf Texte thematisch ähneln, so sehr wohnt doch jedem seine spezifische Melancholie des Todes inne, den eine lebende Person zu verarbeiten hat. Der erste bringt etwa Alice, eine frühere und eigentlich nur kurzzeitige Geliebte, mit der Ehefrau eines Sterbenden zusammen, der ausgerechnet in Zweibrücken dahinscheidet. Man stützt sich irgendwie, existiert aber auch irgendwie aneinander vorbei. Alles wirkt kühl und etwas schief, wie auch noch die Überlegung, dass Zweibrücken ja eigentlich ein passender Ort sei, um die Brücke des Todes zu begehen, die freilich nur eine einzige Brücke sei. Die zweite Erzählung konfrontiert Ausschweifung, Freuden der Urlaubs-, Lebens- und Liebeslust noch relativ junger Erwachsener mit dem Tod eines Mitglieds der Gruppe, was Alice befremdlich berührt, vor allem weil sie gar keine Chance mehr hatte, ihn kennenzulernen. Und sicher auch, weil der Tod so falsch in dieser eigentlich fröhlichen Geschichte steckt. In der dritten Erzählung stirbt der Freund einer Freundin und der relativen Einsamkeit des Sterbens, so sehr das direkte Umfeld auch darum bemüht sein mag, diese Einsamkeit zu nehmen, stehen die belebten nächtlichen Straßen Berlins gegenüber:

“Noch immer – die Straße voller Menschen. Ununterbrochen redend, kein Ende absehbar, kein letztes Wort. Aber jetzt, mit Einbruch der Dunkelheit, klang alles gedämpfter. Windlichter auf den Tischen. Männer und Frauen, einander gegenübersitzend. Die schweren grünen Bäume. Fahrräder, am Rand des Trottoirs aneinandergeschlossen, über dem Park der Mond, das Schiff jetzt leer, ein leeres Schiff aus Holz mit durchbrochener Reling in einem Meer aus Sand. Verlassene Bänke drum herum. Pappbecher, Zeitungen, Flaschen. Aus den Büschen kamen die Sammler, höflich und leise, hoben die Flaschen auf, ließen einander den Vortritt. Fledermäuse zwischen den Bäumen. Mauersegler, ihre empörten, verrückten Schreie. Das Pingpong der Tischtennisbälle, die Melodien der Mobiltelefone, Sinfonien. Alice ging an der langen Flanke des Parks vorbei auf das Haus zu, in dem sie wohnte, in dem Raymond an diesem Nachmittag und frühen Abend geschlafen und gelesen hatte.”

Die Stimmung dabei erinnert an jene, die ich für die Gemälde von Cortès aus Paris beschrieben habe.

Der Unterschied etwa zu „Aller Liebe Anfang“ ist einer wie Tag und Nacht. Auch diese Sprache ist nicht schwer, aber sie ist bemüht uns Szenen bildhaft vor Augen zu stellen. Auch hier versammelt Hermann zahlreiche scheinbar kleine und unwichtige Details, aber die sagen immer etwas Besonderes über die Figuren, über die Stimmung; sie laden zum Verweilen ein, nicht zum Drüberhasten. Auch hier ist manche Figur schwer greifbar, aber das funktioniert im Kontext dieser kurzen Texte, und die Figuren wirken nicht wie Fremdkörper, sondern höchstens wie Rätsel, über die man nachdenken muss.

Bild: Eigenes.

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