Krasser stilistischer Bruch zum Vorkriegswerk – Elisabeth Langgässers Nachkriegs-Erzählungen „Torso“

Wer wie ich Elisabeth Langgässer über die lange Erzählung „Proserpina“ von 1929 entdeckt hat, wird mit den späten Kurztexten „Torso“ den Eindruck haben, einer fast komplett anderen Autoren gegenüber zu stehen. War ersteres ein so dicht von Symbolen durchzogener Text, dass er fast hermetisch wirken konnte, wobei für mich die Entscheidung aussteht, ob die Sache wirklich aufgeht oder manches nur in Langgässers privater Mythologie funktioniert, sind die nach 1945 erschienenen Texte von „Torso“ vergleichsweise nüchtern, die Sätze deutlich kürzer, die Symbole seltener und klarer und das Deutschland das Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit steht klar im Mittelpunktpunkt. Dennoch arbeitet Langgässer stärker mit Bildern als die bekannten Autoren der sogenannten Trümmerliteratur, versucht, im schrecklichen Schönheit zu schaffen und ihr Bild des Nachkriegsdeutschland über diese Kontraste herauszuarbeiten, etwa:

„Natürlich vergaß sie hinterher doch, das Gesicht in die Hände zu legen. Sie war zu glücklich – ein Herz voller Glück, ein Mund voller Süßigkeit. Der reine, zarte Geschmack der Hostie, die sich auf ihre rosige Zunge wie auf ein Magnolienblatt legte . . . das Gefühl der Bedeutung des Augenblicks und ein plötzlich erwachtes Bewußtsein ihrer gesteigerten Größe . . . ließ das Kind alles andre vergessen . . . Dazu kam, daß jetzt wirklich die Sonne durchdrang und den golden flimmernden Grund der Apsis mit der großen Flügeltaube erzittern und plötzlich aufbrennen ließ. An der Abendmahlbank war ein Kommen und Gehen von älteren Männern und Frauen, Schulkindern und Soldaten – obwohl es ein gewöhnlicher Werktag mit stiller Messe war, drängten die Menschen in immer größerer Anzahl hinzu und flüchteten aus der Nähe des Todes in den Schutz des Lebendigen.“”

Auch eine anfangs schwer zu durchschauende Erzählung, da undefinierte Menschen in irgendeinem abgelegenen Dorf in Nazideutschland bei einer scheinbar wichtigen Arbeit beobachtet werden, wobei das Ganze über den Großteil des Textes wirken könnte wie eine christlich konnotierte Arbeiter-Idylle, endet mit dinem starken Bild:

“Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen.”

Das wird dann aber sofort mit dem Schluss der Erzählung kontrastiert:

“Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: »In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.«”

Verfolgung und Vernichtung der Juden ist überhaupt ein entscheidendes Thema des Bandes. Auch die zweite Erzählung, scheinbar ein poetisches Stillleben, das zahlreiche Gegenstände nebeneinander stellt, kann ich mir vor dem Schlusssatz des Textes nur als eine Komposition aus von Deportierten zurückgelassenen Habseligkeiten erklären. Der Schluss lautet:

“Im übrigen war das Atelier leer; so leer und so unbeachtet von Menschen, daß die Schneiderbüste es wagen konnte, sich langsam um sich selber zu drehen – langsam und feierlich auf dem dünnen, drollig gedrehten Säulchen wie ein antiker Chor. Sie drehte sich in der Richtung des Uhrzeigers unermüdlich und ohne innezuhalten vom Morgen bis zum Abend an den hübschen kleinen Dingen vorüber, die, hätte die Schneiderbüste einen Kopf auf den Schultern getragen, in ihr Blickfeld gekommen wären: an dem Schälchen mit dem springenden Hasen, dem blaßblauen Schächtelchen aus Valencia, dem Teller mit den Paprikaschoten, den Mirabellen, den Frühsommerbirnen, den bunten Armbändern und den Ringen, die ab und zu winzige Feuerfunken und zornige kleine Blitze entließen, die wie aus dem Innern der Erde zurückgeschleudert waren. Sehr spät erst, mit Sonnenuntergang, kam die kreisende Büste zur Ruhe. Sie stand jetzt, gemessen an einer Welt, die sie umwandelt hatte, wie zu dem Pol der Nadir. Es wurde kühl, es wurde sehr dunkel . . . die Farben vergingen und auch die Formen – und endlich wurde es Nacht.
Man schrieb den 22. Juni des Jahres 41.”

Ein späterer und einer der stärksten Texte des Bandes handelt von einer älteren Frau, die während des Krieges lange Zeit eine jüdische Bekannte versteckt hat. Doch je länger sie dieser Unterschlupf gewährt, desto „jüdischer“ wirkt die Bekannte für sie. Auf einmal glaubt sie, Dinge an der Nase und den Haaren zu bemerken, die ihr zuvor nie aufgefallen sind. Und auch die Bekannte wächst immer mehr in die Rolle hinein. Zugleich sagt sie ihrer längst offen böswilligen Gastgeberin einmal sinngemäß: „Du könntest genauso leicht dran sein, wenn dich jemand als Jude denunziert.“ Am Ende kommt die Frau des Blockwarts hinter das Geheimnis, und die Geflüchtete wird doch noch deportiert. Sie behauptet, sich in dem unübersichtlichen Anwesen versteckt gehalten zu haben, ohne dass die Gastgeberin etwas davon wusste, so dass diese verschont bleibt. Doch diese gibt später zu Protokoll: Hätte die Geflüchtete stattdessen sie denunziert, gewissermaßen die Rollen getauscht, so wäre sie wahrscheinlich anstandslos mitgegangen. Hier tun sich interessante Parallelen zur gesellschaftlichen Lesart von Kafkas „Verwandlung“ auf, nach der man sich gewissermaßen in das verwandelt, als was man von Gesellschaft und Mitmenschen gelesen wird. Auch in Salman Rushdies „Die satanischen Verse“ lassen sich die ungewöhnlichen Verwandlungen, die Saladin und Gibril durchmachen, gewissermaßen als eine solche physische Manifestation von „Othering“ lesen.

Erwähnenswert ist definitiv auch noch der Auftakt und Titeltext des Bandes. In „Torso“ kommen ein paar Männer aus einer Blockhütte heraus in eine seltsam unklare, scheinbar zerstörte, vielleicht postapokalyptische Welt. Sie unterhalten sich, versuchen sich an irgendeine frühere Zeit vor dieser letzten und totalen Katastrophe zu erinnern und stoßen beim Pflügen schließlich auf einen Torso, ganz ähnlich wie in Rilkes „Archaischer Torso Apollos“. Doch statt wie beim noch hoffnungsvollen Rilke die Botschaft zu empfangen „Du musst dein Leben ändern“, wird darüber spekuliert, für wie viel man den Torso verkaufen könnte, und man erkennt immerhin eine gewisse Ähnlichkeit zwischen sich und diesem Bruchstück eines Menschen der Vorzeit. Zum Schluss klingt es, als seien die drei tot, etwa im Limbo, aber selbst das könnte wieder vor allem metaphorisch gemeint sein.

Aus historischer Perspektive interessant ist natürlich derweil, wie eindeutig das Holocaust-Thema in diesen Text ist. Nein, es wird nie deutlich gesagt, was in Buchenwald, Treblinka oder Auschwitz passierte. Aber es wird auf die Deportationen hingewiesen und auch darauf, dass niemand zurückkehrt. Und gerade, dass Orte wie Auschwitz derart als Chiffre verwendet werden können, um etwas Schreckliches anzurufen, scheint mir ein deutlicher Hinweis darauf zu sein, dass auch direkt nach 1945 Langgässer voraussetzen konnte, dass ihre Leserinnen und Leser wussten, was geschehen ist. Das stärkt meine schon nach „Wo warst du, Adam?“ angestellten Überlegungen, dass nach dem Ende des Krieges eben nicht einfach eine quasi natürliche Verdrängung einsetzte, und es scheint mir auch schwer vorstellbar, dass zig Millionen Menschen psychologisch auf Schuld und Grauen genau gleich reagieren. Sondern dass diese Verdrängung womöglich erst erlernt werden musste, quasi gesellschaftliche Arbeit war. Der Holocaust ist in Texten der späten 40er und frühen 50er deutlich präsenter als in vielen Texten der 60er, 70er und teils auch noch 80er Jahre.

Bild: Eigenes.

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