„Als der Mond eine Brücke baute“. Eine phantastische Erzählung.

Da nach meiner Erfahrung Rezensionen an Weihnachten kaum geklickt werden, heute eine eigene Erzählung mit leicht weihnachtlicher Stimmung.

Vielleicht hatte in dieser Nacht ein silbernes Singen in der Luft gelegen. Vielleicht waren die Töne an einer Kaltfront kristallisiert. Weiß, von überfrorenem Schnee, waren die Hügel. Weiß die Dächer des Dorfes.
Wie durch Wolken war die junge Frau nach den letzten warmen Lichtern hingegangen, wo in Stuben am Feuer wohl noch einige Familien musizierten, über den Pfad, der sich über den Hügel gegenüber des Kapellenbergs wand. Da geschah, gerade als ein hohes Wolkenfeld aufriss und der Mond sich in ihrem Rücken leuchtend in seiner ganzen Pracht zeigte, das gänzlich Unwahrscheinliche: Ein Regenbogen. Ganz ähnlich, wie man sie vom Tage kennt, wenn es regnet oder nebelt und die Sonne steht tief. Vielleicht etwas blasser, die Farben ein wenig ins Mondsilberne spielend. Aber zugleich fester wirkend, als habe dieser Bogen, im Gegensatz zum Sonnenbogen, Substanz. Ob sich das Mondlicht an den Melodien brach, die aus der Wärme der Wohnzimmer in die Kälte entwichen? Oder ob einfach ein frostiger Winterwind am Abend Eiskristalle über das Dorf getrieben hatte? Wer weiß.

Der Bogen spannte sich vom Hügel, da sie ging, beinahe von vor ihren Füßen, weit über das Dorf und den Kapellenberg, in eine unermessliche tiefblaue Ferne. Und sie ging, ging, langsamer werdend, zögernd, bis sie am zarten Brückenkopf dieses Mondbogens anlangte. Sie probierte, erst mit dem einen Fuß, dann mit dem anderen, ob das Licht trüge. Sie trat einen Schritt zurück, umrundete einmal das farbenfrohe Leuchten. Schüttelte den Kopf. Blickte, wie fragend, suchend, herab ins Dorf. Schüttelte noch einmal den Kopf. Zuckte mit den Schultern. Und setzte den rechten Fuß auf den Bogen.
Ein Knirschen in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Eine Katze sprang, wie auf der Jagd, über den harten Schnee. Hielt plötzlich inne. Maunzte, jämmerlich klagend, und sah die junge Frau mit großen fragenden Augen an. “Mimi?”, sagte die, verwundert. „Ach, dich hatte ich ja ganz vergessen. Aber schau, du findest sicherlich jemanden, der dir deinen Napf füllt. Und die Menschen werfen ja auch so viel weg… „
Da war nun einmal dieser seltsame Mondbogen, das musste man doch einmal untersuchen. Und im Dorf waren gerade die letzten Lichter ausgegangen, und niemand sang mehr.
„Und überhaupt „, seufzte die junge Frau,“wer singt mit mir?“ Nein, nur weil eine Katze maunzt, sollte man sich nicht zurückhalten lassen.
„Und dann…“, wunderte sie sich. „Mimi… Hatten wir dich nicht vor Jahren schon begraben?“

So stelle ich mir das Gespräch zumindest vor. Ich konnte natürlich nichts hören und auch nur wenig Genaues erkennen. Ich stand, als ich diese Szene beobachtete, in vorgelagerter Position am Hang nördlich des Dorfes und sie, am Fuße des Bogens, war mir in der Tiefe nur ein kleiner Schatten, der einen Schatten warf. Für einen Moment schien sich ein noch kleinerer Schatten zu ihr zu gesellen. Ein markerschütternder Katzenschrei. Dann ein kurzes Gespräch. Kurz darauf verschwand der kleinere Schatten spurlos. So ist das eben. Wir müssen die Lücken füllen, die die Welt lässt.
Die junge Frau tat Schritt um Schritt auf dem seltsamen nächtlichen Regenbogen. Schon ging sie einige hundert Fuß über unserem winzigen Dorf. Da war es ihr, als betrete sie eine Stadt aus Silber. Häuser aus Silber, festlich dekoriert mit silbernem Tannengrün. Ein silberner Marktplatz mit silbernen Gaslaternen, ein silberner Baum mit silbernem Stern auf dem Wipfel. Silberne Spuren im Schnee, die erzählten von vergangenem Markttreiben und Kinderspiel, von Musikanten und verträumten Kutschfahrten, von Hunden, die sich balgten. Ich erkläre es mir so, dass die erkalteten Melodien im Mondlicht das Dorf spiegelten. Dass Silhouetten von Häusern und Straßen und Plätzen in dieser Nacht aufwärts streuten, wie das eisige Gegenbild einer Fata Morgana, die man von heißen Sommertagen kennt. Wie sonst soll man sich all das auch erklären?
Als sie den Marktplatz passiert hatte und die Mondbrücke nahe des Kapellenhügels schon begann, sich auch aus dieser silbernen Stadt unwiederbringlich herauszuheben, vernahm die junge Frau Schritte, die, klein und hektisch, herantappsten. Eine ältere Frau rief den Namen der jüngeren, geriet dabei ins Stolpern und wäre beinahe gestürzt.
„Gehe nicht! Das ist kein guter Weg. Es ist der falsche Weg.“ Solcherlei wiederholte die ältere Frau wieder und wieder. Doch die jüngere schüttelte traurig den Kopf: „Ich glaube… Ich muss. Schauen Sie… ich suche etwas, das ich da drunten auf keinen Fall finden kann. Dort unten gibt es doch nichts mehr für mich.“ Und während sie das sagte, war es, als sei ihr dieser Gedanke gerade erst gekommen und doch schon immer wahr gewesen, und nun schritt sie sehr zügig aus, als bewege sie sich auf ein klares Ziel hin.
Die Ältere versuchte noch für einige Augenblicke, der Jüngeren zu folgen, doch mit jedem Schritt sank sie tiefer in die diffuse Farbenpracht des Mondbogens ein. Schon fiel sie, trudelte federleicht, wie Herbstlaub, nach dem Kirchanger hin. Da kam ein milder Wind auf, und fuhr geradewegs durch die Alte hindurch, die zerstäubte, als sei sie ein Schmetterling gewesen, den nur noch eine Idee, eine letzte Hoffnung vielleicht, zusammen gehalten hatte.
Im Mondenschein glitzernd senkte der Staub sich auf graue Gräber. War vom überfrorenen Schnee bald schon nicht mehr zu unterscheiden.

Weit hinter dem Kapellenberg, wo die Hänge steiler werden und das Gebirge höher, steht am Saum des Waldes eine Bank, von der aus man ins Tal blicken kann und wo sich oft die Liebenden treffen. Hoch über diese Bank spannte sich der schillernde Bogen. Und da die junge Frau dort schon nicht mehr vorüberschritt, sondern – glitt? flog? – erhob sich einer von dieser Bank und rief: “Halt ein, Liebste! Gehe nicht fort! Wir hatten doch alles, was wir uns nur wünschen konnten!”
In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit, mag sein, ich wäre dieser junge Mann gewesen. Doch was hätte es geändert? Er rief und rief, doch sie vernahm nicht sein Rufen. Und da er unter verzweifelten Tränen niedersank und sie bereits am Horizont entschwand, wo sich, immer weiter und weiter, der Mondbogen ins Finster spannte, wo gerade jetzt – oder spielten mir meine Augen da bloß einen Streich? – am Horizont ein neuer heller Stern erglühte, bin ich eben nur ein stiller Beobachter dieser Szenen, der höchstens eine einzige verschämte Träne weint.

Vielleicht hatte in dieser Nacht ein silbernes Singen in der Luft gelegen. Vielleicht waren die Töne an einer Kaltfront kristallisiert. Vielleicht ist auch nichts dergleichen geschehen. Gerade haben sich von Osten wieder schwere Wolken vor den Mond geschoben. Und ich schaue einsam herab auf ein kleines Dorf, das sich in tiefste Dunkelheit hüllt.

Bild: Eigenes (Montage aus 2 Aufnahmen).

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