Schönheiten im Schatten? Jun’ichirō Tanizakis „In Praise of Shadows“.

„In Praise of Shadows“ habe ich durch einen Hinweis in einem Youtube-Video entdeckt, in dem darüber nachgedacht wurde, wie die Welt anders sein könnte, wenn die westliche Tradition der Architektur und Herstellung von Gebrauchsgegenständen sich ab der Moderne nicht vor allem an der Pragmatik der kurzfristigen Nützlichkeit orientiert hätte, sondern auch am ästhetischen Empfinden im Alltag.

Das Buch des japanischen Autors Jun’ichirō Tanizaki hat eine ähnliche, etwas fester in historischen Gegebenheiten begründete Herangehensweise. Es ist eigentlich mehr ein längerer Essay, der darüber meditiert, was durch die relativ rasche Übernahme von Technologien und Kulturtechniken aus dem Westen in Japan und breiter im ostasiatischen Raum unwiederbringlich verloren gegangen ist, sowie einige Spekulationen darüber, wie es anders hätte laufen können. Dabei beschäftigt sich der Text deutlich weniger mit Kunst, als man es vielleicht angesichts des Titels und der großen Bedeutung von Licht und Schatten in der ostasiatischen Malerei erwarten könnte. Die Kunst ist nur insofern Thema, wie sie als Teil des Alltags wahrgenommen wird oder wie die realen Veränderungen in der Nutzung von Licht und Schatten in Japan ihre Wahrnehmung beeinflussen. Hierbei reflektiert der Autor etwa, wie sehr die Installation von modernen Lichtern das Kabuki-Theater entwertet habe und wie viel stärker heute das Nō-Theater sei, das noch immer so weit als möglich klassische Beleuchtung nutzt.

„Were the Nō to be lit by modern floodlamps, like the Kabuki, this sense of beauty would vanish under the harsh glare. And thus the older the structure the better, for it is an essential condition of the No that the stage be left in the darkness in which it has stood since antiquity. A stage whose floor has acquired a natural gloss, whose beams and backdrop glow with a dark light, where the darkness beneath the rafters and eaves hangs above the actors‘ heads as if a huge temple bell were suspended over them-such is the proper place for Nō. Its recent ventures into huge auditoriums may have something to recommend them, but in such a setting the true beauty of the Nō is all but lost:

The darkness in which the Nō is shrouded and the beauty that emerges from it make a distinct world of shadows which today can be seen only on the stage; but in the past it could not have been far removed from daily life. The darkness of the Nō stage is after all the darkness of the domestic architecture of the day; and Nō costumes, even if a bit more splendid in pattern and color, are by and large those that were worn by court nobles and feudal lords. “

Charakteristisch ist jedoch, dass das Buch aus den einfachsten Dingen eine ästhetische Erfahrung oder vielmehr eine Erinnerung an verlorengegangene ästhetische Erfahrungen hervorrufen kann, etwa dem Gang zur traditionellen Außentoilette:

„As I have said there are certain prerequisites: a degree of dimness, absolute cleanliness, and quiet so complete one can hear the hum of a mosquito. I love to listen from such a toilet to the sound of softly falling rain, especially if it is a toilet of the Kanto region, with its long, narrow windows at floor level; there one can listen with such a sense of intimacy to the raindrops falling from the eaves and the trees, seeping into the earth as they wash over the base of a stone lantern and freshen the moss about the stepping stones. And the toilet is the perfect place to listen to the chirping of insects or the song of the birds, to view the moon, or to enjoy any of those poignant moments that mark the change of the seasons. Here, I suspect, is where haiku poets over the ages have come by a great many of their ideas. Indeed one could with some justice claim that of all the elements of Japanese architecture, the toilet is the most aesthetic. Our forebears, making poetry of everything in their lives, transformed what by rights should be the most unsanitary room in the house into a place of unsurpassed elegance, replete with fond associations with the beauties of nature. Compared to Westerners, who regard the toilet as utterly unclean and avoid even the mention of it in polite conversation, we are far more sensible and certainly in better taste.“

Wenn man aus dem eher assoziativ voranschreitenden Text eine zentrale These destillieren möchte, dann vielleicht diese: Mit der Übernahme westlicher Techniken und ganz besonders westlicher Beleuchtung, aber auch mit Glastüren statt Papier und ähnlichen Veränderungen wurde die Ästhetik des Alltags auf eine Weise gestört, die auch auf das tägliche Leben und die Lebenszufriedenheit einen Einfluss haben dürfte. Dem setzt der Autor ganz vorsichtig die Utopie einer sehr graduellen Entwicklung entgegen, in der Japan eigene Äquivalente zu diesen Techniken entwickelt hätte und eine, mit einem leider heute eigentlich verbrannten Wort, ganzheitliche moderne Ästhetik eingeleitet hätte.

Dabei erscheint der Autor gesellschaftlich nicht unbedingt konservativ. Mehrfach betont er, dass der gewählte Weg nun beschritten wurde und man ihn tapfer und nach bestem Gewissen gehen müsse. Niemals ruft er dazu auf, das Rad einfach zurückzudrehen. Die Sehnsucht nach alten Traditionen und einer bestimmten Ästhetik ist melancholisch, nicht nostalgisch. Es ist das Sehnen nach etwas notwendig Vergangenem, ohne dass man es nun gewaltsam zurückbringen möchte. Natürlich kann man auch das rein ästhetische Bewusstsein konservativ nennen, aber ich denke, es ist nicht falsch, wie es Tanizaki macht, daran zu erinnern, dass ästhetisches Empfinden meist ein gewachsenes ist und dessen Revolutionen oft nur kleine Teile der Gesellschaft erfassen. Ein Beispiel ist die moderne bildende Kunst im sogenannten E-Bereich: Wenn man ganz ehrlich ist, begeistern sich dafür fast ausschließlich die, die damit Geld verdienen. Doch diese Menschen, genauso wie die Bäuerin vom Land, ob gläubig oder atheistisch, empfinden Ehrfurcht (z.B.) vor und in Notre Dame. Und diese Ehrfurcht ist eben, wenn wir voraussetzen, dass Atheisten wirklich Atheisten sind und Gott nicht existiert, ein ästhetisches Empfinden. Es braucht dafür auch nicht unbedingt religiöse Monumente. Autor Tanizaki nennt vor allem Beispiele aus dem Alltag. Ich denke, auch dem Anliegen dieses Autors scheinbar kontrafaktische Beispiele ließen sich nennen. Times Square in New York etwa: Der mag vielen Menschen zu hektisch erscheinen oder für eine falsche Entwicklung der Konsumgesellschaft gelten. Aber zu behaupten, diese nach dem Himmel offene Kathedrale aus Beton, Stahl, Licht und menschlichen Leibern erzeuge nicht einen ähnlichen ehrfürchtigen Schauder wie ältere große Monumente der Zivilisation, wäre höchstwahrscheinlich einfach gelogen.

Es könnte dann durchaus auch im Sinne von Tanizaki sein, nach vorne zu blicken. Das Alte kommt nicht einfach wieder, und wenn, brächte es großes Übel mit.
Doch tatsächlich sind aus dem beschleunigten „verwestlichten“ Japan und dem größeren asiatischen Raum wieder allgemeingültige Ästhetiken erwachsen, die heute weltweit die Vorstellungskraft reizen. Man denke etwa an den Cyberpunk und davon abgeleitete moderne Großstadtästhetiken. Eigentlich alle neueren Städte in utopischer, dystopischer und Science-Fiction-Literatur sind viel mehr als von westlichen Städten beeinflusst von der Weite, der Höhe und nicht zuletzt auch der Raumaufteilung japanischer und neuerdings chinesischer Städte, u.a. auch Hongkong und besonders Kowloon Walled City. Und, möchte ich hinzufügen, auch in der Nutzung von Licht und Schatten. Denn so dominant das Licht in der Cyberpunk-Ästhetik auf den ersten Blick erscheinen mag, so ist dessen eigentliche Funktion doch vor allem, Schatten zu werfen. Schatten in diffusem Licht sind das entscheidende ästhetische Gestaltungsmittel zB von Blade Runner, Mute und anderen Werken ähnlicher Stoßrichtung. Selbst die gleißendsten Lichter versinken in einer Welt des Schattens, die dazu zwingt, ähnlich zu erspüren, sich in ähnlicher Weise an den Umrissen entlangzutasten, wie es der Autor für ein Gemälde beschreibt, das in der klassischen japanischen Architektur im Alkoven nur von den zartesten Resten des Tageslichts berührt wird, fast eins mit der Dunkelheit wird und nur in dieser Konstellation seine Wirkung wahrhaft entfaltet.

Bild: wiki, gemeinfrei

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