Fatma Aydemirs „Dschinns“ ist deutlich solider balanciert, aber auch weniger kraftvoll als „Ellenbogen“.

„Ellenbogen“ von Fatma Aydemir hat mich bei Erscheinen überrascht. Eine Lesung mit der Autorin hatte mich nicht überzeugt, doch der Roman war stark. Temporeich im ersten Teil, von einer starken Atmosphäre getragen im zweiten, und dabei gegen das in Deutschland beliebte Istanbul-Bild der sanften Melancholie, wie es unter anderem Orhan Pamuk geprägt hat, gebürstet. Gerade dieser zweite Teil wurde häufiger kritisiert, doch ich halte ihn für die eigentliche Stärke des Textes, samt dem symbolkräftigen Ende.

Aydemirs zweiter Roman, „Dschinns“, ist nun für den Deutschen Buchpreis nominiert. Das ist ein sehr viel „soliderer“ Text als Ellenbogen. Die Komposition wirkt deutlich bewusster erwogen, die einzelnen Geschichten von insgesamt sechs Figuren werden gegeneinander balanciert.

“Istanbul, 1999. Nach dreißig Jahren in Deutschland erfüllt sich Hüseyin seinen Traum: Eine eigene Wohnung in Istanbul. Doch am Tag des Einzugs stirbt er an einem Herzinfarkt. Als seine Frau und die vier erwachsenen Kinder aus Deutschland zur Beerdigung anreisen, kommen jahrzehntelang verschwiegene Geheimnisse und unverheilte Wunden ans Licht.”

Jede der Figuren, die teils zur Beerdigung, teils zu spät in Istanbul eintreffen, bekommt jeweils ein Kapitel irgendwo zwischen 50 und 70 Seiten. Jede Figur hat ihr Päckchen zu tragen, was an zwei Stellen des Romans mit der Idee der Dschinns, die neben und mit uns leben, enggeführt wird. Ümit an einer Verliebtheit, die in seinem Fußballteam nicht gern gesehen wird, Peri am Tod ihres Geliebten, Sevda am zerrütteten Verhältnis zur Mutter, die Mutter auch daran, und alle zusammen am plötzlichen Tod des Vaters usw. Die einzelnen Schicksale sind ansprechend erzählt, es gelingt auch im Großen und Ganzen, in späteren Geschichten, wenn die Innenperspektive der jeweiligen Figur nicht mehr zur Verfügung steht, früher Reflektiertes noch einmal aufzugreifen und dem Ein- oder Anderen eine neue Wendung zu verpassen.

Was mir in „Dschinns“ allerdings fehlt, ist dichte die Atmosphäre, die bei „Ellenbogen“ den Funken überspringen ließ. Es wird viel gefühlt und geredet, aber außer dass wir wissen, dass ein Teil der Geschichte in „Rheinstadt“ spielt, einige Erinnerungen uns nach Frankfurt führen, und die Figuren jetzt in einer Wohnung in Istanbul zusammengekommen sind, kommt kaum rüber, was das eigentlich heißt. Wie fühlen sich diese Orte an (außer dass es an dem einen Nazis gibt und man an dem anderen Kurden hasst), wie klingt, riecht, schmeckt das alles? Diese Frage formuliere ich nicht umsonst so, denn es wird durchaus im Text hier und da erwähnt, dass jemand so und so klingt, etwas riecht oder schmeckt. Nur für das Ganze, in dem die Geschichte spielt, wird es nicht erzählerisch transportiert. Sie klingt immer ähnlich ausgewogen.

Der Schluss des Romans kommt dann etwas sehr gewollt und drastisch daher, wie der sprichwörtliche Gott aus der Maschine, während zuvor auch bereits eine hohe Dichte an unwahrscheinlichen dramatischen Verknüpfungen aus der Perspektive der Mutter Emine im Schlusskapitel enthüllt wurden. Das ist dann doch meines Erachtens etwas viel Unwahrscheinlichkeit auf einmal, in einer Geschichte, die bis dahin streng naturalistisch erzählt war (naturalistisch nicht in dem Sinne der sogenannten Kunstepoche sondern im Sinne des heute vorherrschenden Literaturparadigmas: Wir berichten von dem was ist, und wir berühren wichtige Themen). Gerade dahingehend hätte dem Roman meines Erachtens gut getan, die Offenheit der einzelnen Kapitel auch auf den Schluss des Ganzen auszudehnen. Zwar ist das Ende strenggenommen offen, aber… Ich denke, wenn ihr lest, werdet ihr selbst merken, was ich meine.

Ich bin mir sicher, viele LeserInnen werden „Dschinns“ mögen, bzw. mögen den Roman, davon sprechen ja schon die Rezensionen und Sterne auf Amazon. Es ist auch wirklich kein schlechter Text, allerdings ziehe ich dann die Wucht von „Ellenbogen“ der doch sehr routinierten Konstruktion von „Dschinns“ vor. Zumal die Konstruktion eben tatsächlich vor allem routiniert ist, und nicht solch ein überwältigend dichtes Geflecht, wie beispielsweise Llosas „Das grüne Haus“, Morrisons „Jazz“, oder Woolfs „To the Lighthouse“.

Bild: Pixabay.

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