Ein Roman für hundert. Gabriel Garcia Marquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“.

Der Reiz des Romans in verschiedenen Lebensaltern

Von Gabriel Garcia Marquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ lässt man sich wahrscheinlich vor allem aus zwei Gründen begeistern: Der erste, meist als junger Leser, ist sozusagen content-getrieben. Mittlerweile haben Generationen von vor allem Linken sich Marquez zugewandt, weil seine Romane ein faszinierendes, wildes, kunterbuntes und zumindest in der öffentlichen Meinung revolutionäres Lateinamerika zeigen – eine Projektionsfläche nach dem Motto: Wenn nur das oder das anders gelaufen wäre, hätten wir bereits das Paradies auf Erden, und vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal. Mir scheint allerdings, dass hierbei ganz gerne der Autor, der sich im Gegensatz zur Zeitgenossen nie wirklich vom real existierenden Sozialismus distanzierte und eine Freundschaft zu Castro unterhielt, mit dem Werk verwechselt wird, das oft eher melancholisch, geradezu anti-revolutionär ist. Überhaupt gibt es bei „Hundert Jahre Einsamkeit“ viele Gründe, das Werk nicht politisch-identifikatorisch zu lesen, darauf komme ich später. Aber: Für viele ist das der erste Impuls, der zum Marquez zieht, und überhaupt zur lateinamerikanischen Literatur. In ihr atmet eine Begeisterung für den Aufruhr, für wilde Ästhetiken, für das unangepasste Denken, die dennoch nicht aufgesetzt wirkt, sondern aus einer realen Quelle, aus realen gesellschaftlichen Kämpfen und Widersprüchen, zu schöpfen scheint.

Irgendwann lernt man, dass Literatur nicht nur Content ist, dass Bücher, die langfristig bleiben, mehr brauchen als irgendeinen Ruf zu den Waffen, und erneut wird man im Fall von „Hundert Jahre Einsamkeit“ fündig. Während man wie nebenbei feststellen muss, dass der Roman eigentlich überhaupt nicht den revolutionären Impetus enthält, den man hineinprojiziert hat – Zumindest politisch nicht, ästhetisch vielleicht durchaus – entdeckt man die perfekte Komposition dieses delikat verwobenen Teppichs des Lebens mit seinen offenen Vorgriffen und Rückgriffen, seinen vielen versteckten Anspielungen auf späteres Geschehen, seinen durchaus starken Säulen, an denen die Manigfaltigkeit aufgehängt ist, seiner letztlich entweder zyklischen oder Spiralstruktur. Ich kann verstehen, dass dieses Werk Schwierigkeiten macht für Lesende, die typische lineare Erzählstrukturen gewohnt sind, dazu das brutale Diktat eines längst komplett falsch verstandenen „Show, don’t tell“ – sie müssen sich stärker umgewöhnen als selbst noch bei Texten wie „Ulysses“, das ja tatsächlich aller sprachlichen Opulenz zum Trotz einer relativ einfachen doppelten Heldenreise folgt. Die meisten Freunde des Buches dagegen könnten Schwierigkeiten haben, dessen Qualitäten tatsächlich zu verbalisieren, eben weil man kaum an Bekanntes Anschluss finden kann. Und was soll man verbalisieren? Die Qualität ist doch selbstevident, so wie man nicht erklären muss, warum Schokoladeneis gut ist oder zwei und zwei vier. Gewissermaßen denke ich sogar, es ist im Bereich der Kunst erlaubt, mit Selbstevidenz zu argumentieren – ab einer gewissen Größe ist es nicht das Werk, das sich erklären muss, der Leser muss wachsen. Meine Faustregel dafür: Hundert Jahre, in denen das Werk von neuen Generationen immer wieder hochgehalten wird, und zwar sowohl unter der nicht auf irgendwelchen Akademieposten sitzenden Bevölkerung als auch innerhalb der Akademie, als auch im besten Fall von Autorinnen und Kollegen – wohlgemerkt: Nicht Liebe einer Mehrheit oder der Massen ist entscheidend, sondern Dauer in unterschiedlichen Millieus. Denn so gefährlich das Argument „Scheiße schmeckt, Millionen Fliegen können nicht irren“ ist, etwas, das den Wechsel der Zeiten und der Geschmäcker übersteht und zugleich akademische wie auch popkulturelle Moden, hat höchstwahrscheinlich aus guten Gründen Bestand. Eine Kritik daran sollte dann schon sehr gut gearbeitet sein. Und die Probe auf Exempel funktioniert normalerweise. Goethe hat Bestand, besonders der Faust. Bürger war zwar gewissermaßen der Backstreet Boy des 19. Jahrhunderts, aber geblieben ist davon praktisch nichts. Melville hat überlebt; Viele kurzfristig deutlich beliebtere Zeitgenossen dagegen nicht. Cobain wird wahrscheinlich überleben, die Backstreet Boys werden vergessen werden, wie Bürger. Und so weiter. Der Umkehrschluss ist übrigens falsch: Nur weil etwas wenig beachtet wird, ist es nicht schwach. Und manches Schwache mag bloß aufgrund glücklicher Zufälle zu überdauern. Es braucht dann eben eine wirklich vernünftige Kritik, die diese Schwächen herausarbeitet.

„Hundert Jahre Einsamkeit“ hat jetzt die 50-Jahre-Marke erreicht, und so sehr, wie dieser Roman bisher als der Ausdruck des vergangenen Jahrhunderts, nicht nur in Kolumbien sondern in ganz Lateinamerika, resonnierte und wie er die Welt eroberte, wage ich die Prognose: Auch in 50 Jahren werden noch Menschen in der Gluthitze auf der Veranda hocken, sich den Weltuntergang anschauen und sich beim Nachdenken über die Zyklen der Idiotie, mittels derer wir es vermieden haben, diesem Weltuntergang noch entgegenzutreten, sehr verwandt fühlen mit der Bevölkerung Macondos.

Ein Text als Wimmelbild oder musikalische Komposition

Natürlich sollte man aber dennoch versuchen, die Stärken dieses Werkes herauszuarbeiten und auch über die Schwächen nicht zu schweigen, denn außer Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ ist kein Werk ohne Schwächen. Zuerst gilt es, mit der Struktur zurechtzukommen. Hier könnte es einerseits hilfreich sein, sich den Roman weniger als eine lineare Erzählung mit steigender und fallender Action wie in „Auf der Flucht“ oder „Pretty Woman“ vorzustellen, sondern als ein Wimmelbild, wie sie bereits einige Jahrzehnte vorher in der lateinamerikanischen Kunsttradition in den gigantischen Murals hervorgebracht wurden, wobei insbesondere die von Diego Rivera berühmt sind. Ich denke, es gibt kaum einen Text sonst, der so viel parallel erzählt: große, über hunderte Seiten spannende Geschichten, kleine, über wenige Seiten, und ganz viel dazwischen, alles miteinander verwoben, alles relativ gleichberechtigt. Anders als andere Romane über Städte, die oft davon zehren, dass wir bereits Bilder im Kopf haben, an die Beschreibungen nur erinnern müssen, baut Marquez sein Macondo von Grund auf, was es, wenn man die Augen schließt und versucht, es sich vorzustellen, teils geradezu paradox wirken lässt. Wie eine surreale Comiczeichnung, bunt und trist zugleich, voller Anachronismen und so weiter und so fort; das natürlich auch, weil man mit der Zeit die Bilder aus den Jahrhunderten der Stadt zusammenzieht zu einem großen Ganzen. Macondo ist ein expressionistisch- surrealistisches Wimmelbild, in dem Marquez exemplarisch die schicksalhaften Entwicklungen eines Kontinents verdichtet, allerdings ein Wimmelbild mit Chronologie.
Neben der Malerei ist natürlich die Musik, besonders die moderne Konzertmusik seit der Weimarer Klassik, das beste Analogon – natürlich, weil alle Literatur mit künstlerischem Anspruch seit der klassischen Moderne letztendlich versucht, dieses Rätsel zu lösen: Wie kann ein literarisches Werk, das ursprünglich so sehr aus dem linearen Erzählen kommt, den gleichen Grad von Durchkomponiertheit erreichen wie die Werke der Musik? Und „100 Jahre Einsamkeit“ dringt dabei sehr weit vor. Beachtet nur mal beim Lesen die vielen kleinen Themen, die eingeführt werden, sei es Erfindungen, Handarbeit, wie jemand ein Bad nimmt und vieles mehr, und wie diese Themen dann durch die Zeiten und durch die Figuren hindurch immer wieder variiert werden.

Narrative Säulen

Wenn man genauer hinschaut, gibt es natürlich durchaus starke Säulen. Die ganz zentrale Geschichte ist die des Vaters Jose Arcadio, der sich für verrückte Erfindungen begeistert und die Begeisterung an seine Kinder weiterträgt. Der Sohn Jose Arcadio verschwindet dann mit den Fahrenden, die regelmäßig durch die Stadt ziehen, während der andere Sohn, Aureliano, zuerst die Werkstatt weiterführt. Er wird mit der Zeit zu einem berühmten Oberst des Bürgerkriegs, ach was, der Bürgerkriege, ach was, des den Hals einfach nicht voll-Kriegens. Diese Linie führt durch mindestens zwei Drittel des Buches und dürfte die eine große Säule sein, an der man sich im Sinne einer klassischen Geschichte orientieren kann. Und tatsächlich zieht sie sich sogar bis zum Schluss, indem der letzte Aureliano jenes alte Pergament entziffert, das schon seit vielen hundert Seiten durch die Handlung geistert, und es schließlich als einen weiteren großen Vorgriff enthüllt: als die Geschichte Macondos von Anfang bis zum Ende, oder gewissermaßen als das Buch, das auch wir lesen. Eine zweite, später aufgebaute, Säule sind die Kinder Jose Arcadio und Aureliano Segundo, die möglicherweise als Zwillinge vertauscht wurden, weil sie den Namen entgegengesetzte Charakteristika aufweisen, und insbesondere Aureliano Segundos, der zwischen zwei Frauen hin und her schwankt. Die dritte und wichtigste Säule ist die alte Mutter Ursula, die als junge Ehefrau des ersten Jose Arcadio Macondo mitgegründet hat und irgendwann im Alter zwischen 115 und 120 Jahren relativ gegen Ende des Romans stirbt. Erst jetzt, bei meiner dritten Lektüre und nach bestimmt mindestens zehn Durchläufen des englischsprachigen und dann des deutschsprachigen Hörbuchs, fiel mir auf, dass einige ungewöhnliche Momente der Zeitdehnung und -streckung relativ eng mit der Wahrnehmung dieser impliziten Hauptfigur , verbunden sind. Denn wenn dieser Roman eine Hauptfigur hat, ist das, entgegen einer weit verbreiteten Fehleinschätzung, nicht der Oberst, sondern Ursula. Eine der wenigen möglichen Schwächen des Romans ist die Beschleunigung zum Schluss hin. Mehrere Plotlines wirken dann schnell eingeführt und wieder abgefrühstückt, Dinge, die in der ersten Hälfte unglaublich wichtig gewesen wären, werden nun beinahe zu Fußnoten. Allerdings werden wir durch Ursula in etwa an der Stelle, an der das immer deutlicher wird, auf Folgendes hingweisen:

“Ursula hegte schwere Zweifel hinsichtlich der Methoden, mit denen sie den Geist des trägen Lehr- lings für das Amt des Papstes geschult hatte, schob die Schuld jedoch weder auf ihr wankelmütiges Alter noch auf die Nebelschwaden, die sie nur den Umriß der Dinge erkennen ließen, sondern auf etwas, was sie selbst nicht zu bestimmen vermochte und doch undeutlich als fortschreitenden Verschleiß der Zeit erkannte. „Die Jahre von heute sind nicht mehr wie die von einst“, pflegte sie zu sagen im Gefühl, die Alltagswirklichkeit entgleite ihren Händen. Früher, so dachte sie – wuchsen die Kinder sehr langsam heran. (…) Man brauchte nur all die Sonne und den Nachttau zu bedenken, die der arme José Arcadio Buendía unter der Kastanie erduldet hatte, und all die Zeit, während der es seinen Tod zu beweinen galt (…)”

Und mittlerweile bin ich alt genug, um feststellen zu müssen: Genauso ist es leider. Die Jugend dauert ewig, aber spätestens mit 25 ist die Rente nah, und das wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn man nicht dazwischen noch 40 viel zu rasch dahinfließende Jahre sich um Geld abstrampeln müsste, das die Kunst beherrscht, noch rascher zu verfließen als die Zeit. Im Fall von “100 Jahre Einsamkeit” aber altern wir gewissermaßen mit dem Buch und mit Macondo und erleben mit der Stadt die Beschleunigung der Jahre.

Eine letzte Säule ist das System der zahlreichen Vorgriffe und Rückgriffe, insbesondere natürlich das Verankern zahlreicher Teile der Handlung an dem Moment, da Oberst Buendia vor dem Erschießungskommando steht, von wo aus sich dann Rückblenden ergeben. Aber auch an anderen Stellen scheut sich Marquez nicht, in einer Handlung in der Gegenwart schon einmal rasch 50 Jahre in die Zukunft zu blicken oder an anderer Stelle weit zurück. Es sind nicht Enthüllungen oder Twists, die die Spannung von „100 Jahre Einsamkeit“ aufrechterhalten. Der Roman wird getragen von einer Tiefenspannung, von einem Gerüst der Querverbindungen, gespannt durch Zeit und Raum wie ein herrlicher Kristall. Das heißt allerdings nicht, dass diese Struktur Überraschungen verbietet. Trotz des immer wieder erwähnten Erschießungskommandos findet der General schließlich ein ganz anderes Ende als diese Vorausdeutung erwarten lässt. Und wem die Wiederentdeckung der vergessenen Rebecca in ihrem seit Jahren verfallenen Haus nicht Schauer über den Rücken jagt, dem ist meiner Meinung nach auch nicht mehr zu helfen. Ja, Marquez nutzt seine Vorausdeutungen sogar häufiger, um für Spannung zu sorgen, indem wir mit der Zeit lernen, dass das Vorausgedeutete zwar geschieht, aber für gewöhnlich ein bisschen anders, und dass sich damit die Bedeutung des Ganzen noch einmal deutlich wandelt.

Sprache

„100 Jahre Einsamkeit“ ist auch sprachlich ein schöner Roman. Vielleicht nicht in der Art und Weise schön, wie manche Prosawerke kleine Gedichte sind, die man zitieren kann und bereits damit hat man den Beweis getan. Aber dem Text wohnt ein meditativer Fluss inne, und eine durchweg gleichbleibende Qualität der sprachlichen Gestaltung, wo andere Autoren vielleicht mal ein, zwei Seiten richtig für Atmosphäre sorgen und sich sagen: „Okay, das war es. Jetzt Handlung, Handlung, Handlung.“ Für Marquez gehören Handlungen und Sinneseindrücke untrennbar zusammen, und auch das macht sein Macondo so lebendig. Es wird immer wieder in Farbe, Textur, Geräuschen und Gerüchen neu gebaut. Dennoch zwei Beispiele, die aber wirklich recht willkürlich herausgegriffen sind, jede Seite arbeitet praktisch auf diesem Niveau:

“Die rostzerfressenen Angeln, die vom Überfluß der Spinnweben kaum noch zusammenge- haltenen Türen, die von der Feuchtigkeit verklemmten Fenster und der von Unkraut und Wildblumen zernagte Fußboden, in dessen Ritzen Eidechsen nisteten und alle Arten von Ungeziefer, schienen die Auffassung zu bestätigen, daß dort zumindest seit einem halben Jahrhundert kein Menschenwesen mehr hauste. Der draufgängerische Aureliano Triste brauchte nicht so viele Beweise, um zur Tat zu schreiten. Mit der Schulter rammte er die Haustür, und schon stürzte das wurmstichige Holzwerk zusammen ein lautloses Geriesel aus Staub, Erde und Termitennestern. Aureliano Triste blieb auf der Schwelle stehen und wartete, bis der Nebel sich legte, dann sah er mitten im Wohnzimmer die nach der Mode des vergangenen Jahrhunderts gekleidete knochendürre Frau mit ihrem von wenigen gelblichen Strähnen kaum bedeckten Schädel, mit ihren noch immer schönen großen Augen, in denen die letzten Sterne der Hoffnung erloschen waren, und mit ihrer von der Härte der Einsamkeit zerfurchten Gesichtshaut.”

Interessanterweise gilt ‚100 Jahre Einsamkeit‘ auch als anstrengender Roman wegen seiner langen Sätze. Das ist Quatsch und dürfte zu den Projektionen gehören, die dem Autor anhaften, unter anderem, weil „Der Herbst des Patriarchen“ dann tatsächlich so verfasst ist. Der Stil von „100 Jahre Einsamkeit“ ist oft relativ einprägsam, die Sätze von recht durchschnittlicher Länge, es gibt einiges an wörtlicher Rede, und wenn die Sätze dann einmal richtig lang werden, hat es seinen Grund. Etwa in einer Litanei von Fernanda, in der diese eben tatsächlich gerade ohne Punkt und Komma redet.

Roman eines Staates, eines Kontinents?

Seinen großen Erfolg hat der Roman sicherlich der Tatsache zu verdanken, dass er bei Erscheinen quasi exemplarisch zu stehen schien für zahlreiche Übel, die nicht nur Kolumbien, sondern auch die weitere lateinamerikanische Welt plagten. Er umgriff wohl Lebensgefühle und Perspektiven auf die Welt, die für diesen Teil der Welt universell gewesen sein müssen bzw. so erschienen. Dieses Hin und Her gerissen Sein zwischen sich zu Großem berufen fühlen und gleichzeitig dem Eindruck, irgendwie immer zu kurz zu kommen, eine Entwicklung, die vom Quasi-Feudalismus zur Weltraumtechnologie innerhalb weniger Jahrhunderte springt, wobei man gesellschaftlich zugleich den Eindruck hat, man komme nicht von der Stelle. Und der ständige Taumel von einer autoritären Gesellschaft durch eine schmerzhafte Revolution direkt in die nächste autoritäre Gesellschaft. Und sicherlich vieles mehr, Machismo, rigide Geschlechterrollen, Lotterien als schlechter Ersatz für Sozialsysteme. So viele Dinge und überhaupt die allgemeine Melancholie von „100 Jahre Einsamkeit“ trifft man so regelmäßig auch in anderen literarischen Zeitgenossen wieder, sei es aus Mexiko, Argentinien oder Peru, dass dieser Roman hierbei an ein verbreitetes Lebensgefühl gerührt haben muss. Bei einem schlechteren Roman wäre zu befürchten, dass er dann im Gewand der Parabel daherkommt. Nichts ist langweiliger als Parabeln, zumal wenn sie sich über hunderte von Seiten ziehen. Doch „100 Jahre Einsamkeit“ ist keine Parabel, ist kein gesellschaftlicher Schlüsselroman, sondern trotz der allumfassenden Allgemeinheit, die durch das Besondere ausdrückt wird, ein hoch individualisierter Text, bei dem man kaum an einer Stelle einmal sagen kann: „aha, das steht also genau für dieses eine politische Phänomen.“ Selbst die lange währende Verknüpfung von westlichen Kapitalinteressen mit rechten Diktaturen, die noch am ehesten einen direkten Ausdruck findet in der Episode von der Bananen-Gesellschaft, wird vor allem individualisiert als eine Geschichte von Jose Arcadio Segundo, dem niemand die Geschehnisse glauben mag. Alles ist im Text klar und individuell gestaltet, aber was die gesellschaftliche Seite angeht, so radikal offen, dass man es nur in grober Annäherung mit konkreten Ereignissen unserer Welt in Verbindung bringen kann.

Angesichts der Fülle ist dabei kaum zu glauben, dass dieser Roman gerade einmal 500 Seiten hat und damit nur ein Drittel so lang ist wie der längste „Harry Potter“ und gar nicht so viel länger als „Der Gefangene von Askaban“, ein Buch, das selbst Kinder an einem Tag durchlesen.

Verschiedene Schwächen

Auch Schwächen möchte ich nicht verschweigen, sowie noch das ein oder andere zu vermeintlichen Schwächen klarstellen.
Eine weitere Säule des Buches, die ich bisher ausgespart habe, ist eine Gruppe Fahrender, die den ganzen Roman hindurch mit einer Bezeichnung belegt wird, die heute nicht mehr verwendet wird. Allerdings ist die Rolle dieser Menschen kaum bis gar nicht mit den Klischees verknüpft, die normalerweise in herabwürdigender Weise mit Fahrenden verbunden werden. Diese Fahrenden stehen nicht für ein archaisches, vormodernes Leben, sie sind keine Bedrohung, klauen nicht und was es sonst noch an Vorurteilen gibt. Stattdessen bringen sie von Anfang an die Moderne nach Macondo, aber auch das nicht negativ, etwa in dem Sinne, als dass die Technik die armen, guten Bauern von ihrer Scholle reißen würde. Es ist die Einfalt Macondos, die aus guten Ideen und interessanten Konzepten gefährlichen Quatsch macht. Melchiades und seine Leute sind Botschafter sowohl der Wissenschaft als auch des Geschichtenerzählens, Menschen der großen Welt, mit der man irgendwann so oder so in Kontakt kommen muss und dadurch verändert wird. Aber es sind die Einwohner Macondos, die sich ihr Schicksal machen.

Von meiner früheren Lektüre hatte ich auch noch im Kopf, dass die Figur des ewigen Juden fragwürdig sein könnte, die zweimal im Roman vorkommt. Hier wird allerdings tatsächlich sehr deutlich, dass es sich bei der Figur, vor der einmal gewarnt wird und die dann einmal auftritt, um ein Schreckgespenst handelt, das der Pfarrer zeichnet. Bei dem zweiten, tatsächlich fantastischen Wesen, das auftritt, ist absolut unklar, was es ist, nur dass der Pfarrer seine antisemitische Projektion daran heftet wird klar.

Nicht gelungen ist der Handlungsstrang von Fernanda und ihren Korrespondenzen mit den unsichtbaren Ärzten. Das ist relativ plötzlich in der Handlung, kommt dann ein paar Mal vor, und irgendwann endet es auch wieder, während es dem generellen Themenfeld Tradition vs. Einflüsse von außen/Wissenschaft nicht wirklich etwas Pfiffiges hinzufügt. Das hätte es vielleicht sogar gekonnt, da Fernanda ursprünglich selbst eine Art neo-feudaler Einfluss von außen war, aber es wirkt im Vergleich zu den vielen anderen klug und detailreich entwickelten Handlungssträngen grob und aufgesetzt. Nun gilt für diesen Handlungsstrang durchaus, dass er nach dem von mir oben angemerkten Bruch beginnt, ab dem die Zeit schneller verläuft und ein wenig Hast angemessen ist. Aber das ist zu viel. Mit Abstrichen lässt sich diese Kritik durchaus auch noch auf ein paar weitere der späteren Handlungsstränge übertragen.

Die Protagonisten sind keine Helden

Sehr aufstoßen dürfte beim heutigen Lesen sicherlich die „Liebe“, die der erste Aureliano, der Oberst, relativ zu Beginn des Buches für die junge Remedios empfindet. Aureliano muss zwar warten, bis die Kleine heiraten darf. Und natürlich ist das „Warten auf die jüngste Tochter“ gewissermaßen ein Märchenmotiv, wie überhaupt „100 Jahre Einsamkeit“ noch von zahlreichen Märchen- und Folkloremotiven durchzogen wird, die ich längst nicht alle kenne, aber das Ganze liest sich trotzdem ziemlich cringy. Freilich sind fast alle Beziehungen in diesem Roman und durchaus mit Absicht cringe. Sie beginnen häufiger mit einer Brautwerbung, die manchmal die Grenze zur Gewalt überschreitet, aber auch sonst oft übergriffig ist, und ziemlich häufig ist das Begehren inzestuös. Es gibt mehrere Paare, die selbst angesichts der Tatsache, dass alle in Macondo irgendwie verwandt sein dürften, deutlich zu nah miteinander verwandt sind. Allerdings sollte man eben nicht den Fehler machen, den Roman als eine Feier einer guten und widerständigen, von außen bedrohten Community zu lesen, wie das glaube ich in der Vergangenheit öfter geschehen ist. Der Text ist darin relativ eindeutig: Macondo scheitert und scheitert aus guten Gründen. Die Menschen dort sind keine Helden, sie sind das Gegenteil von Helden, auch wenn alle Figuren ihre Würde haben. Und überhaupt haben alle gelungenen Figuren in Werken für Erwachsene ihre Würde, denn auch die Figuren, die wir nicht feiern sollen, müssen uns erstmal irgendwie emotional berühren. Und nichts von dem, was in diesem Roman geschieht, sollte als wirklich beispielhaft herangezogen werden. Im Gegenteil, „100 Jahre Einsamkeit“ ist eine zutiefst melancholische, vielleicht regelrecht pessimistische Komposition, eben die Geschichte eines Kontinents als Verhängniszusammenhang, gestaltet als kunterbuntes Kammerspiel. Aureliano, der Oberst, etwa, dürfte den meisten Lesern vor allem dafür bekannt sein:

“„Der Herr Oberst Aureliano Buendia zettelte zweiunddreißig bewaffnete Aufstände an und verlor sie allesamt. Er hatte von siebzehn verschiedenen Frauen siebzehn Söhne, die in einer einzigen Nacht ausgerottet wurden (…)”

Schon das klingt nicht großartig, aber isoliert vielleicht für manche noch irgendwie heroisch, und gerade linke Lesende dürften sich darin wiedererkennen, kämpft man doch oft auf verlorenem Posten. Aber der Text macht später noch deutlich klar, dass man diese Bürgerkriege nicht mehr romantisieren kann. Viel zu viele Menschen bringt Aureliano dazu, sich für nichts und wieder nichts hinschlachten zu lassen, und selbst als er feststellt, dass es zwischen Konservativen und Liberalen kaum noch einen Unterschied gibt, kämpft er weiter. Irgendwann ist er definitiv keine tragische Gestalt mehr, sondern nüchtern betrachtet ein Schlächter unter vielen. Ein anderes Mitglied der Familie richtet zwischendurch in Macondo gewissermaßen die erste Militärdiktatur ein. Amaranta und Rebeca sind in ihrem Kleinkrieg ziemliche Arschlöcher. Und viele andere Figuren im Roman, so sehr sie doch das Schicksal aneinander schweißt, handeln gegeneinander nicht viel besser. „100 Jahre Einsamkeit“ sagt nicht: Schaut her, Macondo ist ein tolles Dorf, wäre nur die imperialistische Außenwelt nicht. Es sagt: Seht her, so ist die Welt, so sind die Menschen. Und zwischen den Zeilen meint man durchaus häufiger das Seufzen zu hören: Ach, wären sie doch anders.

Dass Aureliano kein Held ist, macht der Text übrigens mehrfach sehr deutlich, nicht nur durch dessen fragwürdige Taten, sondern auch durch die Augen von Ursula, die wie oben gezeigt definitiv das Zentrum der Geschichte ist und das, was einer Hauptfigur am nächsten kommt. Sie hatte bereits in ihrer eigenen Ehe, die letztlich auch unter Verwandten geschlossen wurde, die Sorge, dass in der Familie irgendwann Kinder mit Schweineschwänzen und ähnlichem geboren werden, was schließlich auch geschieht. Zwischenzeitlich lässt sie aber auch durchblicken, dass sie viele der Bestrebungen des Sohnes und auch einiges von dem, was andere Nachkommen tun, für sozusagen geistige Schweineschwänze hält.

Wo sind die Natives? Koloniale Schuldverschiebung.

Eine Aussparung, über die im Falle von „100 Jahre Einsamkeit“ meiner Erfahrung nach kaum geredet wird, ist der gesamte Themenkomplex des Kolonialismus. Bzw. Aussparung trifft es noch nicht einmal wirklich. „100 Jahre Einsamkeit“ wurde immer wieder gelesen, und bekommt es auch ganz geschickt hin, sich für eine solche Lektüre anzubieten, als die Geschichte eines Dorfes, das vor allem unter neokolonialer Einflussnahme leidet. Die Kriege zwischen Konservativen und Liberalen, die technischen Revolutionen und nicht zuletzt natürlich der von Gewalt begleitete Manchester-Kapitalismus der Bananengesellschaft: das sind typische Themen, die die Linke, zu der sich der Autor ja zählt, ab den 70er Jahren unter dem Schlagwort Neokolonialismus zusammenfasste. Und auch wenn, wie oben bereits gezeigt, an vielen Stellen eine solche Interpretation zu kurz greift, macht der Roman sie doch relativ leicht. Warum? Weil der tatsächliche Kolonialismus ausgespart wird. Indigene Bewohner des Landes kommen nur an zwei, drei Stellen als Erwähnung oder dienende Figuren vor. Ansonsten wirkt Macondo, als eine Gemeinschaft, die durch eine lange Wanderung quasi isoliert entsteht und dann mit einer überwältigenden Außenwelt konfrontiert wird und schließlich zerstört wird, durchaus aufgebaut wie eine Art indigene Gemeinschaft zweiter Ordnung. Das ist tatsächlich gerade in der älteren lateinamerikanischen Literatur nicht selten, und man fühlt sich fast bemüßigt, den Hut zu ziehen: wie es der hispanisch-lateinamerikanischen Mythenbildung auch abseits tatsächlicher indigener Gemeinschaften und der Staaten, in denen eine nicht mehrheitlich hispanische Bevölkerung die Mehrheit stellt, gelungen ist, sich als Opfer eines Kolonialismus zu inszenieren, der natürlich insbesondere auf die Vereinigten Staaten projiziert wird, ist ein Meisterstück der Schuldabwehr. In Wahrheit entstanden natürlich die lateinamerikanischen Staaten ebenso wie die Vereinigten Staaten von Amerika als Kolonialstaaten, erlangten ihre Unabhängigkeit in mehreren großen, teils bürgerlichen, teils feudalen, Revolutionen, und waren dann nicht so erfolgreich wie der große Bruder im Geiste, den man seitdem verteufelt. Das soll nicht heißen, dass die USA u.a. mit der Unterstützung rechter Diktaturen und dem Stürzen linker Regierungen sowie dem „War on Drugs“ nicht tatsächlich in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten unglaubliche Schweinereien begangen hat, aber es sagt doch viel aus, dass für ihre antikoloniale Stoßrichtung, eigentlich natürlich anti-neokoloniale Stoßrichtung, zahlreiche lateinamerikanische Romane das andere große koloniale Projekt in den Amerikas weitgehend beschweigen müssen. Und das war keine Kleinigkeit, bis zu 50 Millionen indigene Menschen dürften dabei ihr Leben verloren haben.

Magischer Realismus?

„100 Jahre Einsamkeit“ wird gemeinhin nicht nur zum magischen Realismus gezählt, sondern gilt als einer der wichtigsten, wenn nicht der Gründungstext des Genres. Ich habe schon öfter den Versuch einer minimalen Definition von Magischem Realismus gemacht, um zu verhindern, dass erst alle Arten von fantastischer Literatur zusammengeschmissen werden und dann dem Ganzen das Label Fantasy aufgeklepbt wird, während Fantasy doch eine sehr spezifische Form von phantastischer Literatur ist und auch nicht alle fantastische Literatur, die nicht Fantasy ist, magischer Realismus ist. Magischer Realismus spielt in unserer Welt, und die magischen Geschehnisse fungieren für gewöhnlich zugleich als Metaphern, die den Text kommentieren. Hinzufügen sollte man auch: Magischer Realismus ist eine relativ neue Kunstrichtung, die dem bürgerlichen Realismus folgt. Fantastische Texte aus früherer Zeit sind nicht einfach Magischer Realismus, weil sie dem heutigen Magischen Realismus ähneln. Der Pakt zwischen Autor und Leserschaft beim Magischen Realismus ist: Wir glauben nicht an Zauberei, aber hier passieren schwer anders zu erklärende Dinge. Zumindest anfangs war ein Anspruch des magischen Realismus eine tiefe Verwurzelung in einer regionalen Mythenwelt. Häufig werden Texte dem Magischen Realismus zugeschlagen, einfach weil sie von lateinamerikanischen Autoren stammen. Aber weder das Gesamtwerk von Mario Vargas Llosa enthält magische Elemente, noch der Großteil des Werkes von Roberto Bolaño, und das gilt für viele weitere Autoren. Übrigens auch für die meisten Texte von Gabriel García Márquez. „100 Jahre Einsamkeit“ aber enthält zahlreiche magische Momente, Menschen, die sich mit Geistern unterhalten, WahrsagerInnen, die die Zukunft richtig vorhersagen, eine Frau, die bei lebendigem Leib in den Himmel auffährt. Allerdings sollte man genau hinschauen: Viele dieser Momente sind auf den zweiten Blick nicht mehr so eindeutig, und für den berühmten Aufstieg von Remedios der Schönen etwa gibt der Text selbst an, dass Teile von Macondo glauben, dass es sich um eine Schutzbehauptung der Familie handelt, um das Verschwinden der Tochter zu erklären. Das allerdings ist tatsächlich häufig ein übersehenes Merkmal von magischem Realismus: Magie ist kein Spiegel der verwalteten Welt, hat kein System, und bleibt damit oft uneindeutig, oft auch als Individual- oder Massenpsychologie ausdeutbar.
Und tatsächlich ist es in diesem Fall nicht die Magie, sondern die Sache mit dem Realismus, die die Sicherheit erschüttern könnte, dass es sich bei „100 Jahre Einsamkeit“ um Magischen Realismus handelt. Denn spielt „100 Jahre Einsamkeit“ in unserer Welt? Zumindest nicht so wie alle anderen Werke, die gemeinhin als Magischer Realismus betrachtet werden. Für gewöhnlich ist da unsere Welt, unsere Städte, unsere Geschichte, und darin wird eine Geschichte erzählt, in der sich Figuren verwandeln wie in „Die Satanischen Verse“ oder in der eine tatsächliche Revolution möglicherweise mit Magie vorangetrieben wird wie in „Das Reich von dieser Welt“. Im Fall von Macondo ist dagegen nicht nur Macondo eine fiktive Stadt, auch die lateinamerikanische Geographie rundherum, die Kriege, die geführt werden, überhaupt alles ist erfunden oder stark abgewandelt, mit Ausnahme ganz weniger Ereignisse und der Stadt Riohacha, die mehrfach erwähnt wird. In dieser Welt gibt es anscheinend weder die bekannten Staaten Lateinamerikas noch Simón Bolívar und seine Revolution, stattdessen fokussiert sich alles auf ein kleines Dorf, das weit ab vom Schuss liegt, so sehr, dass selbst der Bürgerkrieg immer wieder um dieses verdammte Dorf kämpft, statt vernünftigere, zielführende Kampagnen zu fahren. Obwohl es angesichts von magischem Geschehen in einer nicht mit der unseren zu vergleichenden Welt eigentlich nahelegen würde, möchte ich doch nicht behaupten, „100 Jahre Einsamkeit“ sei Fantasy. Selbst ein kurzer Blick dürfte zeigen, dass dieser Roman mit allem, was die Fantasy jemals hervorgebracht hat, so wenig gemeinsam hat wie Johann Sebastian Bach mit Jazz, auch wenn in beiden Musiken Improvisation und komplexe Polyphonien vorkommen. Aber: Auf dem Feld dessen, was gemeinhin als Magischer Realismus betrachtet wird, nimmt „100 Jahre Einsamkeit“ eine Sonderstellung ein, die erst auffällt, wenn man länger darüber nachdenkt.


Bild: wiki, gemeinfrei.

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