Eine bildlich-poetische Reise (nicht ohne Klischees). „Winter in Vorderasien“ von Annemarie Schwarzenbach.

„Winter in Vorderasien“ von Annemarie Schwarzenbach wurde mir ganz zufällig als kostenloses Kindle-Buch auf Amazon vorgeschlagen. Der Titel klang interessant, und zur Autorin habe ich kurz einmal auf Wikipedia nachgeschaut – eine mir unbekannte, aber nicht uninteressant klingende Schweizer Schriftstellerin. Bei dem etwa 100-seitigen Text handelt es sich „nur“ um einen Reisebericht, der mit einigen typischen, der Zeit entsprechenden orientalistischen Klischees angereichert ist. Aber diese Schönheit der Sprache, die Bildlichkeit, der rhythmische Fluss, der ohne Schwierigkeiten durch ein Werk fast ohne Handlung trägt – das findet man nicht oft:

“Gegen Abend waren wir wieder auf dem grossen, grasbewachsenen Platz der Suleymaniye. Der Himmel, an dieser Stelle wie ein Baldachin über dem gobelingestickten Gemälde vom Goldenen Horn, über langen Brücken, angehäuften Barken, dem Galataturm und der ansteigenden Stadt Pera, den grünen Gärten des Serails, den blauen, bewegten Flächen des Bosporus, den reichen Ufern und Inseln und den gelben Küstenzügen, die schon Anatolien, Steppe, Asien aus der Ferne beschwören . . . Ein Gebetsrufer sang von einem der weissen, leuchtenden Minarette. Seine Stimme hallte klagend, schwebte langsam von der Höhe herab, verklang, als er sich auf die andere Seite des Turmes wandte. Drüben, über Galata und Beyoglu, stieg ein leichter Nebel auf und verhüllte die Häusermassen. Auf unserer Seite war die Luft durchsichtig, leicht bewegt und kühl. Wir sahen auf die runden Bleikuppeln der alten Volksküchen des Kalifen hinunter, in die enge Strasse, wo die Schmiede in den Mauerarkaden ihre dürftigen Werkstätten eingerichtet hatten. Ihr Hämmern tönte dumpf, daneben Klappern von Eselhufen und Holzsandalen und langgezogene Abendrufe der Strassenhändler. Ein Mann ging langsam über den Platz, eine Katze auf dem Nacken. Als er sich an einem der Brunnen die Füsse wusch, miaute sie ängstlich, sprang herab und strich durch das niedere Gras davon.”

Landschaften, belebte Straßen sowie Marktszenen sind zentral für das Buch, ehe es sich später archäologischen Städten, dazugehörigen Ausgrabungen sowie Theorien widmet. Hier und da schlägt europäische Geschichte durch, etwa, wenn wir von einem spanischen Juden erfahren, der versucht, auf das Gebiet des heutigen Israels zu fliehen, was ihm aber nicht gestattet wird. Dass es sich wirklich nur um einen Reisebericht handelt, erkennt man an solchen Situationen. Die Erzählerin begegnet der Figur in der Türkei, die will versuchen, sich irgendwie durch den Iran zu schlagen, und obwohl spätere Kapitel vor allem an verschiedenen Örtlichkeiten im Iran spielen, begegnen wir der Figur nie wieder. In einem fiktional gemeinten und entsprechend konstruierten Text wäre das höchstwahrscheinlich anders gewesen.

„Winter in Vorderasien“ ist sicher keine zwingende Lektürempfehlung, so herausragend der Band oft sprachlich-bildlich auch gestaltet ist. Aber es ist doch ein Text, der nahelegt, dass man das literarische Werk von Schwarzenbach sich einmal genauer anschauen sollte. Wenn diese sprachliche Gestaltung mit erzählerischer Geschlossenheit zusammenfindet, könnten sich dort richtig starke Texte finden lassen. Das Werk von Schwarzenbach liegt, soweit ich es überblicken kann, gemeinfrei und online vor.

Bild: Wikiart.

2 Kommentare zu „Eine bildlich-poetische Reise (nicht ohne Klischees). „Winter in Vorderasien“ von Annemarie Schwarzenbach.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..