Nicht bahnbrechend neu, aber gut: „Oben in den Wäldern“ von Daniel Mason.

„Oben in den Wäldern“ von Daniel Mason ist zumindest mal wieder der Versuch auf einen großen Roman, der auch in 50 Jahren noch gelesen werden könnte und der nicht vergessen wird, wenn das Thema abgehakt ist. Nicht alles, was der Roman versucht, geht komplett auf, aber hier versammeln sich doch einige Stärken. Ich habe an der ein oder anderen Stelle schon die Kritik gelesen, es sei ja nun wirklich nicht mehr neu, einen Ort in den Mittelpunkt einer Erzählung zu stellen, aber ganz ehrlich: Wenig in der Literatur ist noch neu. Ich glaube, allein die Dreistigkeit, 1000 leere Seiten zu verkaufen, hat man sich noch nicht geleistet. Solche Stunts funktionieren in der bildenden Kunst und in der Musik, aber nicht in der Literatur, die zumindest immer ein gewisses Maß an breitem Interesse im Auge behalten muss. Entscheidend aber ist nicht, wie neu eine Idee ist, sondern wie gut sie im Text ausgeführt wird. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob man das in den Mittelpunkt stellen einer Örtlichkeit, in diesem Fall eines Hauses über mehrere hundert Jahre, eine Idee nennen sollte. Literatur spielt an Orten, manchmal an vielen, gar nicht so selten an wenigen bis einem. Eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung wurde zwar in schlechter Anlehnung an Aristoteles nur für das Theater zum Dogma, ich habe aber schon andere Autoren darauf hingewiesen, dass es zumindest keine schlechte Handreichung ist, näherungsweise eine eben solche auch für die Prosa zu versuchen, und besonders: wenn man in einem Bereich, hier der Zeit, weit ausholt, dürfte es klug sein, dafür den Ort deutlich zu beschränken. Wobei das Haus oben in den Wäldern von Massachusetts in diesem Fall nicht mal ausschließlicher Spielort, sondern bloß erzählerisches Zentrum über mehrere hundert Jahre ist.

Der Roman beginnt erzählerisch unglaublich stark, mit einer bildlich schwärmerischen Passage über Mann und Frau, die in die Wälder fliehen, höchstwahrscheinlich in der relativ frühen Zeit europäischer Einwanderung nach Amerika. Diese Bildlichkeit ist eine Stärke des Romans, auch wenn er sie später im Vergleich deutlich zurückfährt:

“Sie liefen. Sie heirateten auf einer Lichtung, schworen einander in einer hohlen Eiche die Treue. An den Bäumen wuchsen Pilze, groß wie Pferdesättel. Graue Vögel, rote Schlangen und orangefarbene Lurche waren ihre Trauzeugen. Die Heidelbeeren streuten Blütenblätter. Der Geruch von Heu stieg vom Farn auf, den sie zertraten. Und dazu der Klang, das Surren, das Tosen der Welt. Sie liefen.”

Es folgt der Brief einer anderen Frau, die auf die Hütte im Wald gestoßen ist, wo die Geflohene noch lebt, und davon, wie sie mehrere Soldaten ermordet, die die Geflohene finden könnten. Die längste kontinuierliche Handlung ist die eines Apfelbauern und seiner Töchter vor, während und nach dem Unabhängigkeitskrieg, wobei der Apfelbauer, ehe er sich in das Haus zurückzieht, beinahe für verrückt erklärt wird wegen seiner Faszination für den Apfelanbau. Die Töchter führen später die Plantage weiter, wobei eine im hohen Alter die andere im Streit erschlägt und sich dann gemeinsam mit der Schwester im Haus begräbt. Noch zahlreiche kürzere und längere Episoden bis in unsere Zeit schließen sich an. Dazwischen eingeschaltet sind ein paar Gedichte, die wohl die Töchter des Apfelbauern geschrieben haben, die uns als Dichterinnen vorgestellt werden. In ebenfalls gelungener Weise werden frühere Episoden mal stärker, mal zurückhaltender in spätere eingeführt. Die Briefe eines Malers an einen Schriftsteller, die wohl eine Liebesaffäre verband und die sich in dem Haus mindestens einmal getroffen haben, sind etwa später Forschungsgegenstand einer Dozentin an der Universität, der frühere Brief über den Soldatenmord wird aufgefunden und seine Authentizität debattiert. Eine Spiritistin, die bisher ihre Geisterentdeckungen nur vorgespielt hat, wird anscheinend im Haus mit echten Geistern konfrontiert, das sorgt später noch einmal für Gänsehautmomente, als ein älterer Mann, der große Teile seines Lebens im Haus verbracht hat, als schizophren behandelt wurde und längere Zeit im Gefängnis war, Filme hinterlässt, auf denen er seine zahlreichen Visionen versucht hat aufzuzeichnen. Leider ist auf den Filmen nichts zu hören, aber wir als Lesende wissen, dass die Titel verraten, dass er tatsächlich Menschen gehört und gesehen haben muss, die in dem Haus gelebt haben und von denen er kaum etwas wissen kann. In gewisser Weise ist „Oben in den Wäldern“ immer wieder eine Schauergeschichte, wobei sich die Idee von Geistererscheinungen mit dem Geist einer Zeit vermischt.

Das klingt doch jetzt alles sehr stark. Was also sind die oben angedeuteten Schwächen des Romans? Vor allem: Der Text verschiebt sich ein wenig sehr ins Dokumentarische, die atmosphärische Stärke wird mit der Zeit immer weiter zurückgefahren. Das mag eine bewusste Entscheidung sein im Sinne der vielleicht etwas zu oft bemühten Entzauberung der Welt, aber ich denke, es ergibt nicht einmal literaturhistorisch wirklich Sinn, denn die atmosphärisch dichtesten, sprachlich verspieltesten Texte bringt die Literatur doch grob gesprochen mit dem Beginn der Romantik bis zum oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hervor. Vor allem aber führt das dazu, dass man mit weniger Interesse liest, einen True-Crime-Artikel oder eine Uni-Vorlesung, die vor allem Fakten vermitteln, überfliegt man nun mal eher als eine mit atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen durchsetzte Flucht oder die liebevollen schwärmerischen Briefe eines Malers an seinen dichtenden Geliebten. Überhaupt sind einige der Geschichten, stets eine Gefahr, wenn man so viele in einen Text packt, deutlich weniger interessant als andere. Der Doku-Charakter wird noch verstärkt durch einige Fotos sowie die immer eingestreuten Gedichte, die einfach nicht besonders gut sind. Mag sein, dass sie ungefähr das sind, was man erwarten kann, wenn zwei literarisch nicht allzu sehr gebildete auf dem Land lebende Frauen im 18. Jahrhundert dichten, aber warum stehen diese Gedichte dann auch noch zwischen den Passagen aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert? Und ja: Dieser Sprung in die Zukunft im Epilog und die eher belehrenden Passagen sind auch relativ steif und generisch im Vergleich zu den vorherigen lebendigen Zeitabschnitten.

Das ist nun aber alles keine Katastrophe, und im Großen und Ganzen ist „Oben in den Wäldern“ nicht nur mit seiner Konzentration auf sprachliche Schönheit bemerkenswert, sondern schafft es auch, eine Vielzahl von Geschichten aus mehreren hundert Jahren zu einem Text zusammenzuschnüren, der tatsächlich integriert wirkt. Die Form ist kein Alibi, um mehrere kleine Texte zu vereinen, sondern das Ganze ist ein großer Text, ein Roman im besten Sinne des Wortes, mit einem Haus im Mittelpunkt. „Oben in den Wäldern“ ist eine der besseren Neuerscheinungen, die ich über die vergangenen Jahre gelesen habe. Ja, der Text erfindet nichts neu, und ist damit am Ende doch deutlich einzigartiger als viele neuere Texte, die ein außergewöhnliches Gimmick unterbringen wollen, schreiend: Seht her, wie einzigartig ich bin, und die am Ende nur in der Soße all jener untergehen, die eben nicht viel mehr zu bieten haben als ein Gimmick.

Bild: wiki, gemeinfrei.

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