Die Ablehnung von Lyrik in der Schule und wie man sie vielleicht überwindet.

Ich hatte ja bereits in einem anderen Beitrag hier von meiner letzten Schullesung berichtet – eine weitere Problematik, die mir die Schülerinnen und Schüler da mitgeteilt hatten, betrifft ihren schwierigen Zugang zu Lyrik. Während viele meiner Erzählungen sie direkt gefesselt haben und der Kurs auch laut Lehrer sehr motiviert mit dem Buch beschäftigt war (was sich dann ja auch in den Fragen zeigte), gab es nur wenige, die mit dem parallelen Lyrikband etwas anfangen konnten. Wobei dann auch eigentlich von allen klargestellt wurde, dass sie überhaupt keine Lyrik lesen möchten, weil das für sie krass mit Schule und Leistungsdruck verknüpft ist. Man müsse Lyrik immer entschlüsseln und irgendwie die geheimen Bedeutungen herausarbeiten, und der Kurzschluss im Kopf heißt: Lyrik ist gleich Arbeit. Das erinnert mich an einen guten Freund, der sich nach der Schule auch geweigert hat, Lyrik zu lesen und wenn, dann hat er sie beackert wie ein Kreuzworträtsel – keine Möglichkeit, den Text überhaupt einmal zu erfahren, ihn wirken zu lassen, ehe er zerstückelt wird.

Nun muss ich dazu sagen, dass das Lyrikproblem in Bezug auf meine Lesung keinesfalls am Lehrer liegen kann. Wir kennen uns seit vielen Jahren, haben früher regelmäßig Texte ausgetauscht und uns abends beim Wein kritisiert. Wenn einer Literatur als ästhetische Erfahrung vermitteln kann, dann dieser Lehrer. Aber ich fürchte, dem Problem, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule Literatur vor allem lesen, um daran bestimmte Techniken des Argumentierens zu lernen, entgeht man einfach nicht, und vielleicht ist das in der Lyrik auffälliger, weil sie manchmal doch ein bisschen aufmerksameres Lesen verlangt, kürzer ist und deshalb detaillierter analysiert werden kann (während weniger Raum zum Labern bleibt). Und zuletzt vielleicht auch, weil in den Schulen Lyrik vor allem aus älteren Epochen gelesen wird und dabei einige Texte, die tatsächlich weit von der Lebenswelt junger Menschen entfernt sind und nach Schema-F-Interpretationen (was sind Epochenmerkmale, wie stecken sie im Text) geradezu schreien. Gryphius oder den jungen Goethe anders anzugehen, das wäre, fürchte ich, im Rahmen des Lehrplans und angesichts des mittlerweile mit 1000 Verwaltungsdingen überfrachteten Alltags von Lehrerinnen und Lehrern kaum denkbar.

Und da ich weder an Lehrplan noch Schulalltag etwas ändern kann, möchte ich nicht behaupten, Lösungen für das Problem zu haben, aber besagter Lehrer teilte mir immerhin nach der Lesung mit:

“[Die Schülerinnen und Schüler] haben sehr positive Rückmeldungen gegeben. Besonders erfreulich war, dass viele jetzt meinten, nochmal ganz neu über Lyrik nachdenken zu müssen.”

Also hatte irgendetwas von meiner Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern vielleicht einen Effekt. Dabei habe ich nur zwei Prosatexte und ein einzelnes Gedicht vorgelesen, vor allem haben wir viel diskutiert.

Folgendes habe ich versucht:

1) Klang:

Zuallererst für das Hören von Lyrik zu werben. Sich also nicht vor den Text zu setzen wie vor ein Rätsel, das es zu lösen gilt, sondern vor eine Komposition in Bildern und Tönen, die es zuerst zu erleben gilt. Das heißt natürlich nicht, dass man da nicht auch analytisch tiefer einsteigen kann, aber gerade wenn die Analyse so negativ besetzt ist, sollte man vielleicht zuerst einmal mit dem Erfahren von Klängen beginnen. Und tatsächlich hilft das später sogar bei der Analyse. Elliots „The Wasteland“ etwa hat mich von der ersten Lektüre an fasziniert, aber doch vor allem, denke ich, als ultrakomplexer Text mit Quellenapparat, als Bob Dylan hoch Zehn und vielleicht noch gar nicht so sehr als Kunstwerk, das für sich selbst steht. Erst als ich Aufnahmen auf Youtube fand und dem Autor selbst zuhören konnte, erschloss sich für mich die eigentliche Komposition des Textes. Diese Meisterschaft des Plaudertones, der doch mit all seinen inneren Anklängen und seltenen Endreimen, die eben nicht, wie man es der Moderne nachsagt, überhaupt nicht vorhanden sind, streng gebaut ist, komponiert eher wie ein musikalisches Werk der Klassik, als wie noch lyrische Gedichte des 19. Jahrhunderts. Ganz ähnlich ging es mir mit der Lyrik von Rilke, die ich nach der ersten Lektüre als „ganz nett“ beiseitelegte. Man deckt das gesamte Klanggefüge eines Textes eben beim Lesen oft nicht einfach auf, sondern hat den Text abgehakt, ehe es einem aufgehen kann. Rilkes Duineser Elegien sind so viel reicher, als die einfach nur ungereimten esoterischen Textwüsten, die man darin sieht, wenn man erst einmal beginnt, sich die Texte laut vorzulesen. Und wenn man dann von hier den Schritt zurückgeht zu Goethes römischen Elegien, stellt man fest, dass selbst dort das Netz der versteckten Anklänge schon vorhanden ist, das uns die Schule selten Auffinden lehrt.

2) Lebens-Erfahrung

Außerdem habe ich versucht, Lyrik als Erfahrung von der Erfahrung des mit Notendruck in Verbindung stehenden Rätselspiels in der Schule zu entrücken. Ja, auch wir haben natürlich in der Schule Lyrik gelesen und analysiert (und ehrlich gesagt haben wir in den Arbeiten gern Gedichtanalysen gewählt, weil man mit so wenig Text doch viel leichter arbeiten konnte als mit Prosa. Das scheint sich heute umgekehrt zu haben). Aber an sich fand ich von interessanten Songwritern zur Lyrik, Bob Dylan, Joni Mitchell, Leonard Cohen, Tori Amos usw.. Und weil ich selbst kein Instrument spiele, war es naheliegend, ausschließlich in Text zu arbeiten, und dann verband sich das mit Menschen und Erfahrungen, die ich in schlimmeren Momenten (Bundeswehr, dann Zivildienst) und in schöneren Momenten, etwa die ersten ein, zwei Semester auf der Uni, wenn man tatsächlich so etwas wie eine neue Welt entdeckt oder beim Trampen, machte, etwa als ich das erste Mal in Barcelona auf den Ramblas ein paar Verse kritzelte, und für die Leute rundherum die Frage ganz normal war: Bist du Dichter? Auch mit Freunden, die sich für die gleichen Autoren begeistern, mit vergangenen Liebschaften usw. verbindet die Lyrik sich. Auch wenn, zugegeben, heute auch aus meinem Bekanntenkreis viel zu wenige Menschen überhaupt lesen, zumindest wenn es um etwas anderes geht als Zeit totschlagen.

3) Welche Autoren?

Zuletzt würde ich noch einmal genau darüber nachdenken, anhand welcher Autorinnen und Autoren man Schülerinnen und Schüler Lyrik näher bringt. Gewiss, historisch wird man einige Figuren einfach brauchen, um Epochenmerkmale zu studieren. Aber wenn es um moderne Lyrik geht, gibt es (übrigens auch in der Prosa) Autoren, die vielleicht besser gehen als andere. Mein Eindruck ist: Junge Lesende muss man thematisch packen, selbst wenn man vielleicht letztendlich vermitteln möchte, dass Literatur gerade mehr ist als nur Themen, die einem Herzen liegen, in die Welt zu schreien. Für uns war es, wie gesagt, Gottfried Benn, der uns noch am ehesten dann auch über die Schule hinaus interessiert hat. Nun war der bekanntlich ein schrecklicher Mensch, aber vielleicht wäre es ja sogar mal besonders interessant, dessen Nazisympathien im Unterricht nicht verschämt beiseite zu stellen, sondern darüber nachzudenken, wie der Weg von dieser Schülern wahrscheinlich eher wie anspruchsvoller Punk erscheinender Lyrik (die dann ja auch später als „entartete Kunst“ klassifiziert wurde) zu einer nationalsozialistischen Ideologie aussehen könnte. Dieser Weg war nämlich nicht zufällig.
Texte, die auch immer relativ gut verfangen, sind Beat-Texte, mit dem ganzen Abenteuerkram drumherum. Das hier ist übrigens gerade kein Aufruf, die Schülerinnen und Schüler einfach da abzuholen, „wo sie stehen“, wie man so sagt (was übrigens oftmals recht herablassend ist in der Einschätzung, wo junge Menschen stehen könnten). Also nicht statt Lyrik einfach Songtexte, Slampoesie und Hip Hop zu „machen“. Das kann man natürlich auch machen, aber es gibt durchaus, gerade wenn man Lyrik internationaler versteht, auch innerhalb eines erweiterten sogenannten „Kanons“ zahlreiche Werke, die, glaube ich, für Lyrik begeistern könnten.
Dafür müsste muss man eben einmal auf die Suche gehen, Texte finden, die im Unterricht noch nicht so oft durchgenudelt wurden, sich vielleicht mal stärker in der internationalen Literatur umschauen, auf Regionen schauen, in denen Lyrik im Alltag noch relevant ist und fragen, warum; mehr davon vermitteln, warum dieser oder jener Text eben nicht einfach Schulstoff ist, sondern in unzähligen Situationen ein schönes, ein treffendes Gedicht, ja, Menschen das Wichtigste überhaupt war/ist. Und ich weiß, dafür ist wenig Zeit, zumal, wenn es nicht wirklich in den Unterricht passt, also quasi noch zusätzliche Arbeit macht. Lehrerinnen und Lehrer arbeiten defacto weit mehr als die veranschlagten 40 Stunden pro Woche, und oft kann man gar nicht anders, als Werke zu besprechen, für die zumindest schon Unterrichtsmaterial existiert. Aber hier können vielleicht solche Autorinnen-Lesungen oder Gespräche helfen. Und ja, die Starautoren, die jeder kennt, sind scheißteuer, aber es gibt eben nicht nur die, und ich denke, es kann sich gerade lohnen, sich da einfach mal im eigenen Umfeld umzuschauen, in der eigenen Stadt. So viele Menschen schreiben faszinierende Literatur und sind damit nicht in den alles gleichmachenden Mühlen des großen Literaturbetriebs gelandet.

4) Ablehnung ist mächtig

Zuletzt darf man sich nicht entmutigen lassen. Die rein affektive Ablehnung von Lyrik ist mächtig. Ich habe das schon mehrfach bei Lesungen erlebt. Man lädt Bekannte ein, und die sagen erstmal: “Ach? Lyrik? Nee, das ist gar nicht so meins.“ Von Wein, Ambiente und Musik gelockt, kommen sie dann trotzdem und sind danach ganz begeistert. Aber lädt man ein, zwei Jahre später die GLEICHEN LEUTE erneut zu einer Lesung ein, ist da wieder dieser Satz: “Ach? Lyrik? Nee, das ist gar nicht so meins.“ Man hat das halt so gelernt. Wie man zB auch gerlernt hat, dass es ok ist „kein Mathe zu können“. Aber zumindest in jungen Lehrjahren lässt sich noch umlernen bzw. von Anfang an anders lernen.

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