Warum Verfilmung einer Serie vorzuziehen wäre. Die große „Neuromancer“-Besprechung.

Vor mittlerweile sechs Jahren habe ich hier schon einmal eine Kurzbesprechung zu William Gibsons „Neuromancer“ veröffentlicht. Die stammt noch aus der Zeit, als der Blog vor allem auf prägnante Kurzbesprechungen ausgerichtet war. Das nun Apple Plus eine Serie zum Buch ankündigt, habe ich zum Anlass genommen, den Roman, den ich bisher zwei oder drei Mal gelesen und ebenso oft gehört habe, noch einmal zu lesen und für eine Besprechung ein wenig mehr in die Breite zu gehen. Dabei möchte ich auch begründen, warum ich nicht sehr gespannt auf die Serie blicke und das Auswalzen eines Buches in eine Serie fast immer für eine schlechte Idee halte. In einer der Ankündigungen hieß es auch, „Neuromancer“ sei praktisch unverfilmbar, das habe die Vergangenheit gezeigt. Das ist Bullshit. Die Vergangenheit hat nur gezeigt, dass „Neuromancer“ noch nicht verfilmt wurde. Der Roman ist prinzipiell super einfach zu verfilmen, er ist strukturell und sprachlich schon ein halbes Drehbuch. Doch gerade eine gute Verfilmung dürfte auf ein recht eingeschränktes Publikum abzielen, mit einer Serie kann man hoffen durch Masse zu überwältigen und die Serienjunkies einzufangen.

Ich sagte es in meiner damaligen Besprechung schon: Der Roman lebt in erster Linie von Sprache und Komposition. Das gilt noch stärker, als es mir damals bewusst war. Die Story hat ihre Schwächen, ist letztlich nicht mehr als eine längere Schnitzeljagd, und das Thema, eine KI erwacht, war auch selbst 1984 wohl nicht mehr ganz neu, und der Text hat auch nicht wirklich etwas undenkbar Relevantes dazu beizutragen, was eigentlich Bewusstsein ausmache.

Seltener Roman mit zeitgemäßen Metaphern/Bildern

Die Sprache ist das Augenfälligste. Der berühmte erste Satz ist einer der ganz wenigen in der modernen Literatur, der mit damals moderner Metaphorik aufwartet:

„The sky above the port was the color of television, tuned to a dead channel”

Das ist außergewöhnlicher, als man denken mag. Prinzipiell ist, teils aus guten Gründen, die Metaphorik auch der modernen Literatur in der Vormoderne stecken geblieben, man findet Naturvergleiche und ähnliches, aber selten direkt aus dem modernen Leben gezogene Bilder, die auf ein anderes Ding oder Ereignis des modernen Lebens übertragen werden. Nun könnte man sagen, das Bild sei schlecht gealtert: Fernseher und tote Kanäle, das gibt es doch gar nicht mehr. Aber es passt in Gibsons Welt, in der ältere und neuere Techniken in ähnlicher Weise nebeneinander existieren, wie die krassen Unterschiede von Arm und Reich. Metaphern, Bilder, sollten im Idealfall innerweltlich plausibel sein. Ein Roman muss nicht die realweltliche Zukunft voraussagen.

Aber der Roman findet nicht nur einen starken Einstieg, sondern hält das sprachliche Niveau, insbesondere über seine ersten beiden Teile. Die Atmosphäre in Chiba City ist unglaublich dicht, die Beschreibung nicht nur bildlich prägnant, sondern immer getragen von einem Rhythmus, der uns die überlaufene, neon-gesättigte Gehetztheit dieser Stadt körperlich mitteilt.

“Under bright ghosts burning through a blue haze of cigarette smoke, holograms of Wizard’s Castle, Tank War Europa, the New York skyline…. And now he remembered her that way, her face bathed in restless laser light, features reduced to a code: her cheekbones flaring scarlet as Wizard’s Castle burned, forehead drenched with azure when Munich fell to the Tank War, mouth touched with hot gold as a gliding cursor struck sparks from the wall of a skyscraper canyon. He was riding high that night, with a brick of Wage’s ketamine on its way to Yokohama and the money already in his pocket. He’d come in out of the warm rain that sizzled across the Ninsei pavement and somehow she’d been singled out for him, one face out of the dozens who stood at the consoles, lost in the game she played. The expression on her face, then, had been the one he’d seen, hours later, on her sleeping face in a port side coffin, her upper lip like the line children draw to represent a bird in flight.
Crossing the arcade to stand beside her, high on the deal he’d made, he saw her glance up. Gray eyes rimmed with smudged black paintstick. Eyes of some animal pinned in the headlights of an oncoming vehicle. Their night together stretching into a morning, into tickets at the hover port and his first trip across the Bay. The rain kept up, falling along Harajuku, beading on her plastic jacket, the children of Tokyo trooping past the famous boutiques in white loafers and cling wrap capes, until she’d stood with him in the midnight clatter of a pachinko parlor and held his hand like a child.”

Dabei gelingt es Gibson auch, seine drei Hauptsettings zu Beginn, Chiba, den Sprawl und Istanbul, sprachlich, bildlich, voneinander abzusetzen. Sehr schön etwa in diesem seltenen leicht humoristischen Moment in Istanbul, der erst wirkt, als würde hier postkoloniale Ungleichzeitigkeit fortgeschrieben, während es sich dann aber bloß um ein einbalsamiertes Pferd handelt und das Thema kippt in Richtung arabischer Klonversuche dieser ausgestorbenen Tiere:

““Hey, Christ,“ the Finn said, taking Case’s arm, „looka that.“ He pointed. „It’s a horse, man. You ever see a horse?“ Case glanced at the embalmed animal and shook his head. It was displayed on a sort of pedestal, near the entrance to a place that sold birds and monkeys. The thing’s legs had been worn black and hairless by decades of passing hands. „Saw one in Maryland once,“ the Finn said, „and that was a good three years after the pandemic. There’s Arabs still trying to code ‚em up from the DNA, but they always croak.“ The animal’s brown glass eyes seemed to follow them as they passed. Terzibashjian led them into a cafe near the core of the market, a low-ceilinged room that looked as though it had been in continuous operation for centuries. Skinny boys in soiled white coats dodged between the crowded tables, balancing steel trays with bottles of Turk-Tuborg and tiny glasses of tea.”

Sprachlich lebt der Roman von seinen oft kurzen Sätzen, dem gut getakteten Wechsel zwischen Beschreibungen und Dialogen, und nicht zuletzt von einem Techjargon, der teilweise neu erfundene Worte einsetzt, als müssten wir sie längst kennen, der Verben aus Nomen neu schöpft (“to generation gap”, “to tube”), und der damit etwa im zweiten Fall sogar noch eine relativ mondäne Aktivität wie das U-Bahn fahren neu und cool klingen lässt. Auch abseitige Worte wie “gestalt” (die englische Entlehnung aus dem dt. Psychologie-Fachjargon) finden ihren Weg in diese Jargons, und verleihen dem Ganzen ein Tiefe suggerierendes Schillern.

Struktur

Zur Struktur habe ich mich schon einmal in der alten Besprechung deutlicher geäußert:

“Das Prinzip wird auf der Ebene der Komposition wieder aufgegriffen. Auch hier werden kurze Kapitel, durch die man nur so durch fliegt, in mehreren längeren Hauptkomplexen geordnet, wobei zwischen den Abschnitten gern freie halbe und ganze Seiten gelassen werden. Selbst das trägt noch zum Eindruck von Temporeichtum bei. Geschickt werden dabei einzelne Stränge fallen gelassen und wieder aufgegriffen, die Gliederung von Neuromancer (samt „Coda“) lässt vermuten, dass Gibson sich der Anleihen bei der klassischen Musik bewusst ist.”

Hinzuzufügen wäre, dass tatsächlich analog zur Sonatensatzform der atmosphärisch besonders dichte erste und zweite Teil gewissermaßen die Themen entfalten, während der lange dritte und vierte Teil zur Durchführung schreiten. So dürfte man einer zumindest rudimentären Orientierung am Musikalischen wohl durchaus eine gewisse Bewusstheit unterstellen. Auch der Schluss des letzten Hauptteils legt das nahe:

“now
and his voice the cry of a birdunknown,
3Jane answering in song, three
notes, high and pure.
A true name.

Neon forest, rain sizzling across hot pavement. The smell of frying food. A girl’s bands locked across the small of his back, in the sweating darkness of a portside coffin. But all of this receding, as the cityscape recedes: city as Chiba, as the ranked data of Tessier-Ashpool S.A., as the roads and crossroads scribed on the face of a microchip, the sweatstained pattern on a folded, knotted scarf…. Waking to a voice that was music, the platinum terminal piping melodically, endlessly, speaking of numbered Swiss accounts, of payment to be made to Zion via a Bahamian orbital bank, of passports and passages, and of deep and basic changes to be effected in the memory of Turing. Turing. He remembered stenciled flesh beneath a projected sky, spun beyond an iron railing. He remembered Desiderata Street. And the voice sang on, piping him back into the dark, but it was his own darkness, pulse and blood, the one where he’d always slept, behind his eyes and no other’s. And he woke again, thinking he dreamed, to a wide white smile framed with gold incisors, Aerol strapping him into a g-web in Babylon Rocker. And then the long pulse of Zion dub.”

Worldbuilding

“Neuromancer” ist außerdem nicht zuletzt eine Masterclass im Worldbuilding. Zu dieser Welt wird nichts ausschweifend erklärt, wir durchleben sie von Anfang an mit unseren Figuren. Wir werden bombardiert mit Begriffen, die unsere Hauptfigur so gut zu kennen scheint wie wir “Fußball”, “Börse”, “Waffeln” und “Mafia”. Und es fehlt uns dadurch absolut nichts, dass wir erstmal mit unbekannten Begriffen arbeiten müssen, wie wir das auch in einem Roman aus einem uns wenig bekannten Land müssten. Natürlich ist das nicht undurchdacht, und es ist nicht so, dass Gibson uns gar keine Informationen gibt. Ein guter Geschichtenerzähler beherrscht es, hier und da die wichtigsten Informationshäppchen zu streuen, ohne dass es überhaupt wirkt wie ein Infodump. Die Zaibatsu, anscheinend eine der wichtigsten Machtfraktionen dieser Welt, begleiten uns durch den ganzen Roman, ehe wir auf Seite 197 erfahren, dass es sich um multinationale Konzerne handelt (wer Japanisch spricht, kann es sich vorher denken). Diese Art von Worldbuilding wirkt so unglaublich organisch, weil sie sich anschmiegt an die Art und Weise, wie wir selbst gewohnt sind, Welt zu erfahren: indem wir hier und da Neues lernen und uns in dem Moment vielleicht noch gar nicht bewusst sind, dass wir gerade etwas gelernt haben, indem wir uns manchmal Konzepte vielleicht rudimentär wieder vergegenwärtigen und selten auch mal für uns selbst oder für jemand anderen etwas ein wenig länger ausformulieren. Die ellenlangen Hintergrundtexte dagegen, mit denen uns viele Sci/-Fantasy-Romane zuschütten, stehen einer tiefen Immersion in den Text in den meisten Fällen eher zuwider, da sie meist wie etwas wirken, das von außen an die Welt herangetragen wird: „Seht her“, sagt die plötzlich gar nicht mehr so unsichtbare Hand, der auch noch ein Mund gewachsen ist, „ich mache Worldbuilding.“

Das Internet vorhergesagt?

“Neuromancer” wird gern nachgesagt, der Roman habe quasi das Internet vorhergesagt. Das ist natürlich grober Unfug. Einerseits gab es da nicht viel vorherzusagen: Die ersten Usenet-Verbindungen wurden ja schon in den frühen 80ern gelegt, und Weltnetze in der Fiktion sind noch älter. Vor allem aber ist der Cyberspace in Neuromancer so anders als das WorldWideWeb, das wir heute kennen, dass man da kaum von Vorhersagen reden kann. Tatsächlich scheint es mir, soweit wir optisches über den Cyberspace erfahren, recht deutlich orientiert an dem, was an grafischen Oberflächen in Arcade-Spielen der frühen/mittleren 80er möglich war, also Grid-Layouts und Flat-Shaded Polygons, während durch Simstims induzierte Halluzinationen einfach fotorealistisch wirken. Dieses Netz folgt in erster Linie der Rule of Cool: Es ist eine Kombination aus Arcade-Flicker, Film und halluzinogenem Drogenrausch. Und es wird entsprechend dann in seiner einzigen größeren Hintergrundbeschreibung folgendermaßen stark verbildlicht:

““The matrix has its roots in primitive arcade games,“ said the voice-over, „in early graphics programs and military experimentation with cranial jacks.“ On the Sony, a two-dimensional space war faded behind a forest of mathematically generated ferns, demonstrating the spacial possibilities of logarithmic spirals- cold blue military footage burned through, lab animals wired into test systems, helmets feeding into fire con. trot circuits of tanks and war planes. „Cyberspace. A consensual hallucination experienced daily by billions of legitimate operators, in every nation, by children being taught mathematical concepts . . . A graphic representation of data abstracted from the banks of every computer in the human system. Unthinkable complexity. Lines of light ranged in the non space of the mind, clusters and constellations of data. Like city lights, receding….“

Genau in diese Vorstellung hakt auch der so vieldeutige Titel des Romans ein, den ich bisher aufgespart habe, mit seinen Anklängen einerseits an Neue Romantik, an Neuronen bzw. Neuronen-Romantik oder Romanze, sowie an Nekromantik. Wobei man auch die Bedeutung von Romanze im Sinne einer mittelalterlichen Verserzählung im Hinterkopf haben sollte, denn der Hauptplot mit seiner starken Linearität, seiner Reihe von Abenteuern, die vor allem von verrückten Wendungen teils mit quasi göttlicher Intervention vorangetrieben wird, klingt doch an eine solche an.

Plot

Der Plot ist, wie gesagt, eigentlich nichts Besonderes. Nicht schlecht als Spannungsplot, aber auch nicht weltbewegend. Ein abgehalfterter Hacker wird, wie sonst der abgehalfterte Westernheld, zu einem weiteren Job halb gewonnen, halb gezwungen. Gemeinsam mit ein paar anderen Leuten macht er einen Plan und findet seine Truppe zusammen, dann geht es über verschiedene Stationen zum großen Finale. Und im Hintergrund stehen eine, bzw. 2 KIs, die ihren Suizid plant – oder sich befreien will… Einige dieser Stationen sind die größten Schwächen des Romans. Zion mit seinen Weltraum-Rastafari, die alle in stilisiertem Rastafari-Dialekt sprechen, wirkt eher unfreiwillig komisch. Riviera als großer Gegenspieler wird etwas spät eingeführt und bleibt schrecklich konturlos, auch wenn das Finale mit seiner Mischung aus Science Fiction- und Gothic Horror-Atmosphäre wieder zur Form findet. Das übrigens kein aufgesetzter Stilmix. Hier kommen die Themen des Romans – Unsterblichkeit, Lebensmüdigkeit, Transzendenz, Klonen und die oben zitierte Beschreibung des Cyberspace – gelungen zusammen. Die Grundlage gelegt wird in einem Essay-Fetzen des Klonkindes 3Jane:

““The Villa Straylight,“ said a jeweled thing on the pedestal, in a voice like music, „is a body grown in upon itself, a Gothic folly. Each space in Straylight is in some way secret, this endless series of chambers linked by passages, by stairwells vaulted like intestines, where the eye is trapped in narrow curves, carried past ornate screens, empty alcoves….“”

Figuren

Leider bleibt von den Figuren nicht viel. Riviera ist das größte Problem, aber keine Ausnahme. Ein paar Jahre nach der letzten Lektüre wird man sich höchstens noch an die Archetypen von Case und Molly erinnern können, ansonsten verblassen die Charaktere ebenso wie die Handlung hinter der Atmosphäre. Die Figuren werden nicht wirklich realisiert. Beispiel Molly: Die lernen wir anfangs als coole Assassinin mit zahlreichen Körpermodifikationen kennen, sehr viel später erfahren wir, dass sie früher als Prostituierte gearbeitet hat, wobei das Hirn eigentlich technisch ausgeschaltet sein sollte. Doch Molly erlebte die krassen Fetische, die sie über sich ergehen lassen musste, halbbewusst mit und sie suchen sie als Träume heim. Relativ zu Beginn hatte sie eine wilde Nacht mit Case, und es gibt zumindest ein paar Hinweise, insbesondere die Nachricht in der Coda, dass diese Beziehung, ob nun emotional oder auch sexuell, weitergeht. Und eigentlich erwartet man doch, dass in diesem Rahmen auch die krassen Traumata irgendwie zur Entfaltung kommen, ob sie nun gelöst werden oder ungelöst zwischen das Paar treten. Aber davon nichts. Solche Charakter-Hintergrundinformationen tauchen meist wirklich nur als Hintergrundinformationen auf und werden im besten Fall noch einmal plotrelevant, jedoch nicht wirklich Charakterrelevant, also relevant für ein Zusammenspiel der Figuren außerhalb des Spannungsplots. Was ich hier für Molly grob nachzeichne, gilt abgestuft für die meisten Figuren.

Warum keine Serie?

Warum also habe ich wenig Hoffnung für, und noch weniger Interesse an einer filmischen Serialisierung von “Neuromancer”? Könnte man nicht genau dort beispielsweise das Problem der Figuren lösen? Vielleicht. Aber das könnte man auch in einem Film. Es würden ja ein, zwei weitere, nicht direkt auf den Spannungsplot bezogene Szenen zwischen Molly und Case reichen, des Weiteren ein paar Blicke und überhaupt die Art und Weise, wie die Figuren gespielt werden. Das Grundmissverständnis der neueren Serialisierungen von Büchern ist dagegen, dass viel viel hilft, und dass man entsprechend durch die Masse an Stunden Film, die man hier zusammenbringt, ein filmisches Äquivalent zum Roman schaffen könnte. Der Roman hatte aber schon ein filmisches Äquivalent: den Film, der, wenn er gut gemacht ist, fähig ist, genauso kunstfertig durchgearbeitet eine Geschichte zu erzählen, wie ein Roman, natürlich mit den ihm eigenen Mitteln. Die Serie dagegen verführt zur Geschwätzigkeit, dazu, den Fokus zu verlieren, umso mehr, seit im Zuge des sogenannten Goldenen Zeitalters Zug um Zug die Kunst vergessen wurde, einzelne relativ geschlossene Bögen einer Episode mit dem großen Bogen einer Staffelhandlung zu verknüpfen.

Aber sind Filme nicht viel zu kurz, um darin eine Romanhandlung unterzubringen? Nun, wenn man vorhat, ein Buch Szene für Szene abzufilmen, mag das stimmen. Doch selbst im Fall von „Der Herr der Ringe“, das fünfmal so lang ist wie Neuromancer, reichten dafür drei Filme, die heute künstlerisch übrigens schrecklich überbewertet sind.
Schauen wir uns die ganze Sache für „Neuromancer“ doch einmal an. Das ist nämlich, wie oben angedeutet, nicht unverfilmbar, sondern supergut verfilmbar. Im Stil ähnelt es in vielen Dingen bereits einem Drehbuch. Der Roman hat in meiner Ausgabe 260 Seiten, in Wahrheit aber mit all den leeren Seiten eher 200. 120 Seiten (A4) Drehbuch sind zwei Stunden Film. Ist schwer zu glauben, da Drehbücher doch so viele unterschiedliche Textelemente und – Layouts haben, aber nach dem Schauen zahlreicher Filme und dem parallelen Lesen vieler Drehbücher kann ich sagen: Es geht fast immer auf. Was „Neuromancer“ so einzigartig macht, ist seine Sprache, die Atmosphäre rhythmisch-/melodisch transportiert. Im Drehbuch müssten wir diese Atmosphäre nicht wieder Szene für Szene etablieren, sondern könnten uns auf einige markante Stellen beschränken und die messerscharfe Poesie des Romans noch stärker eindampfen. Besonders die ersten 40 Seiten in Chiba City, aber auch die langwierigen Vorbereitungen im Sprawl würden wahrscheinlich auf insgesamt 15 Minuten zusammen schrumpfen. Auch die Schnitzeljagd im Mittelteil würde man verdichten, einige redundante Nebenfiguren sogar fallen lassen. Eine Serie würde natürlich das Gegenteil machen. Allein in Chiba City wegen der coolen Atmosphäre bekäme bestimmt zwei Episoden, der Sprawl auch eine bis zwei, eine weitere Sprawl-Episode ginge mit Kindheitserinnerungen drauf. Die wunderbar kurz auf zwei Seiten abgehandelten Hintergrundbeschaffungen zum Auftraggeber würden, fürchte ich, eine weitere Episode erfordern. Eine Episode in London, eine in Istanbul, mindestens eine in Zion, auch wenn ich kaum glaube, dass man diese komischen Weltraumrasterfari heute nicht umschreiben würde. Und damit das Finale nicht untergeht, bräuchte es wiederum mindestens zwei Episoden, was ähnlich wie in „Stranger Things“ dazu führen würde, dass ein dicht gepacktes und befriedigendes Filmfinale von vielleicht 15-25 Minuten nun auf die Dauer eines Spielfilms gestreckt würde. In einem Roman steht so viel diachron (hintereinander) – Beschreibungen, Handlungen, Gedanken, Dialoge – das im Film synchron (zugleich), abgehandelt werden kann, so dass sich alle Romane bis mindestens 300 Seiten durchaus sehr gut verfilmen lassen, und solch visuell starke, relativ einfache Handlungen wie „Neuromancer“ erst recht.

Ich würde übrigens weitere Änderungen vorschlagen, um den Film zum besten möglichen Kunstwerk auf Basis von „Neuromancer“ zu machen. Das einfache Abfilmen eines Werkes ist relativ langweilig. Hier geht es mir natürlich nicht darum, das Ganze einem tatsächlichen oder imaginierten modernen Publikumsgeschmack anzupassen, sondern um ästhetische Entscheidungen. Die wichtigste: Chiba City ist die interessanteste Location im Roman. Die vielen Sprünge zurück in die USA, nach Europa, nach Istanbul und so weiter wirken in dieser krass verdichteten Welt relativ altbacken, und es spricht meines Erachtens nichts dagegen, zumal ja die gesamte Welt ständig per Web zugänglich ist, die Handlung komplett in Chiba City zu verdichten. Der Kontrast zwischen Fläche und Vertikalität, der im Roman sowieso eine gewisse Rolle spielt (Die Reise führt von der Fläche der Kaschemmen der Stadt zum Auftraggeber in höhere Hotelräume, in den Orbit, zuerst nach Zion und schließlich nach Freeside), ließe sich dann noch deutlich stärker ausbauen und deutlich früher andeuten, indem man etwa die Strukturen im Himmel und im Orbit, die später besucht werden, von der Straße aus aufscheinen lässt, ehe wir noch wissen, was genau das ist.

Bild: Pixabay.

Ein Kommentar zu „Warum Verfilmung einer Serie vorzuziehen wäre. Die große „Neuromancer“-Besprechung.

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