Wildes „Mock Heroic“, das auseinander fällt. Selma Lagerlöfs Frühwerk „Gösta Berling“.

„Gösta Berling“ ist der erste Roman von Selma Lagerlöf, und das merkt man dem Text auch an. Es handelt sich um so eine Art Schelmenroman in Episoden, der sich lose um einen gefallenen Pfarrer dreht. Zu Beginn wirkt das Ganze sehr interessant. Gösta Berling ist Pfarrer, aber auch ein Trinker vor dem Herrn. Sein Verhalten wird untersucht, der Bischof ist zu Gast, und es scheint schon, als habe er sich retten können, doch er wird wieder zum Trinken verführt. Das alles ist sehr lebendig beschrieben, das Dorf, in dem Gösta Berling lebt, wirkt dicht. Und ich muss sagen, diesen Roman hätte ich gerne weitergelesen: der Pfarrer, sein Konflikt zwischen Hingebung an die Sendung, die er durchaus besitzt, und seiner Lust an Ausschweifung und Trank. Und das Dorf, das ihn halb verachtet, halb ermutigt. Aber stattdessen verliert Gösta seine Stelle, wandert ein zwei Kapitel im Land herum und wird dann einer der Kavaliere auf Ekeby, wobei Kavaliere hier wild lebende Männer meint, die Musik machen, trinken, für die Unterhaltung ihrer Herrin und vor allem ihre eigene Unterhaltung sorgen. Bald treibt Gösta zum Weihnachtsfest einen Scherz, indem er einen Gutbesitzer als Teufel verkleidet und ihn einen Schabernack aufführen lässt, nachdem die Herrin, die angeblich mächtigste Frau des Wärmlandes, ihr Gut verlassen muss und die Kavaliere auf ein Jahr Herren sind. Obwohl Gösta doch weiß, dass er die Sache angeleiert hat, sind bald alle, er eingeschlossen, überzeugt, man habe tatsächlich mit dem Teufel gehandelt. Wie zuvor Gösta wird nun die Herrin Landstreicherin, und die Kavaliere schwören, ein Jahr lang nur Kavaliersdinge zu tun, was letztlich bedeutet: Unsinn, bloß nichts Gutes, ansonsten hätten sie ihre Seelen verwirkt.

Wir erfahren nun von allerlei Abenteuern von Gösta Berling, insbesondere verschiedene Frauengeschichten, und ab der Mitte löst sich der Zusammenhalt des sowieso nur episodisch verbundenen Textes immer stärker auf, und wir bekommen andere Geschichten erzählt, in denen Gösta teilweise nur kurze Auftritte hat. Teilweise hören wir sogar Geschichten in Geschichten, und die Handlung entfaltet sich nicht immer chronologisch. Figuren erzählen etwa von Göstas Sperenzien einige Jahre zuvor, als geschähen sie jetzt, ehe Gösta dann im Jetzt seinen Auftritt hat, bis dann zum Schluss die Herrin nach Ekeby zurückkehrt und geprüft wird, ob die Kavaliere ihre Aufgabe erfüllt haben. Wobei eine schwache Entschuldigung dafür geliefert wird, dass sie das offenkundig nicht haben, und Gösta derweil, weil er zu Liebe und Pflicht gefunden hat, das Angebot der Herrin, ihm das Gut zu schenken, ausschlägt. Es wirkt ein wenig, als habe die Autorin im Mittelteil einfach Geschichten erzählt, die sie erzählen wollte, und dann zum Schluss festgestellt, dass das zur Prämisse nicht mehr so richtig passt, und, anstatt nun auszusortieren oder umzuschreiben, den Schluss recht gewaltsam zurechtgebogen.

Prinzipiell habe ich nichts gegen episodische Texte, und das Zusammensetzen eines Landstriches aus mehreren Episoden, die lose verbunden sind, mit Gösta Berling als rotem Faden, könnte sogar einen richtig starken Roman ergeben. Spätere bessere Texte Lagerlöfs sind ja genau so strukturiert. Aber hier funktioniert es nicht wirklich. „Gösta Berling“ ist ein so überschwänglicher Text, dass schon sein Sprachgestus dem Zeichnen eines überzeugenden, aus vielen Bildern zusammengesetzten, Großbildes entgegensteht. Viele Passagen, teils ganze Kapitel, wirken wie ein „Mock Heroic“, und tatsächlich dürfte das Ganze auch an dieses Genre angelehnt sein. Regelmäßig wendet sich die Erzählerin in Schwüren und Aufrufen an die Lesenden und auch an ihre Figuren. Es wimmelt nur so von Ausrufezeichen. Und die Handlungen sind regelmäßig melodramatisch ohne Ende. Ständig verlieben sich hochstehende junge Frauen in Männer unter ihrem Stand. Häufig gibt es Ehrenhändel, und gefühlt jeder Zweite, der irgendwie sein gesellschaftliches Ansehen verliert, entscheidet sich, fortan als Bettler entlang der Landstraße zu leben. Das scheint mir schon in Mitteleuropa drastisch, aber in Schweden? Hat den Leuten niemand gesagt, wie kalt es da ist? Ja, es gibt hier und da bildliche Szenen aus dem ländlichen Leben, aber die dauernden Übertreibungen und der Tonfall der Erzählung beißen sich mit den Chancen, die ein Episodenroman oder ein Roman in Kurzgeschichten normalerweise für die Darstellung eines breiten gesellschaftlichen Bildes hätte.

„Gösta Berling“ ist nicht ganz uninteressant, gerade die erste Hälfte enthält auch sprachlich starke Passagen, aber es wäre nicht der Roman, mit dem ich testen wollte, ob mir die Texte von Selma Lagerlöf auch abseits von Nils Holgersson gefallen. Da würde ich dann doch lieber in das von mir schon besprochene Spätwerk schauen.

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