Am Rande der Nacht

Er habe immer Pech mit seinen Büchern gehabt, schreibt Friedo Lampe laut übereinstimmenden Quellen in einem seiner Briefe. „Am Rande der Nacht“ wurde 1933 beschlagnahmt, unter anderem, weil darin eine Liebesbeziehung zwischen einer weißen Frau und einem schwarzen Mann angedeutet wurde. „Septembergewitter“ konnte 1937 erscheinen, aber mit wenig Erfolg. Nachdem Lampe 1945 unter bis heute unklaren Umständen von einem sowjetischen Soldaten erschossen wurde, erschien sein Band mit Erzählungen „Von Tür zu Tür“ posthum, mit ebenso wenig Erfolg. Auch wenn es zaghafte Versuche gab, den Autor wiederzuentdecken und sich immer wieder bedeutende Schriftsteller wie Wolfgang Köppen oder zuletzt Patrick Modiano auf Lampe bezogen, dürfte er der breiteren lesenden Öffentlichkeit bis heute wirklich unbekannt sein.

Und Lampe ist eben auch nicht einfach eine weitere Figur, die auch ein paar ganz ordentliche Bücher geschrieben hat oder etwas Wichtiges beizutragen hat zu einem breiten Sittenbild seiner Zeit. Er ist d e r stilistische und formale Modernist in deutscher Sprache, der Autor, den es eigentlich nicht geben dürfte. Der schon in den 30er Jahren jene hochkomplexen Textgeflechte vorlegte, die viele Handlungen auf engem Raum in eines verweben, wie man sie bis dahin vor allem aus dem Englischen etwa von Virginia Woolf kannte. Entsprechend muss man feststellen, dass Autoren, die an ihn anschlossen oder das von sich behaupteten, schlecht an ihn angeschlossen haben. Wenn es heute heißt, dass Lampe sich vom Film beeinflusst zeigte oder filmische Mittel einsetzte, möchte ich das zumindest teilweise in Frage stellen. Diese Leichtigkeit der zugleich immer bedeutungsvoll geführten Übergänge, diese Wechsel nicht nur in der Perspektive, sondern auch in der Distanz zum Geschehen, an sie nähert der Film sich ja überhaupt erst mit „Citizen Kane“ an. Der dürfte natürlich weniger von Lampe gelernt haben als etwa von Woolf und anderen internationalen modernen Romanen, aber der Film zeigt sich viel mehr von der modernen Literatur beeinflusst, als andersrum, obwohl es natürlich Wechselwirkungen gibt. Was heute an Schreibschulen gelehrt wird, könnte man mit Fug und Recht als eine durch den Hollywood-Film gefilterte Restrampe des einstigen technischen Schatzes der literarischen Moderne bezeichnen.

Lampe tat auch, ironischerweise, zumindest bis zu einem gewissen Grad, mit daran, dass andere Autorinnen und Autoren „Pech“ mit ihren Büchern hatten. Denn er arbeitete als Lektor in einer der gleichgeschalteten Volksbibliotheken, und das dürfte wohl auch geheißen haben: Streichungen von Passagen und Verbote. Die Lampe-Biografie von Johann-Günther ­König liegt mir nicht vor; mich interessiert Literatur mehr als Biografisches. Online lässt sich nicht wirklich erfahren, wie weit die Lampe-Tätigkeit dabei ging. Ich meine, irgendwann einmal irgendwo gelesen zu haben, dass Lampe zumindest über den Nationalsozialismus, solange er seine eigenen Bücher nicht verbot, nicht schrecklich bestürzt war. Was die Jungle World in einem ansonsten interessanten Text, der sich auf Königs Biografie stützt, als Beleg dafür heranzieht, dass Lampe auch nationalsozialistische Ideologien vertrat, überzeugt mich nicht.

“ 1941 veröffentlichte Lampe in der propagandistischen Wochenzeitung Das Reich die Erzählung »Alexanderschlacht«, in der sich ein vom bürgerlich-belanglosen Leben in einem Kurort abgestoßener junger Mann in die Schlacht bei Issos von 333 v.   u. Z. hineinträumt, in der Alexander der Große den Perserkönig Dareios III. besiegte – »die besten Krieger Europas gegen die Weichlinge Asiens«. Sterbend empfängt der Träumer Alexanders Dank, währen um ihn herum »Heil Ale­xander, heil Alexander, Sieg!« ­gerufen wird.”

„Die Alexanderschlacht“ hätte wirklich in jedem Land der Welt und zu jeder Zeit erscheinen können. Es ist kein guter Text, ein Heldentums-Text, aber das ist auch schon alles. Auch dass die Shoa, wie der gleiche Artikel moniert, in den 1933 und 1937 erschienenen Romanen nicht vorkommen, kann man dem Autor kaum vorwerfen. Ich werde allerdings in meiner Besprechung des Nachfolgers „Septembergewitter“ zeigen, dass sich dort einige an den NS anschlussfähige Themen finden und der Text überhaupt von einer starken Entschärfung inhaltlicher und stilistischer Natur geprägt ist, die wirkt, als geschehe sie vor allem mit Blick auf das damalige deutsche Publikum.
Hier soll es zuerst um „Am Rande der Nacht“ gehen, und zum Schluss werde ich noch einmal auf eine Stelle zurückkommen, die man mit etwas Fantasie tatsächlich mit einer Überzeugung in Deckung bringen könnte, die zumindest anschlussfähig wäre an den Nationalsozialismus. Im Ganzen muss man aber sagen, dass der Text voller Dinge ist, die der Nationalsozialismus nicht abkonnte. Entsprechend wurde das Buch dann ja auch beschlagnahmt.

„Am Rande der Nacht“ – Struktur

In erster Linie hervorzuheben für diesen Roman ist die Struktur, die Komposition. Ich habe es oben schon angedeutet. Es handelt sich um einen kurzen Text von etwas über 100 Seiten, der schätzungsweise 20 Figuren vom Abend an durch die Nacht in einer Hafenstadt verfolgt. Die Stadt wird nie namentlich genannt, aber Lampes Heimat, Bremen, liegt nahe. Die Stadt hat ein lebendiges Zentrum rund um den Hafen mit Kneipen und Kabarett, doch andere Bereiche wirken geradezu dörflich. Alles hebt an mit einer Szene, in der ein paar Jugendliche Ratten an einem Bachlauf beobachten und Angst haben, dass diese über die Schwäne herfallen könnten. Von dort aus wird unser Blick mittels weicher Übergänge durch den ersten Teil des Figurenensembles geführt, etwa hier, auf Seite 12, von der ersten Szene in die zweite.

“Sie [Die Kinder aus Szene 1] gingen am Graben entlang und kamen auf die Straße. Jetzt brannten die Lampen schon, und auch die Elektrische – Linie eins fuhr gerade vorüber und hielt unter der Eisenbahnbrücke – war erleuchtet.

Frau Jacobi stieg aus. Sie trug mehrere Pakete. Fifi und Luise knixten artig und geziert. »Guten Abend, Kinder. Noch unterwegs? Marsch, marsch in die Klappe«, drohte sie freundlich. Ach, Mama wird andere Töne anschlagen. Nur fremde Damen haben diese nette Art. Aber Mama ist mir trotzdem lieber. Nein, Frau Jacobi sollte nicht meine Mama sein. Luise gähnte. An der Straßenecke trennten sie sich. Sie gaben sich flüchtig die Hand.
Der Wagen der Linie eins, mit dem Frau Jacobi gefahren war, fuhr durch die Hafenstraße. Er hielt. Ein Betrunkener kam aus Bellmanns Restaurant. Durch die einen Augenblick geöffnete Tür drang Orchestrionmusik und Gelächter. Der Schaffner hielt den Besoffenen zurück, drängte ihn energisch vom Trittbrett. »Bleiben Sie draußen –.«

»Ich, ich will mit – was wollen Sie – wenn ich bezahle – unverschämter Flegel –«

»Draußen bleiben. Hören Sie?« Klingel. Weiter. Der Mann blieb drohend zurück. »Daß die Bande einem den ganzen Wagen vollkotzt«, sagte der Schaffner zu Oskar und Anton. Die beiden Studenten nickten zustimmend, mit ernster sachverständiger Miene. Der Schaffner blickte auf ihre großen Handkoffer.
»Wohl mit der Adelaide?«, fragte er.
»Ja,« sagte Anton, »Rotterdam«.
»Beneidenswert, jetzt so im September übers Meer zu fahren«, sagte der Schaffner. »Wenn man das doch auch mal könnte.«”

Lampe scheint dabei, wenn auch noch nicht absolut streng, gewissen Regeln für die Verbindung der Szenen zu folgen. Ein solcher weicher Übergang, bei dem ein Element aus der vorherigen Szene in die spätere überführt oder ein Motiv aufgegriffen wird, steht immer, wenn zu einer noch unbekannten Figur oder in eine unbekannte Umgebung gesprungen wird. Zu bereits bekannten Figuren und Örtlichkeiten kann dann auch mit scharfen Schnitten zurückgesprungen werden. Vieles Spätere wird zugleich durch frühe Leitmotive angedeutet. Bereits auf den ersten Seiten erfahren wir etwa, dass in dieser Nacht das Kreuzfahrtschiff AIDA ablegen wird, das auch für diese Stadt ein besonders opulentes Schiff zu sein scheint. Dieses Schiff wird später noch bedeutungsvolle Teile der Handlung tragen. Auch der Ringkampf zwischen Dieckmann und Alvaros wird mehrfach angeteasert, zuerst durch Plakate, dann durch Gespräche. Die zentrale Szene des Romans findet dann im Varieté statt, wo schließlich auch der große Kampf steigt.

Wie das Varieté und seine Handlungen früh angedeutet werden, sich immer stärker in die Handlung drängen und dort dann das Herrliche und das Schreckliche des Nachtlebens kombinieren, während immer wieder das Leitmotiv der Ratten und der Schwäne angeschlagen wird, ist sehr überzeugend ausgeführt. Ebenso die Dampferhandlung, die einerseits wiederum ins Varieté hineinführt, aber dann auch wieder hinaus. Anders nämlich, als man es beinah erwarten könnte, kehrt der Roman nicht kreisförmig zu den Kindern vom Beginn zurück, sondern wir fahren mit dem Dampfer hinaus in die Welt, bewegen uns quasi aus der provinziellsten und jugendlichsten Szene des Romans über verschiedene Stationen in die am weitesten offene, ohne dass der Text seine früheren Wurzeln vergisst und ohne dass das ein Happy End wäre. Denn zuletzt erfahren wir vom Schicksal des Stewarts (s.u.), und dass der sich aus seinen Fesseln nicht lösen kann. Die provinzielle Enge fährt mit.

Die Erzählperspektive verharrt bei all dem, anders als etwa bei den strenger im personal bleibenden indirekt-freien Romanen Virginia Wolfs, nicht durchweg nahe an den Personen, sondern nimmt teilweise auch Bewegungen vor, die man mit filmischer Terminologie als Zooms und Schwenks bezeichnen könnte. Sie beginnt dann im personalen, praktisch im bzw. am Kopf einer Figur, und hebt sich hinaus bis in einen Moment, der auktorial wirkt, um sich dann langsam wieder der personalen Perspektive in einer neuen Szene anzunähern. Dabei wird der Übergang von einer gemeinsamen Stimmung des Textes oder gemeinsamen Motiven gestützt oder sogar erneut von einem Element wie etwa Musik, die in beide Szenen hineinspielt.

“Und Herr Berg spielte weiter, er spielte den ganzen Abend. Das machte er sonst so, und er machte es auch heute. Klar und stetig, in ruhigen Intervallen schwebten die kühlen, silberglänzenden Töne über die Gärten und vermischten sich mit der Abendluft, zerrannen in ihr. Aber wer hörte diese Töne, wer vernahm sie innen, wer war fähig, diese strenge Botschaft, diese klare Klage zu begreifen? Der Sterbende vernahm sie nicht, konnte sie nicht mehr vernehmen, er war schon in einen allzu tiefen Schlaf versunken, sonst wäre er vielleicht derjenige gewesen, der diese Töne am besten begriffen hätte – und die anderen Leute vernahmen sie noch viel weniger. Aber die kleine Luise, die im Nachtkleid am offenen Fenster lehnte, die verstand diese Klänge, sie fand sie sehr schön und ganz selbstverständlich. Sie lehnte ihren Kopf in die Hand und träumte dabei in den Garten hinunter. Die Töne zogen eine ruhige, stetige Bahn, der weiche Abendwind rauschte ein wenig in den Bäumen der Gärten und trug die vollen Gras-, Blumen- und Blattgerüche heran. Die Gärten lagen dunkelgrün und undeutlich da, Baummassen, Büsche, schwarze Planken, weichumrandete Rasenstücke, Turnrecke für Kinder. Drüben in den Häusern brannte in einigen Zimmern Licht, und die Leute gingen lautlos hin und her. Aus der Ferne ertönte Radiomusik wie eine Begleitung zu dem Flötengesang. Luise roch den säuerlichen, schweren Stallgeruch aus dem Fuhrgeschäft nebenan. Dort standen die Wagen still im Hof mit hängender Deichsel, die Pferde schnaubten wohl mal im Stall und schlugen mit dem Huf auf. Der Stallknecht ging mit einer Lampe über den Hof, leuchtete hierhin und dorthin, ging in den Stall und für Augenblicke trat ein fahler Heuhaufen, eine Bretterwand mit Pferdegeschirr, ein breiter, glänzender Pferderumpf hervor. Dann versank wieder alles in weiche, wogende, fließende Nacht – und Luise schwebte wieder mit den Tönen dahin – auf silbernen Bahnen. Da schreckte sie plötzlich auf. Sie sah wieder die Ratten. Die kleinen, bösen Augen, scharf und nadelspitz, und eine graue Lippe hob sich widerlich und zeigte leise zischend das grausame Gebiß. Luise hatte plötzlich Angst vor der Nacht, vor dem Alleinsein. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, nach einem geschlossenen Zimmer, nach Gemütlichkeit, und da blickte sie schnell in den Nachbargarten. Da war etwas, was sie tröstete und beruhigte, ein friedliches Bild.
Dort saß nämlich am Ende des Gartens in der von großen Blättern umrankten Laube Herr Hennicke, der Geographielehrer mit seinen zwei Söhnen. Eine Petroleumlampe stand mitten auf dem Tisch und verbreitete einen warmen, gelben Schein. Hin und wieder schwalgte die Lampe, dann drehte sie Herr Hennicke mit behutsamer Hand kleiner (…)”

Sprache und Atmosphäre

Auch die Sprache Lampes ist dabei oft von erlesener Schönheit, sie fängt wunderbar die verschiedenen nächtlichen Stimmungen ein, vom Chaos des Nachtlebens bis zu stiller Melancholie, wobei die Melancholie meist obsiegt, und stellt die nächtliche Stadt in starken Bildern vor Augen:

“Sie blickten sich um. Die Sonne war ja schon weg, und schwarz lag jetzt das Wasser vom Stadtgraben da, man konnte gar nicht mehr tief hineinsehen, und eben hatte es doch noch so goldig braun geleuchtet. Dunst stieg leise aus dem Wasser und blieb dicht darüber liegen. Die Bäume der Anlagen traten schon zu schweren dunklen Gruppen zusammen, und weich und mahnend hob die Mühle auf dem Hügel die braunen Flügel in den warmen, blauen, rauchigen Himmel. Von der Hafenstraße her glommen schon die kleinen Flämmchen in den Laternen. Gleich würden sie aufleuchten. Oben am Weg saß ein alter Mann auf einer Bank, die Hände auf seinen Stock gelegt, und sah ruhig geradeaus.”

Doch letztlich ist es die Kombination dieser Sprache mit dieser Struktur, was für die so überzeugende Atmosphäre von „Am Rande der Nacht“ sorgt. Die Jungle World spricht, sich auf Heinrich Detering berufend, von „einer Mischung aus avantgardistischer Formsprache und »romantischer Traumpoesie«“. Und eine längere Arbeit über Literatur der Zwischenkriegszeit und bis 1945, die einst kostenlos online stand und die sich mittlerweile leider nicht mehr auffinden lässt, sprach, dem scheinbar gegenläufig, für die Texte Lampe von „Idyllen auf vulkanischem Grund“, und das ist mindestens genauso treffend. Denn auch wenn die Schönheit einer sanften Melancholie die Texte scheinbar dominiert, ist diese Sanftheit durchweg brüchig. Menschen tun einander Schreckliches an in diesen Texten, auch wenn es meist subtil geschieht. Da sind etwa die beiden Gäste auf der AIDA, Studenten am Ende ihres Studiums, die im Stewart einen alten studentischen Weggefährten erkennen. Während der eine Student freundlich mit dem alten Bekannten redet, beharrt der andere auf dem Standesunterschied, der jetzt zwischen ihnen bestehe. Und auch, wenn die zwei später versuchen, den Stewart gegen den sadistischen Kapitän zu verteidigen, machen sie die Sache letztlich nur noch schlimmer. Das auch, weil sie keine andere Perspektive als die des Dünkels gegenüber dem Stewart einnehmen können.
Im Varieté derweil spielen sich gleich zwei tragische Geschichten ab: Der alte Ringer Diekmann fühlt sich offenkundig hingezogen zu seinem jungen, attraktiven Gegner Alvaros. Doch als dieser ihn abweist, macht er ihn mit einer Brutalität im Ring fertig, die ihresgleichen sucht (und von den Regeln definitiv nicht mehr gedeckt ist). Parallel dazu beutet ein Vater, Hypnotiseur, seinen jungen Sohn auf der Bühne in einer Weise aus, die diesen dazu bringt, davonlaufen zu wollen. Der Conférencier, also der Moderator, der dafür später auch gefeuert wird, versucht einen vermeintlichen Schutzmann dazu zu bringen, den Jungen doch irgendwie vorläufig in Gewahrsam zu nehmen, damit der Vater keinen Zugriff mehr hat. Doch der „Schutzmann“ ist Zollinspektor und absolut nicht interessiert, hier irgendwie einzugreifen. Und auch die kleineren Handlungen haben ihre dunklen Untertöne. In dem Haus, in dem Herr Berg Flöte spielt, liegt ein alter Mann im Sterben, und zwischenzeitlich gibt es Streit, ob es denn überhaupt angemessen sei, jetzt zu flöten. Doch Berg beharrt: Bach könne man immer spielen. Und die junge Anni, Tochter des Hauses, aber mittlerweile jung verheiratet, ist total verzweifelt, weil der Mann gezwungen ist, mit Arbeitskollegen feiern zu gehen, und nur die Vorstellung, er könne da etwas trinken, ist für sie das Ende der Welt, obwohl der Mann noch nie wirklich getrunken hat. Auch das dürfte auf frühere Traumata verweisen. Und Peter, der öfter mit einem alten Mann auf einer Bank spricht und auch bekannt ist mit den Bewohnern des Totenhauses, nimmt ein junges Mädchen mit nach Hause, möglicherweise eine Amateur-Prostituierte, die vom Vater aus dem Haus geworfen wurde. Es gibt viele der gleichen kleineren Momente mehr.

Ratten und Schwäne.

Das große schwierige Symbol freilich sind die Ratten und die Schwäne. Die Jugendlichen sind fasziniert von den Ratten, haben aber zugleich Angst, sie könnten die Schwäne angreifen. Später hat der Wärter der Anlage, auf der die Ratten zu beobachten sind (er ist der Vater der jungen Vielleicht-Prostituierten), die gleiche Sorge und schreibt deshalb an die Stadt. Das hat er wohl schon mehrfach gemacht. Diesmal angeregt wird er durch den folgenden Artikel:

“»Die Öffentlichkeit von New York sollte eigentlich nichts davon wissen, aber es gelingt nicht mehr, die Sache als harmlos hinzustellen. John Hart, der Kommissar der Parkanlagen von New York hat einen Ausschuß gebildet, und zwar von Spezialisten, die sich auf die Beseitigung von Ratten verstehen. Auf der Konferenz der Rattenvertilger, auf der jeder seine Erfahrungen mitteilte, stellte es sich dann heraus, daß nicht nur im Central-Park und in den zoologischen Anlagen von New York die Ratten ihr Unwesen trieben, sondern daß diese ekelhaften und gefährlichen Tiere die ganze Stadt unterwühlten und sich gerade da Gänge bohrten und bauten, wo es den um ihre Sicherheit sehr besorgten Menschen wahrlich nicht angenehm ist.
Es läßt sich nicht länger verheimlichen: New York erlebt eine Rattenüberschwemmung. Nicht nur in Parks und Anlagen, in sumpfigen Geländen, nein, auch in Häusern, Schuppen, Zimmern brechen diese Tiere angriffslustig und oft in zahlreichen Rudeln zerstörerisch und feindselig hervor. Es handelt sich um eine ganz besonders kräftige und draufgängerische Rattengröße. Große hellhaarige Tiere von derselben Art, wie sie vor rund einem Jahr von den Riker-Inseln gemeldet worden waren. Dort hatten sie fast ein ganzes Dorf zum Einsturz gebracht.
Die mutigen Rattenbekämpfer – sie sind augenblicklich die Helden unserer an Helden so reichen Stadt – haben schon ihre ersten Abenteuer mit den Ratten hinter sich. Die Vorpostengefechte sind erledigt. Sie kosteten einem Beamten zwei Finger. Der Beamte wollte ein paar Ratten auf einem Parkweg totschlagen, die Tiere aber nahmen, in die Enge getrieben, den Kampf an. Kaum hatte der Wärter den ersten Schlag geführt, da stürzten wohl ein Dutzend Ratten auf ihn los, versuchte an ihm hochzuklettern und sich an ihm festzubeißen. Nur die Flucht durch einen künstlichen Wasserfall rettete den Beamten vor weiteren Angriffen der widerlich pfeifenden, schrill schreienden, blutgierigen Tiere.
Wer will sich anmaßen, abschätzen zu können, wieviel Ratten in New York ihr Unwesen treiben? Die einen sprechen von fünfhunderttausend und die anderen von zwei Millionen. So oder so! Die Gefahr ist groß. New York leitet in aller Stille und mit zäher Beharrlichkeit einen Rattenkrieg ein. Wird es gelingen, das lichtscheue Gesindel in seine dunklen unterirdischen Gänge zurückzubannen?(…)”

Und wenn es irgendetwas gibt, das sich mit nationalsozialistischen Gedanken in diesem Text gut in Verbindung bringen lässt, dann wäre es dieser Kampf dreckiger Ratten gegen herrliche Schwäne, der freilich rein imaginär ist, sowie die Vorstellung, dass Ratten zuerst New York unterwühlen und jetzt auch Bremen bzw. die fiktive Hafenstadt und dass die Verwaltung dagegen nichts tut. Ich denke aber, man müsste den Text schon gewaltsam interpretieren, um hier wirklich Verbindungen zur nationalsozialistischen Ungeziefer-Metaphorik herzustellen. Bevor ich wusste, dass Lampe zumindest kein dezidierter NS-Gegner war, habe ich diesen 1933 erschienenen Text sogar genau andersherum gelesen: Braune Horden, die zugleich eine große Anziehung auf die Jugend ausüben – das einzige im Text bedrohend, das man als tatsächlich in klassischer Weise als „schön“ bezeichnen könnte? Ich weiß nicht, ob man Lampe diese unterschwellige NS-Kritik zutrauen kann, aber es wäre meiner Meinung nach die naheliegendere Lesart, wenn man aus den Ratten und den Schwänen mehr machen möchte als Ratten und Schwäne bzw. sehr allgemeine Symbole für auch sonst im Text verhandeltes, für die städtische Lichtwelt und deren dunkle Unterströme.

„Am Rande der Nacht“ ist ein herausragender Roman, den man eigentlich nicht ignorieren kann, wenn man über moderne Literatur sprechen möchte, insbesondere über solche in deutscher Sprache. Von dem Text gibt es mehrere Versionen, und soweit ich es verstehe, ist die Nachkriegsversion, die in meiner Gesamtausgabe abgedruckt ist, eine nachträglich entschärfte. Auch dem Nachkriegspublikum wollte man wohl nicht zumuten, was schon den Nazis nicht gefallen hat. Die Homosexualität des Ringers Diekmann wird wohl deutlich vorsichtiger angedeutet. Auch die Romanze zwischen der weißen Frau und dem schwarzen Mann im Varieté wurde wohl stark zurückgeschraubt. Was genau geändert wurde, kann ich nicht sagen. Es ist nicht so, dass diese beiden Handlungsstränge nun nicht mehr verstanden werden könnten, und ich weiß nicht, ob der frühere Text grafische Details enthält. Es gibt eine neuere, natürlich dann auch deutlich teurere Ausgabe, die die ursprüngliche Fassung enthält. Gerade habe ich festgestellt, dass zumindest „Am Rande der Nacht“ und „Von Tür zu Tür“, die wie alles von Lampe mittlerweile gemeinfrei sind, endlich auch online verfügbar gemacht wurden. „Am Rande der Nacht“ findet man unter dem Titel „Ratten und Schwäne“ bei Projekt Gutenberg. Wenn ich den Roman, wie ich das mache, seit ich ihn entdeckt habe, in ein bis zwei Jahren wieder lese, werde ich mir diese Ausgabe einmal vornehmen und schauen, ob es sich vielleicht um die ursprüngliche Variante handelt.

Bild: Wikiart, gemeinfrei.

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