Starke Atmosphäre, etwas langatmig, etwas viel Exotisierung: „Ein Ort fernab der Welt“ von Manuel LeClézio.

„Ein Ort fernab der Welt“ von Manuel LeClézio eröffnet mit zwei der stärksten Kapitel, die ich seit langem gelesen habe. Zwei Brüder, Jacques und Leon, sind auf Mauritius aufgewachsen, wo der Großvater der letzte koloniale Patriarch einer Zuckerplantage war. Wir begegnen den beiden in Paris, das herrlich düster vor Augen gestellt wird, wie sie versuchen, sich im Leben zu orientieren, wie Jacques dem jüngeren Leon von der Plantage erzählt und von ihrer Kindheit. Im Mittelpunkt stehen zwei Kontakte mit Artur Rhimbaud. Einmal mit dem aufstrebenden Rhimbaud, besoffen in einer Kneipe, und dann einige Jahre später auf einer Schiffsreise, da der mittlerweile Waffenhändler gewordene Dichter krank darnieder liegt und Jacques, mittlerweile ein junger Arzt, sich um ihn kümmert. Diese Momente der Jugend zweier Brüder werden zeitweise als Konstruktion markiert, und zwar eines weiteren Leos, des Enkels von Jacques, der über das Leben dieser beiden nachdenkt. Diese ungeheuer dicht gebauten und sprachlich stark verfassten beiden Kapitel enden mit einer Art Schiffbruch auf einer Insel vor der Küste von Mauritius. Dort werden alle Passagiere des Schiffs Zwecks Quarantäne abgeladen, da möglicherweise an Bord die Pocken ausgebrochen sind.

Und damit beginnt dann der lange Hauptteil der Erzählung, der immer noch interessant ist und einige Momente besonderer Schönheit bereithält, aber doch nicht auf dem Niveau der ersten beiden Kapitel bleibt. Eine große Gruppe ist auf der Insel gestrandet und streitet darum, wie man mit der Sache umgeht. Einige versuchen zwanghaft, Kontakt zum Festland herzustellen, obwohl die Kolonialverwaltung doch verantwortlich ist für ihre Lage. Einige versuchen strenge Regeln durchzusetzen und diese teilweise auch den weiteren Bewohnern der Insel, indischen Emigranten, aufzuzwingen. Man richtet auf einer zweiten kleineren Insel eine Quarantänestation ein, wo die meisten Patienten allerdings sterben. Leon dagegen beginnt die Insel zu erkunden und lernt dabei Suryavati , eine der Emigrantinnen, kennen. Die beiden bauen eine Beziehung auf, die wiederum mit der Zeit in eine Liebesbeziehung mündet. Als Jacques endlich andeutet, dass bald die Chance besteht, dass die Schiffbrüchigen die Insel verlassen können, kommt es zu Konflikten zwischen Jacques und Leon. Denn so kritisch sich Jacques zuvor über die Kolonialherrschaft geäußert hat, so wenig kann er anfangs akzeptieren, dass Leon Suryavati mit von der Insel nehmen möchte. Letztlich sieht er die Familie immer noch als Teil der Oberschicht von Mauritius an und da könne man sich wohl kaum offen auf eine Beziehung mit einer Einheimischen einlassen. Das verweist auf eine doppelte Herabwürdigung, der die indischen Emigranten ausgesetzt sind: einerseits durch den Einfluss der Kolonialverwaltung, andererseits aber auch durch die Fremdenfeindlichkeit der autochthonen Einwohner von Mauritius. Leon setzt sich am Ende durch, und alle verlassen die Insel. Obwohl Jacques weiterhin die Beziehung nicht gutheißt, setzt er sich doch dafür ein, dass auch die Emigranten die Insel verlassen können, die wohl einige Zeit früher, vielleicht Monate, vielleicht Jahre, auf ganz ähnliche Weise dort gestrandet sind. Ein weiterer Handlungsstrang erzählt die Geschichte von Suryavatis Mutter und Großmutter, und wie sie auf die Insel gekommen sind. Einige Hinweise im Mittelteil sowie im kurzen Schlussteil, den wieder der Enkel Leon 1980 erzählt, legen nahe, dass auch dieser Mittelteil in einer Weise konstruiert ist, die zumindest die genaueren Details fragwürdig erscheinen lässt. So muss es Suryavati sein, die eigentlich die Geschichte von Mutter und Großmutter erzählt, doch haben wir zwischendurch erfahren, dass sie von der Großmutter noch nicht mal den Namen kennt. Und am Schluss erfahren wir, dass auch Suryavatis Name erfunden ist, und zwar vom Enkel Leon. So ist höchstwahrscheinlich der gesamte Mittelteil letztendlich von diesem konstruiert worden.

Kompositorisch kann man dem Roman vor allem vorwerfen, dass der Mittelteil um 100 bis 200 Seiten zu lang ausgefallen ist. Stilistisch stören trotz vieler sprachlich schöner Momente einige wortgleiche Wiederholungen, die wahrscheinlich als stilistisches Mittel wirken sollen, aber dafür nicht konsequent genug eingesetzt wirken. Man steht eher verwundert davor: Was ist plötzlich los? Diesen Absatz habe ich doch schon mal gelesen, oder?

Ansonsten ist der Roman definitiv gut geschrieben und auch durchweg unterhaltsam. Inhaltlich dagegen stößt vor allem eine gewisse Verkürzung bzw. Romantisierung des „going native“, dass Leon unternimmt, auf. Das ist natürlich ein altes Motiv kolonialer und westlicher postkolonialer Literatur, das ich in seinen Ursprüngen gar nicht zu hart kritisieren möchte, schien darin doch auch immer eine gewisse Selbstkritik der Kolonialherrschaft und ihrer Träger auf. Und zugegebenermaßen bricht der Roman das ein wenig, indem die Menschen, die für Leon eine gewisse Ursprünglichkeit repräsentieren, selbst natürlich nicht die Ureinwohner dieser Insel sind, sondern Emigranten, die teils aus ihrem Heimatland nach Mauritius emigriert sind, teils aber auch selbst schon Zeit beispielsweise in London verbracht haben. Dennoch ist diese ganze Geschichte rund um die Beziehung zu Suryavati etwas zu süßlich, etwas zu viel Zivilisationsflucht in Richtung von Blumen und Schmetterlingen. Vor allem versemmelt der Roman eine großartige Chance, dieses Thema stärker zu gestalten. Denn mehrfach klingt an, dass Suryavatis Mutter, die selbst in London gelebt hat, in Suryavati eine besondere Sehnsucht nach dieser Stadt und nach dem britischen Lebensstil erweckt hat. Doch das wird dann immer wieder zugunsten von Einfachheit in der Natur, Blumen und Schmetterlingen (okay, eigentlich eher tropischen Vögeln) fallen gelassen. Hätte der Text diese ganz unterschiedlichen Perspektiven der beiden Liebenden auf die Welt, diese gegenläufigen Bedürfnisse, stärker ausgearbeitet, ich denke, wir hätten es mit einem noch deutlich besseren Roman zu tun. So haben wir einen wirklich starken Auftakt, einen Mittelteil mit schönen Stellen und einigen Momenten, ob derer man fast geneigt ist, sich fremdzuschämen, und insgesamt sicherlich knapp einem Drittel zu viel Buchstaben für diese Geschichte.

Bild: Pixabay.

2 Kommentare zu „Starke Atmosphäre, etwas langatmig, etwas viel Exotisierung: „Ein Ort fernab der Welt“ von Manuel LeClézio.

  1. Le Clézio hat so eine Art, dass es mir den kalten Schauder den Rücken hinunterrieseln lässt – der Kitsch geht manchmal einfach zu weit, dennoch mag ich die Intensität seiner Bücher, die ich oft bei anderen vermisse, da ist mir der Kitsch manchmal Schnuppe, den Roman aber kannte ich noch nicht. Ich war von „Wüste“ sehr überzeugt, obgleich es dieselben kompositorischen Mängel besitzt, wenn ich mich recht erinnere.

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