Zwei radikal unterschiedliche Großstadtgedichte. Amy Lowell und das Gegenteil von „Stil als Marke“.

Ich weiß nicht unglaublich viel über Amy Lowell, so dass das hier auch kein Text über ihr Gesamtwerk werden soll. Ich habe den Newsletter von Punkt poets.org abonniert, der mir jeden Tag ein Gedicht zuschickt. Meist sind die so zeitgenössisch wie enttäuschend, politische Bekenntnisse, in einer Weise in Zeilen heruntergebrochen, dass ich mich immer frage: Warum steht der Zeilenumbruch genau da? Warum überhaupt Umbrüche? Damit man das „Gedicht“ nennen kann? Oder persönliche Bekenntnisse. Oft beides. Wenig Interesse an Form. Manchmal hat man Glück, dann entdeckt man einen besonderen Text, der wird archiviert und bei Gelegenheit das Gesamtwerk mal genauer angeschaut.

Hier soll es aber nicht um gefundene Gedichte gehen, sondern ein verlorenes. Amy Lowell gehört zu den seltenen Autorinnen und Autoren, die zu verschiedenen Anlässen immer mal wieder aus dem historischen Literaturschatz herausgekramt werden. Zugeschickt wurde mir ein Auszug aus einem längeren Großstadtgedicht, das sich interessant las. Vielleicht nicht ganz so geschliffen, aber doch in einigen Momenten „The Waste Land“ vergleichbar. Also habe ich den Text archiviert, ein wenig nach dem Band gesucht, aus dem er stammen könnte, nichts gefunden. Mir einen anderen Gedichtband von Lowell besorgt, der mich nicht wirklich überzeugt hat, und dann erstmal aufgegeben. Und als ich die Suche wieder aufnehmen wollte, war das gesuchte Gedicht bzw. die Mail, weg. Ich habe ein langes Gedicht von Lowell gefunden, „1777“, das ich aber sicher nicht archiviert hätte, obwohl es ein paar Großstadtmomente hat. Viel zu verfahren, viel zu sehr auf Dialoge fokussiert, wobei doch ein paar Bilder nicht ohne Reiz sind. Und ich habe zwei Großstadtgedichte gefunden, die aber viel zu kurz sind, als dass man daraus noch einen Auszug hätte destillieren können.

Dennoch möchte ich den Blick hier auf diese beiden Texte lenken, da sie beide für sich starke Gedichte sind und zugleich zeigen, wie fehl die Idee immer wieder geht, man könne über moderne Themen doch so oder so nicht schreiben. Ja, die beiden Texte könnten leicht von ganz unterschiedlichen Autorinnen stammen. Und das ist überhaupt kein Problem. Die Idee, ein Autor müsste einen Stil finden, ist der Kunst vom Markt aufgedrängter Bullshit. Es ist Marketinggeschwätz. Was seinen Stil finden muss, ist ein Stoff, und der muss angesichts unterschiedlicher Stoffe je nach Text eigentlich sogar sehr unterschiedlich ausfallen. Aber weil wir Schreibenden eben eigentlich Textwarenverkaufsmaschinen sein sollen, und die meisten von uns das auch mit sich machen lassen, wird das Primat des Werks sogar ganz gern gegen Schreibende gehalten: „Er/Sie hat seinen/ihren Stil noch nicht gefunden.“

A London Thoroughfare. 2 A.M.“ ist ein Gedicht, das in etwa so klingt, wie man sich ein modernes Großstadtgedicht vielleicht vorstellt. Ohne festes Rhythmus-Schema, auf den ersten Blick ungereimt, und sehr leicht dahinplaudernd. Eine persönliche Verknüpfung von Bildern, die ich hier komplett zitiere:

They have watered the street,
It shines in the glare of lamps,
Cold, white lamps,
And lies
Like a slow-moving river,
Barred with silver and black.
Cabs go down it,
One,
And then another.
Between them I hear the shuffling of feet.
Tramps doze on the window-ledges,
Night-walkers pass along the sidewalks.
The city is squalid and sinister,
With the silver-barred street in the midst,
Slow-moving,
A river leading nowhere.

Opposite my window,
The moon cuts,
Clear and round,
Through the plum-coloured night.
She cannot light the city;
It is too bright.
It has white lamps,
And glitters coldly.

I stand in the window and watch the moon.
She is thin and lustreless,
But I love her.
I know the moon,
And this is an alien city.

London entfaltet sich hier als melancholische Nacht, die von der Amerikanerin Lowell explizit zum Schluss als fremd charakterisiert wird. Relevanter noch als der „Content“ ist mir aber, wie dieser durchaus auch mit Stilmitteln gestaltet wird, die man für die Moderne gerne verwirft (obwohl fast alle wirklich gelungenen modernen Gedichte sich ihrer bedienen). Denn der Plauderton ist strukturiert, trotz aller Leichtigkeit. Zuerst durch die mehrfach wiederholten Worte „lambs“ und „moon“, die zweierlei Licht gegeneinander stellen, dann durch einige von leichter Hand eingestreute Reime: „Street“ & „feet“, die jeweils am Zeilenende der ersten Strophe einen Anker verleihen. Ebenso in der vorletzten Strophe „night“ und „bright“, das allerdings noch von „light“ in der Mitte der Zeile dazwischen gestützt wird. Ein weiteres strukturierendes Klangelement sind Asonanzen – „unreine“ Anklänge wie oben „River“, „silver“, „another“ und vielleicht auch noch „nowhere“. Klangelemente, die zugleich verbinden und leicht verstören, ein ideales Unterstreichen des melancholischen Tonfalls. Es wärmt und fröstelt uns zugleich, nicht nur ob der Szenerie, sondern auch ob der Klangstruktur. Das soll reichen, wer weiter suchen möchte, findet sicherlich noch mehr.

Konservativ wirkt dagegen „New York at Night“ auf den ersten Blick. Wie kann man Anfang des 20. Jahrhunderts denn ein Gedicht noch durchgehend reimen? Und dann auch noch über eine Großstadt! Ach was, nicht eine Großstadt, sondern New York! Und nicht einfach nur reimen. Dieses Gedicht ist komplett in einer noch einmal strengeren Form der Stanze verfasst, die ein bisschen an die Spencerstanze erinnert: ababcdcdd. Das ist ja geradezu mittelalterlich (zugegeben, in Wahrheit natürlich eher frühe Renaissance oder Spätmittelalter). Zwei Auszüge:

„A near horizon whose sharp jags
Cut brutally into a sky
Of leaden heaviness, and crags
Of houses lift their masonry
Ugly and foul, and chimneys lie
And snort, outlined against the gray
Of lowhung cloud. I hear the sigh
The goaded city gives, not day
Nor night can ease her heart, her anguished labours stay.
(…)

O Night! Whose soothing presence brings
The quiet shining of the stars.
O Night! Whose cloak of darkness clings
So intimately close that scars
Are hid from our own eyes. Beggars
By day, our wealth is having night
To burn our souls before altars
Dim and tree-shadowed, where the light
Is shed from a young moon, mysteriously bright.“

Aber es funktioniert. Wie zieht dieser strenge Bau die Stadt New York um uns zusammen! Sie bedrängt uns regelrecht und scheint doch, ob der expressiven Bilder, geradezu mit jeder Zeile aus dem Korsett ausbrechen zu wollen, was dann auch noch einmal durch die Langzeile, jeweils zum Schluss der Strophe, unterstrichen wird. Zeitweise scheint es sogar schon zu gelingen. Lowell schlägt selbst ihrem Konstrukt die Stützbalken weg, wenn sie z.B in der dritten Strophe das eigentlich Undenkbare macht und zwei unbetonte Silben als reimende Silben benutzt: Beggars und Altars. Und nicht nur das, die Klingen wieder so stark an Stars und Scars an, dass sie wie verunglückte Reime auf diese wirken. Also ababb’cb’cc. Zugleich könnte man diese vier Worte wiederum als zwei Antagonistenbündel lesen. Auch hier denke ich, muss ich die Analyse nicht weiterführen. Diese Konfrontation des Themas New York mit einem spätmittelalterlichen Reimschema ist eine sehr gelungene, die uns die Kraft, aber auch die Abgründe, dieser Stadt umso plastischer vor Augen stellt.

Wie gesagt, bisher kann ich mich noch nicht wirklich zum Gesamtwerk äußern. Da die Autorin mittlerweile gemeinfrei ist, kann man sich aber viele Texte online anschauen, und so habe ich auch schon das ein oder andere gelesen. Lowell war für mich bisher eine absolut unbekannte Autorin, und ich bin ihr auch im Studium nicht begegnet. Medien und Blogs sind heute schnell dabei, Autorinnen die Labels „vergessen“ und „wiederentdeckt“ zuzuschreiben. Das möchte ich nicht überhasten, auch wenn sie sicher gegenüber Zeitgenossen wie Ezra Pound oder T.S. Eliot, mit deren Werk Lowells Werk Überschneidungen aufweist, heute weniger rezipiert wird. Mir ist beispielsweise auch Pound im Studium nicht begegnet. Und Lowell war definitiv keine Untergrund-Autorin, sie ist Pulitzerpreisträgerin und wusste sich wohl auch ganz gut selbst zu vermarkten. Von sich selbst sprach sie lt. Wiki als „eine Mischung zwischen Dichterin und Nilpferd“. Ihr Werk wirkt relativ abwechslungsreich, auf Höhe der Techniken ihrer Zeit, dabei aber etwas flexibler, was die Stilmittel betrifft, und im Großen und Ganzen zugänglicher. Ähnlich wie bei Pound spielen wohl gerade in die Einfachheit Einflüsse chinesischer und japanischer Lyrik mit hinein. Denn einige ihrer Texte scheinen Nachdichtungen und direkte Imitationen solcher Lyrik zu sein. Aber auch in dem London-Gedicht oben könnte man durchaus solche Anklänge sehen. Der Fundus an lesenswerter Literatur, der vollkommen legal und kostenlos online steht, ist längst nahezu unendlich. Teile des Werkes von Amy Lowell dürften definitiv dazugehören. Entsprechend kann ich nur dazu motivieren, zu googeln und zu lesen.

Bild: Wiki, gemeinfrei.

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