„Modernes“ Erzählen braucht Grund: Bölls „Billard um halb zehn“.

„Billard um halb zehn“ dürfte der ambitionierteste Roman Heinrich Bölls sein. Der Text ist insgesamt untypisch für den Autor, eine Art Familienroman mit drei Figuren im Fokus: Sohn, Vater, Großvater. Alle drei sind Architekten. Der erste hat als ganz junger Mann einen Wettbewerb gewonnen und eine Abtei gebaut, der zweite hat sie als Sprengmeister im Zweiten Weltkrieg zerstört, und der dritte denkt darüber nach, sie wieder aufzubauen. Das Ganze kreist grob um drei Situationen: die Vorbereitung einer Familienfeier zum 80. des Ältesten, das Großreinemachen im eigenen Büro und die Billardspiele des Mittleren im Hotel, jeweils – klar – um Punkt halb 10.
Es ist brutal schwierig, sich zusammenzuklauben, worum es eigentlich gehen soll. Denn „Billard um halb 10“ ist Bölls Versuch, einen wirklich modernen Roman vorzulegen. Lange Gedankenströme wechseln sich mit kürzeren Erzählpassagen ab. Die Erzählpassagen sind in einer Art indirekt freiem Stil geschrieben, und Böll gibt uns praktisch keine Marker dafür, wer gerade erzählt. So liest sich das in den ersten 30 bis 50 Seiten gut, und man denkt, das könnte ja tatsächlich etwas werden. Ab dann habe ich jedoch immer stärker das Interesse verloren.

Warum? Man hat nicht das Gefühl, dass Böll sich Rechenschaft darüber abgelegt hat, warum er diesen Roman so erzählt. Ein tieferes Gefühl für seine Stilmittel geht dem Autor ab. Das Hauptproblem: Alles klingt gleich, egal durch wessen Augen wir gerade schauen. Ich lese die Erzählungen der drei gutbürgerlichen Hauptfiguren sowie einiger proletarischer Nebenfiguren, die als Fokusfiguren der indirekt freien Passagen verwendet werden. Es fehlen nicht nur direkte Markierungen, die vielleicht helfen würden, sich wenigstens klarzumachen, wer gerade erzählt (z.B. mal die ein oder andere Anrede beim Vornamen). Nein, wenn der Erzähler angesprochen wird, dann immer beim gemeinsamen Nachnamen. Es fehlen auch indirekte Orientierungspunkte, etwa im Sprachstil oder in der Form des sich Erinnerns. Für Böll scheint der Gedankenstrom vor allem eine Möglichkeit, so viele Informationen wie möglich auf 200 Seiten zu pressen. Und damit kommen wir zum zweiten Problem. Alle Passagen klingen nicht nur gleich, sondern spätestens im zweiten Drittel des Romans zunehmend monoton:

Endlos gereihte Aufzählungen von Erinnerungen, Eindrücken, Geschehnissen. Da ist kein Fluss, kein Rhythmus, definitiv keine Melodie. Nichts, was sprachlich hilft, sich durch den Text tragen zu lassen. Erholung gibt es höchstens mal in Dialogen, doch selbst da nicht immer. Texte von Autoren wie Joyce, Marquez, Morrison und so weiter sind sicherlich nicht einfach und gerade beim ersten Lesen auch Arbeit. Vielleicht verliert man dann und wann die Orientierung. Aber schon bei der Erstlektüre sind sie einfach sprachlich so lohnend, und auch die Meisterschaft der Konstruktion scheint sicherlich bereits auf. Und hier kommt Bölls drittes Problem. Auf dieser Ebene wirkt „Billard um halb zehn“ auch nicht gerade wohlkomponiert, sondern als habe der Autor aus anderen Gedankenstrom-Romanen den Schluss gezogen, dass man da einfach nur irgendwie die Informationen reinhauen muss. Es gibt gelungen komponierte Passagen, etwa das erste Billardspiel, in dem sich die Rückblenden organisch aus dem Gespräch mit einem Hotelmitarbeiter entfalten, und besonders die Gedanken an den Krieg und den Niedergang der Abtei und überhaupt das Verfließen der Lebenszeit, was immer wieder mit der vom Fenster sichtbaren Kirche verknüpft wird. Aber später sind von einer solch klaren Struktur allerhöchstens noch Rudimente vorhanden, es wird wild in den Zeiten gesprungen.

Zuletzt muss man konstatieren: Diese Grobheit, diese Unkonzentriertheit, diese Zerfahrenheit zieht sich bis in kleinere sprachliche Elemente wie Metaphern und sogar in den Titel.

Ein Beispiel für Metaphern: Ein geflügeltes Wort im Text ist „vom Sakrament des Büffels essen“. Das soll wohl in etwa bedeuten, dass man sich mit der Masse gemein macht, die andere fertigmacht, ein Mitläufer ist. Später dann vielleicht ein Nazi-Mitläufer oder sogar Nazifunktionär. Es gibt einige Gegenbilder dazu, „ein Lamm sein“, „die Lämmer weiden“ und Ähnliches. Das soll wohl für die stehen, die außen vor bleiben, die sich nicht schmutzig machen, die in sich selbst ruhen. Ich bin mir nicht sicher, was genau mit „Büffel“ gemeint ist. Naheliegend wäre der Wasserbüffel oder der Kaffernbüffel. Angesichts der deutschen Karl-May-Begeisterung könnte es auch um den Bison im „Wilden Westen“ gehen. Nun sind die alle zwar Herdentiere, aber nicht unbedingt für ihre Gewalttätigkeit und besonders nicht für ihre Gewalttätigkeit gegen schwächere Gegner bekannt. Sollte Böll an Stiere gedacht haben, tatsächlich ein öfter für Faschisten genutztes Symbol? Die aber sind, selbst wenn wir ignorieren, dass Tiere sich natürlich nur gegen Menschen wenden, wenn sie provoziert werden, in der Symbolik eher Einzelkämpfer, oder nicht? Und kämpfen zudem vor allem, wenn provoziert. Und was sind Lämmer, also kleine Schafe, denn anderes als das Herdentier par excellence, und das dann auch noch sozusagen in der besonders schwachen und zu verhätschelnden Keimform? Der für die Aussagen des Buches so wichtige Antagonismus Büffel-Lamm geht nicht auf.

Und der Titel? Nun ja, man könnte bestreiten, dass er sich überhaupt auf etwas Wichtiges bezieht. Ein Titel sollte doch so halbwegs irgendwie die Essenz des Buches fassen, das gilt meines Erachtens umso mehr, je extravaganter der Titel ist. Nehmen wir an, es gäbe ein Buch namens „Ulysses“, das sich vielleicht im ersten Viertel kurz um eine Art Irrfahrt dreht, aber danach geht es um ein Kammerkonzert. Wäre da nicht vielleicht „Das Konzert“ ein besserer Titel als „Ulysses“?Dieser Roman, der ganz spezifisch „Billard um halb zehn“ heißt, dreht sich, dann und wann, um dieses besagte Solo-Billardspiel vor allem im ersten Viertel bis höchstens Drittel. Man erwartet, dass aus diesem Billard eine wiederkehrende Aktivität wird, dass das Billardspiel vielleicht irgendwie leitmotivisch eingesetzt wird, dass sich vielleicht sogar die Figuren im Roman in ihren Beziehungen analog zu einem großen Billardspiel lesen lassen kann. Zum Letzten mag man sich zwingen können, für zwingend halte ich es nicht. Aber definitiv wird, nachdem wir das erste Billardspiel hinter uns haben, nie wieder „on screen“ Billard gespielt, und schon gar nicht um halb zehn. Der Roman hätte genauso gut „Aufräumen eines Büros um 12:45 Uhr“ heißen können oder „Ausflug ins Umland am späten Nachmittag“, und beides wäre vom Umfang her, der auf diese Tätigkeiten verwandt wird, ähnlich berechtigt. Ihr mögt das für kleinkariert halten, aber es sind die vielen kleinen Probleme, die diesen Roman zu einem großen Problem machen.

All das ist schade, denn „Billard um halb zehn“ hat vor allem zu Beginn einige stärkere Momente, und bis dahin war ich geneigt, den Roman als durchaus lohnende Lektüre zu empfehlen. Es gibt sprachlich starke Passagen, in denen Brutales mit Schönem kontrastiert wird. Da ist die bereits erwähnte zumindest zu Beginn gelungene Struktur, da ist die Engführung des klassischen Familienromans mit der Zäsur des Zweiten Weltkrieges samt der hier immerhin einmal erwähnten Vernichtung der Juden. All die großbürgerlichen Träume sind da, die frühe Heirat, das Denken in Dynastien, die Frage, wie Kinder und Enkel das Vermächtnis weiterführen. Aber zugleich auch die Erschütterung des Vermächtnisses, nein, die Erschütterung der reinen Idee des Vermächtnisses durch die Verstrickungen jeden Vermächtnisses in Verbrechen des Nationalsozialismus.

Und ja, sehr wohlwollend könnte man nun sagen: Aus dieser Mischung müsste doch am Ende dann genauso ein chaotischer, kaputter Roman werden. Mag sein. Aber gut muss er sein. Verdammt noch mal, gut muss er sein. Ich kann nicht einfach Seiten über Seiten Aufzählungen auskippen und dann sagen: Nach dem Nationalsozialismus muss man ja so schreiben. Einfach nur etwas schwer Lesbares zu schreiben, das ist nicht wirklich eine künstlerisch adäquate Reaktion auf den NS, wenn es eine solche geben sollte. Adornos später eingeschränkte Aussage besagte dann ja auch nicht, dass man nach Auschwitz nur noch schlechte Gedichte schreiben darf, sondern eher, dass man einfach mal das Maul halten sollte.

Ob das den deutschen Autoren aus der Riege der Trümmerliteraten überhaupt möglich gewesen wäre? Ich bezweifle das und lasse hier zum Schluss einen Gedanken stehen, den ich schon einmal über andere Trümmerliteraten niedergeschrieben habe, die versuchten, an das Vermächtnis der klassischen Moderne anzuschließen:

Vielleicht ist das der tiefere Sinn hinter Worten wie ‚Trümmerliteratur‘. […] Dass die Deutschen, gerade die, die sich absetzen wollten von der Kontinuität des Nationalsozialismus, erst sprechen lernen mussten, eine Sprache gewinnen, die nicht von Gewalt und Vernichtung allein durchzogen ist, die diese aber auch nicht plump verdrängt.

Bild: Pixabay.

2 Kommentare zu „„Modernes“ Erzählen braucht Grund: Bölls „Billard um halb zehn“.

  1. Wunderbar … ich habe mich beim Lesen der Besprechung köstlich amüsiert. Erinnerte mich auch an die Kritik, dass „Ansichten eines Clowns“ auch „Ansichten eines Bürokaufmannes“ heißen könnte, da das Milieu des Clowns gar keine Rolle spielte. Ich bin dennoch geneigt, allein aus sprachexperimentellen Gründen, dieses Buch von ihm zu lesen. Jetzt sitzt mir durch dich sogar der Schalk im Nacken!

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..