Die, die von außen kommen. Die, die zu viel wollen. “Schneesturm im Hochsommer” von Meinrad Inglin offenbart einfragwürdiges Weltbild.

Peter von Matt Meinrad Inglin sei “einer der bekanntesten Unbekannten [‚Schriftsteller]”, teilt der schweizer Limmat-Verlag mit, wo jetzt eine Sammlung seiner Erzählungen erscheint. “Seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten.”

Ich kannte noch nicht einmal den Namen des Schweizer Schillerpreisträgers und ihr könnt mir glauben, wäre ich über diesen Namen schon einmal gestolpert, hätte ich ihn nicht vergessen.

“Schneesturm im Hochsommer” ist ein schmaler Band mit Erzählungen, selten länger als 20 Seiten, oft irgendetwas zwischen 2 und 10. Also genau das, was ich eigentlich besonders gern mag. Nicht aus einer rein persönlichen Schrulle heraus, sondern weil sich unter den kurzen Texten oft die größte Kunst entdecken lässt. Einerseits weil ausufernde Werke sehr viel leichter scheitern und andererseits weil kurze Texte leichter beiseite gewischt werden und daher halb oder ganz vergessen werden.

Der Band hebt auch durchaus recht überzeugend an. „Die entzauberte Insel“ ist einer der längeren Texte und malt ein sehr stimmungsvolles Szenario aus, in dem ein paar noch recht junge Männer, ich würde sagen an der Grenze zur Pubertät, sich regelmäßig auf eine Insel zurückziehen, wo sie angeln können, Baden, und ihre kleinen Hierarchien in aus kämpfen. Die Szenerie ist immer wieder sehr bildhaft beschrieben:

“Ein blauer Sommermorgen strahlte über dem See, auf der Insel war es still, an ihren laubgrünen, bemoosten und steingrauen Ufersäumen stand da und dort ein ruhig fischender Jüngling, oder einer trat aus dem Schatten der Bäume ins Licht und leuchtete auf, ein anderer wandelte im Innern herum, und es schimmerte von ihm aus Gebüschlücken wie aus der Tiefe des Waldes von Spänen frischgeschälter Stämme. Sie fischten geduldig, wechselten manchmal ihre Plätze und blieben heiter und glücklich, obwohl sie nichts mehr fingen.”

Die Figuren erinnern derweil an Schweizer Äquivalente zu Mario Vargas Llosas Halbstarken aus „Die Anführer“, aber man kennt sie auch aus jeden klassischen Jugendfilm. Symbolisch wird das Szenario aufgeladen, indem die Jungs eine wohl schon relativ alte Ringelnatter entdecken, die regelmäßig zur Insel schwimmt und sich entgegen ihrem ersten Impuls entscheiden, diese nicht zu töten. Gewissermaßen der durchaus bissige Geist der Natur, den man nach der ersten Angstreaktion respektiert.

Und dann bringt einer der Jugendlichen ein Mädchen mit und natürlich sorgt das für Chaos. Alle wollen sie beeindrucken, die Jungs geraten in Streit, wer versuchen darf, sie zu seiner Freundin zu machen und schließlich tritt das Mädchen auf die Natter und einer der Kavaliere erschlägt das Tier im Affekt und entweiht damit symbolisch die Insel. Im scheinbaren Finale zerstreut die Clique sich und die Insel sieht für längere Zeit keine Menschenseele. Dann kehrt der schüchterne Sebastian zurück, der sie aus den Liebeshändeln herausgehalten hat. Und bald ist die Clique wieder glücklich vereint.

Diese Handlung ödet mich ein wenig an. Ich will nicht sagen, dass es problematisch ist, eine solche Geschichte zu erzählen, denn solche Dinge geschehen und warum also sie nicht literarisch verarbeiten. Man mag sogar eine Lehre daraus ziehen, denn solche Dinge geschehen wohl umso eher in Gesellschaften, in denen der Kontakt zwischen den Geschlechtern stark reduziert ist. Natürlich war auch in meiner Jugend das plötzlich erwachenden Interesse fürs andere Geschlecht konfliktreich, aber reine Jungscliquen, die das hätte zerstören können, gab es in diesem Maße nicht mehr. Was an der Geschichte stört ist einerseits, dass sie schon so oft erzählt wurde, wenn es auch in diesem Fall sprachlich in besonders gelungener Weise geschieht. Noch mehr allerdings stört, und das kollidiert nachteilig mit der sprachlichen Gestaltung, wie holzschnittartig die Handlung entwickelt wird. Die Darbietung ist poetisch, die Entwicklung dagegen dezidiert unpoetisch – Klischee. Die Störende ist ein Mädchen. Die störende kommt von außen, nicht nur auf die Insel, sondern auch aus einer gesellschaftlich gehobeneren Sphäre. Sie ist im Vergleich zu den Jungs geradezu Cosmopolit. Es gibt dann auch keine überraschende Wendung. Der Gedanke, dass die Neue einfach dazugehören könnte etwa scheint im Verlauf der Geschichte nicht einmal auf, um dann vielleicht tragisch durchgestrichen zu werden, da das die emotionalen Fähigkeiten der Gruppe übersteiege. Es ist immer nur eine Lösung denkbar: Das Mädchen als Mädchen ist destruktiv und ihre Entfernung aus der Gemeinschaft stellt den idyllischen Zustand wieder her.

Ich betone das mit dem zu von außen Kommen, da mir scheint es macht eine generelle Stoßrichtung in den Erzählungen Inglin aus, die diese herabziehen würde, selbst wären sie sprachlich und strukturelle alle auf dem Niveau von „Die entzauberte Insel“.

Das sind sie allerdings nicht. Da wäre etwa an der Text „Drei Männer im Schneesturm“, der ein leidlich spannendes „Verloren im Gebirge“-Szenario ausbreitet, spannend vor allem, weil solche Szenarien eigentlich immer spannend sind. Eingeleitet wird das von der hölzernsten nur denkbaren Exposition, dann wird der Rest der Geschichte wie ein faktischer Tatsachenbericht abgespuhlt. Die Katastrophe führt allerdings in ein Dilemma: Nur einer der Bergsteiger bleibt unverletzt und kann höchstens einen der Kameraden retten. Einer der Kameraden bietet ihm Geld, und da rettet er den anderen. Auch wenn diesmal der Retter ein Fotograf ist, der von außen ins Dorf gekommen ist, der „Böse“, auch wenn der Fotograf ihn nicht moralisch verurteilen möchte, wieder der, der das Urteil der Natur nicht hinnimmt und versucht sich einen Vorteil zu verschaffen. Auch wieder der, der gesellschaftlich besser dasteht und sich so ein Angebot leisten kann. Dann ist da noch die Geschichte „Zwei hochmütige Seeforellen“, die davon hören, dass es im Meer fliegende Fische geben soll und herausfinden möchten, wie sie selbst fliegen und die Welt sehen können. Nachdem einige Fische sie an andere weiter verwiesen haben, weist der Hecht sie an, diese kleinen Würmer zu schlucken, die an Haken baumeln. Auf diese Weise fliegen die Forellen, die sich über ihr natürliches Umfeld erheben wollten, direkt in die Pfanne.

Man sieht: das ist ein Leitmotiv bei Inglin, zumindest in diesem Band. Menschen, die von außen kommen, stören gesellschaftliche Ökosysteme, Menschen, die sich aus ihrem natürlichen Umfeld erheben wollen, bekommen auf die Nase. Und das ist regelmäßig so erzählt, dass wir ein Einverständnis des Erzählers mit diesen Entwicklungen voraussetzen müssen. Wohl Teil eines größeren, ehrlich gesagt sehr gruseligen Schemas, denn bei Wiki heißt es: „Inglin wurde als Autor realistischer Romane bekannt, die für ihre hintergründige Darstellung gelobt wurden und meist das Schweizer Alltagsleben porträtierten, indem sie das urwüchsige Bauerntum kontrastierend einer wurzel- wie seelenlosen Zivilisation gegenüberstellen.“

Stimmte das, wäre es ein geradezu völkischer Topos.

Auch erzählerisch ist der Band sehr durchwachsen. Im Gegensatz zum tatsächlich erzählerisch entwickelten „Die entzauberte Insel“ sind andere Texte eher Anekdoten, ohne großes Spannungsmoment, in dem zum Schluss die Moral enthüllt wird. Anders als weitere Wiederentdeckungen, die der Limmat-Verlag zuletzt präsentiert hat, etwa Adelheid Duvanel, eine Enttäuschung.

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