Mehr als der „Längste Liebesbrief der Welt“. „Orlando“ von Virginia Woolf.

„Orlando“ dürfte nach den beiden „großen“ bis heute der bekannteste Roman von Virginia Woolf sein. Er war bei Erscheinen beliebt und über die letzten Jahrzehnte hat der Text dann aus inhaltlichen Gründen auch noch immer mal wieder ein Revival erlebt.

„Orlando“ erzählt von Orlando, einem Adligen des 17. Jahrhunderts, der einige Abenteuer mit Frauen hat, aber vor allem dichten möchte. Eine Zeit lang reist er in der Gesellschaft von Fahrenden Gruppen in Osteuropa herum und wird dort über Nacht zur Frau verwandelt. Orlando kommt schließlich zurück nach England, wo sie feststellen muss, dass ihr Vermögen an ihre Erben bzw. andere Zweige der Familie übergegangen ist. Sie durchlebt, plötzlich langlebig geworden, verschiedene Phasen und Epochen der britischen Gesellschaft bis in unsere Zeit. Auch an Geld kommt sie wieder, und zwar durch trickreiche Wetten.
Der Roman fällt stilistisch komplett heraus aus Virginia Woolfs Werk. Die hatte zuvor mit „To the Lighthouse“ und „Mrs. Dalloway“ zwei der formvollendetsten und gerade auch in der Form modernen Romane vorgelegt. „Orlando“ dagegen ist sehr traditionell erzählt. Anfangs mag man glauben, der Stil solle sich der weit entrückten Zeit anschmiegen, doch Woolf macht sich nicht die Mühe, ähnlich wie Joyce im Oxen of the Sun Kapitel verschiedene Stile der englischen Literaturgeschichte zu imitieren. Das gereicht dem Roman aber eher zum Vorteil, solche Spielereien machen Texte ja fast unlesbar. Woolf sagt, sie habe „Orlando“ leicht niedergeschrieben, es sei überhaupt eine leichte Lektüre, und das stimmt. Der Text liest sich angenehm, wartet auch mit Passagen von sprachlicher Schönheit auf, etwa:

“It was an evening of astonishing beauty. As the sun sank, all the domes, spires, turrets, and pinnacles of London rose in inky blackness against the furious red sunset clouds. Here was the fretted cross at Charing; there the dome of St. Paul’s; there the massy square of the Tower buildings; there like a grove of trees stripped of all leaves save a knob at the end were the heads on the pikes at Temple Bar. Now the Abbey windows were lit up and burnt like a heavenly, many-coloured shield (in „Orlando“’s fancy); now all the west seemed a golden window with troops of angels (in „Orlando“’s fancy again) passing up and down the heavenly stairs perpetually. All the time they seemed to be skating on fathomless depths of air, so blue the ice had become; and so glassy smooth was it that they sped quicker and quicker to the city with the white gulls circling about them, and cutting in the air with their wings the very same sweeps that they cut on the ice with their skates.”

Und er ist überdies auch nicht besonders lang. Spannungsmomente fehlen allerdings doch manchmal ein bisschen sehr, doch wird der Roman meist ordentlich von den Situationen getragen, in die Orlando gerät, wobei manchmal sehr witzige Satire auf die englische Gesellschaft in verschiedenen Epochen im Mittelpunkt steht. Wer mit der Erwartungen einer modernen Transition-Geschichte zu „Orlando“ kommt, dürfte vielleicht enttäuscht werden. Grob über die erste Romanhälfte, in der Orlando ein Mann ist, äußert er niemals, sich irgendwie in dieser Rolle nicht wohl zu fühlen, die Verwandlung kommt ganz von außen über ihn. Allerdings ist „Orlando“ dann auch nicht unglücklich, zur Frau verwandelt worden zu sein, zumindest nicht aus inneren Gründen. Allein die Anforderungen, die die Gesellschaft an Frauen stellt, machen ihr teilweise große Probleme. Das ist durchaus auch im Sinne von Lektionen an jemanden inszeniert, die die Welt bisher aus den Augen eines Mannes sah:

“She remembered how, as a young man, she had insisted that women must be obedient, chaste, scented, and exquisitely apparelled. “Now I shall have to pay in my own person for those desires,” she reflected; “for women are not (judging by my own short experience of the sex) obedient, chaste, scented, and exquisitely apparelled by nature. They can only attain these graces, without which they may enjoy none of the delights of life, by the most tedious discipline. There’s the hairdressing,” she thought, “that alone will take an hour of my morning; there’s looking in the looking-glass, another hour; there’s staying and lacing; there’s washing and powdering; there’s changing from silk to lace and from lace to paduasoy; there’s being chaste year in year out….””

Und es steigert sich in teils sehr bissige und witzige Gesellschaftskritik:

“The chief charges against her were (1) that she was dead, and therefore could not hold any property whatsoever; (2) that she was a woman, which amounts to much the same thing;”

Das Verhältnis zum Thema Sex und Gender ist mehrdeutig. Einerseits macht der auktorial auftretende Erzähler durchaus starke und feste Unterschiede:

“The difference between the sexes is, happily, one of great profundity. Clothes are but a symbol of something hid deep beneath.”

Andererseits wird über Orlando gesagt:

“The task is made still more difficult by the fact that she found it convenient at this time to change frequently from one set of clothes to another. Thus she often occurs in contemporary memoirs as “Lord” So-and-so, who was in fact her cousin; her bounty is ascribed to him, and it is he who is said to have written the poems that were really hers. She had, it seems, no difficulty in sustaining the different parts, for her sex changed far more frequently than those who have worn only one set of clothing can conceive; nor can there be any doubt that she reaped a twofold harvest by this device; the pleasures of life were increased and its experiences multiplied. For the probity of breeches she exchanged the seductiveness of petticoats and enjoyed the love of both sexes equally.”

Letztendlich weist die Erzählung dann theoretische Spekulationen über das Thema mit einer gewissen spielerischen Leichtigkeit von sich:

“Many people, taking this into account, and holding that such a change of sex is against nature, have been at great pains to prove (1) that Orlando had always been a woman, (2) that Orlando is at this moment a man. Let biologists and psychologists determine. It is enough for us to state the simple fact; Orlando was a man till the age of thirty; when he became a woman and has remained so ever since. But let other pens treat of sex and sexuality; we quit such odious subjects as soon as we can.”

Gegen Ende findet Orlando Eheglück mit einem Mann, der sich gerade so gut mit ihr versteht, weil sie praktisch “ein Mann” sei, während er Orlando gefällt, weil er praktisch “eine Frau” sei. Wenn man das Verhältnis des Textes zum Thema Geschlecht zusammenfassen möchte, wäre es vielleicht so (ohne Gewähr, dass nicht etwas übersehen wurde): „Für die meisten Menschen ist Geschlecht relativ rigide, wobei unklar bleibt, wie viel davon Biologie ist, wie viel Rolle, also sozial Erlerntes, aber manche Menschen gehen in diesem System nicht auf, sind deutlich fluider, und die gesellschaftliche Seite von Geschlecht ist für sie entsprechend eine Zumutung.“
Allerdings lässt sich auch aufgrund der Erzählperspektive keine Aussage wirklich eindeutig nehmen. Die kommt zwar auktorial, im Tonfall oft sogar klassisch auktorial daher, wie so ein ganz gemütlicher bürgerlicher Roman. Aber was da auktorial erzählt wird, widerspricht sich häufiger, während das Fantastischste als ganz normal genommen wird (etwa, dass Orlando viele Jahrhunderte lebt). der Roman selbst nennt sich eine „Biografie“, was natürlich auch ein Spiel mit Erwartungen ist und entsprechend ist schwer zu greifen welche, wenn überhaupt irgendwelche, Perspektiven uns „Orlando“ genau nahe legen möchte. Aber genau dieses zum Nachdenken bringen statt Lösungen zu servieren macht starke literarische Texte aus.

Virginia Woolfs persönliche Intention mit diesem Roman dagegen ist relativ bekannt, sie wollte wohl vor allem ihrer langjährigen Geliebten Vita Sackville-West ein Denkmal setzen, was halb der Text auch schon als der längste Liebesbrief der Welt bezeichnet wurde. Und so dürfte für sie auch vor allem wichtig gewesen sein, durch den Geschlechtswandel Orlandos der Gesellschaft vor Augen zu führen, wie viele absurde Erwartungen an Frauen gestellt werden. Damit steht der Text auch in einer durchaus bereits langlebigen Tradition solcher Geschlechtsverwandlungstexte, aus denen Figuren und mit ihnen das Publikum bestimmte Lektionen lernen sollen. Mindestens bis zur Verwandlung des Tiresias in Ovids Metamorphosen lässt sich das zurückverfolgen, und die gehen ja wiederum selbst auf ältere Texte zurück. Neu ist freilich die Art der Lektion und dass Orlando so problemlos das Geschlecht wechselt.
Allerdings wäre vor dem Hintergrund dieser Intention ein wenig rätselhaft, warum Woolf Orlando keine gleichgeschlechtliche Beziehung erleben lässt. Aber vielleicht wäre das dem Publikum nicht zuzumuten gewesen bzw. der Roman hätte nicht erscheinen können? (die oben zitierte Passage widerspricht dem nur scheinbar, einerseits weil nie gesagt wird, wann Orlando welche Beziehungen hatte, andererseits weil etwaige gleichgeschlechtliche Beziehungen zumindest nicht gezeigt werden).
Obligatorisch die Warnung davor, die Intention der Autorin als zu wichtig zu nehmen, wenn es darum geht einen Text zu analysieren. Das macht etwa die Wikipedia in einer ausführlichen Analysepassage, die den Text vor allem vor dem Hintergrund der Beziehung zu Vita Sackville-West liest. Ein literarischer Text aber ist prinzipiell offen und enthält nur, was tatsächlich im Text steht.

„Orlando“ ist auch nach knapp 100 Jahren noch eine spaßige Lektüre, man wird freilich mit einigen Passagen zurechtkommen müssen, die gerade für einen damals progressiven Roman heute sehr antiquiert klingen. Die Menschen, die ich oben als „Fahrende“ bezeichnet habe, werden im Roman natürlich nicht als Fahrende bezeichnet und erst recht nicht mit den Namen ihrer Ethnien, auch das N-Wort hat einen Auftritt. Und wer mit der Erwartung an den Roman herangeht, auch einen 2024 noch progressiven Text zum Thema Gender anzutreffen, wird zumindest von ein paar Passagen vielleicht vor den Kopf gestoßen.
Das Gleiche gilt für Lesende, die irgendeine Logik bzw. irgendwelche Regeln bezüglich der fantastischen Geschehnisse erwarten. „Orlando“ wird zur Frau verwandelt. Okay. Sie lebt nun auch viele hundert Jahre? Na gut, von mir aus. Alle anderen sterben wie normale Menschen. Macht Sinn. Aber einige ihrer Weggefährten trifft sie über die Jahrhunderte immer wieder, obwohl die niemand verwandelt hat? Akzeptiert es einfach, diese Begegnungen sind für den jeweiligen Effekt gewählt, um etwa eine bissige Literaturkritik anbringen zu können, sie folgen keiner weiteren Logik. Für Virginia Woolf war „Orlando“ anscheinend in erster Linie ein großer Spaß, und so am besten liest man den Text dann auch auf diese Weise.

Bild: wiki, gemeinfrei. (Philip de László: Victoria (Vita) Mary Sackville-West).

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