Perfekte Polyphonie? „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf.

„Mrs. Dalloway“ ist der erste der beiden Romane von Virginia Woolf, dank derer diese von einer Schriftstellerin, die man sich vielleicht gemerkt hätte, zu einer wurde, an der nicht vorbeikommt, wer sich mit moderner Literatur bzw. Literatur überhaupt beschäftigt. Und das aus historischen wie auch aus ästhetischen Gründen. Dabei hat Woolf weder den Gedankenstrom noch den indirekt freien Stil “erfunden”; James Joyce‘ „Ulysses“ erschien ab 1918, und da Woolfs Verlag das Manuskript vorlag, sollte sie den Text gekannt haben, ehe sie auch nur den ersten Roman abschloss, der mit diesen Techniken experimentierte, „Jacob’s Room“. Natürlich sollte man auch Joyce diese Erfindung nicht zuschreiben: Grob ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurden einfach immer häufiger bereits existierende Erzähltechniken auf bisher nie dagewesene Weise radikalisiert. Doch mit „Mrs. Dalloway“ perfektionierte Woolf die Techniken der modernen Stimmführung im erzählten Text in bis heute unerreichter Weise und es dürfte sich weiterhin um das eleganteste Stück komplexer Literatur handeln, das je verfasst wurde.
Woolf war gegenüber Ulysses übrigens sehr kritisch. Da ich das englische Zitat nicht finde, hier aus der deutschen Wikipedia:

“Überdies war Virginia vom Inhalt nicht überzeugt und schrieb am 23. April an Lytton Strachey: „Zuerst ist da ein Hund, der p–t, – dann ist da ein Mann, der furzt, und man kann sogar bei diesem Thema monoton sein – außerdem glaube ich nicht, daß seine Methode, die hoch entwickelt ist, sehr viel mehr bedeutet als das Auslassen der Erklärungen und das Einfügen von Gedanken in Gedankenstrichen: Deshalb glaube ich nicht, daß wir es machen werden.“”

Eine Kritik, die einiges richtiges trifft, aber vielleicht wiederum etwas zu harsch ist. Ulysses ist als Ganzes ein Monstrum, keine Frage, zu oft dominiert das Ziel, etwas nie dagewesenes zu schaffen, das Primat der Erzählung. Aber kaum ein Text früher oder später hat solche wegweisenden und erinnerungswürdigen Passagen geschaffen wie etwa das Circe-Kapitel oder die lautmalerische Poesie aus den Sirenen (Woolf hat die große Bedeutung des literarischen Wurfs von Ulysses an anderen Stellen später allerdings auch anerkannt).

„Mrs Dalloway“ folgt bekanntlich Clarissa Dalloway durch einen Tag, der mit einer großen Party abschließt, die sie organisiert. Alles beginnt mit dem berühmten ersten Satz “Mrs. Dalloway said she would buy the flowers herself”, dann folgen wir zuerst Clarissa durch London und lernen den Kriegsversehrten Septimus Warren Smith kennen. Clarissas Jugendliebe Peter Walsh kehrt aus Indien zurück und besucht sie am Vormittag. Wir folgen Peter durch die Stadt, halten uns mittags in einer Gesprächsgruppe rund um Clarissas Mann Richard Dalloway auf, lernen eine Gouvernante kennen, die ein gespanntes Verhältnis zu Clarissa hat, während Clarissa fürchtet, dass sie mit ihrer christlichen Pietät Clarissas Tochter Elisabeth verzieht. Immer wenn eine dieser Figuren erneut auf Septimus trifft, wechseln wir zu ihm hinüber, ehe die große Party beginnt, auf der auch Peter Walsh zu Gast ist.

Das alles Entscheidende an dieser Geschichte, die sich scheinbar fast durchgehend mit Kleinigkeiten beschäftigt, ist die Komposition. Die Erzählung wechselt mit äußerster Leichtigkeit von Figur zu Figur, ohne dass, wie etwa im an „Mrs. Dalloway“ angelehnten Roman „Während wir feiern„, immer bestimmte Signalsätze geschaffen werden, die diese Überleitungen ermöglichen. Woolf macht es einfach; sie führt, viele Jahrzehnte bevor man im Film auf diese Idee kommt, die Perspektive wie eine freie Kamera, die Figuren aus verschiedenen Entfernungen folgen kann und quasi bis in den Kopf und die Gedanken hineinzoomt. Gleichzeitig hat man nie das Gefühl, einer auktorialen Erzählung beizuwohnen, hinter der der Erzähler, in diesem Bild also die Kamera, zusätzlich noch eine eigene Meinung hat und auch jederzeit von einer Szene plötzlich nach woanders schneiden könnte. Ortswechsel, ohne dass sich Figuren und Ortschaften berühren, geschehen nur an den wenigen Stellen, an denen ein neues Kapitel oder besser, ein neuer Textblock, anfängt. An einigen Stellen wird die Erzählung weiter aufgefächert, das geschieht etwa durch ein Ereignis, das verschiedene Leute aus unterschiedlichen Perspektiven miterleben. So beobachtet Clarissa einige Seiten nach Beginn ein Auto, in dem ein hoher Würdenträger kutschiert werden muss, der Prinz von Wales, der Premierminister oder jemand ähnliches, und dann werden die Gedanken und Erlebnisse verschiedener Personen in der Stadt am Beobachten dieses Autos aufgehängt. Des Weiteren gliedert das Blumenmotiv aus dem ersten Satz leitmotivisch den Text, sowohl durch die häufigere Wiederholung des Wortes Blumen in verschiedenen Kontexten, als auch durch Spezifizierungen in bestimmten Szenen, in denen Personen und Ereignissen bestimmte Blumen (Rosen, Dahlien und so weiter) zugeordnet werden. Ein zweites Leitmotiv sind die Glocken von Big Ben sowie weiterer, dazu leicht versetzt schlagender Kirchen, die uns das Verstreichen der Zeit spürbar machen, ein wichtiges Element an einem Tag, der sich unerbittlich auf die große Party zubewegt.

Schwieriger als beispielsweise im frühen Roman „The Voyage Out“ ist es, auf bestimmte sprachliche Schönheiten hinzuweisen, so eng verknüpft ist alles im Text: das Denken, die Dialoge, das Erleben der Umwelt, und nicht zuletzt auch Erinnerungen an Kindheit und Jugend, die immer wieder in die Gegenwart des Textes drängen. Vielleicht gibt diese Passage gegen Ende einen ganz guten Eindruck:

““Yes,” said Sally, “when I heard Clarissa was giving a party, I felt I couldn’t not come—must see her again (and I’m staying in Victoria Street, practically next door). So I just came without an invitation. But,” she whispered, “tell me, do. Who is this?” It was Mrs. Hilbery, looking for the door. For how late it was getting! And, she murmured, as the night grew later, as people went, one found old friends; quiet nooks and corners; and the loveliest views. Did they know, she asked, that they were surrounded by an enchanted garden? Lights and trees and wonderful gleaming lakes and the sky. Just a few fairy lamps, Clarissa Dalloway had said, in the back garden! But she was a magician! It was a park…. And she didn’t know their names, but friends she knew they were, friends without names, songs without words, always the best. But there were so many doors, such unexpected places, she could not find her way. “Old Mrs. Hilbery,” said Peter;”

Und hier spürt man auch deutlich die Düsternis, die die relativ heile Welt der High-Society-Figuren immer wieder subtil bedroht:

“She walked to the window. It held, foolish as the idea was, something of her own in it, this country sky, this sky above Westminster. She parted the curtains; she looked. Oh, but how surprising!—in the room opposite the old lady stared straight at her! She was going to bed. And the sky. It will be a solemn sky, she had thought, it will be a dusky sky, turning away its cheek in beauty. But there it was—ashen pale, raced over quickly by tapering vast clouds. It was new to her. The wind must have risen. She was going to bed, in the room opposite. It was fascinating to watch her, moving about, that old lady, crossing the room, coming to the window. Could she see her? It was fascinating, with people still laughing and shouting in the drawing-room, to watch that old woman, quite quietly, going to bed alone. She pulled the blind now. The clock began striking. The young man had killed himself; but she did not pity him; with the clock striking the hour, one, two, three, she did not pity him, with all this going on. There! the old lady had put out her light! the whole house was dark now with this going on, she repeated, and the words came to her, Fear no more the heat of the sun. She must go back to them. But what an extraordinary night! She felt somehow very like him—the young man who had killed himself. She felt glad that he had done it; thrown it away while they went on living. The clock was striking. The leaden circles dissolved in the air. But she must go back. She must assemble. She must find Sally and Peter. And she came in from the little room.”

„Mrs. Dalloway“ ist kein “schwieriger” Text, die Sprache fließt relativ leicht dahin. Anders als Joyce überschüttet uns der Roman nicht mit unbekannten Vokabeln und überhaupt ist „Mrs. Dalloway“, auch wenn beide Romane wegweisend waren für die moderne Literatur, in vielem ein Anti-„Ulysses“. So schön dieser andere Roman sprachlich an vielen Stellen ist, kompositorisch war er doch ein Gewaltakt, und auch sprachlich wirkt das Ganze streckenweise sehr bemüht. Woolf dagegen bedient sich des leichtesten Plaudertons, man hat streckenweise das Gefühl, einfach an einem plätschernden Bach zu sitzen oder einem eher leichten Kammerkonzert beizuwohnen.

So wenig aufregend auch die Thematik auf den ersten Blick wirkt, der Roman hat natürlich seine Untiefen und Konflikte. Einmal ist da die zentrale Dreiecksgeschichte: die Jugendliebe Peter, der ein bisschen als Luftikus gilt, gerade in Indien wieder heiraten möchte und deshalb zurück in London ist, um Dinge zu regeln, und der solide Ehemann Richard, ein konservativer Parlamentarier. Richard findet Peter lustigerweise einfach großartig, so sicher ist er sich seiner Frau. Peter liebt Clarissa immer noch, wenn man auch schwanken wird, in welcher Weise, und auf Clarissas Seite sind durchaus noch starke Gefühle für Peter, aber heute wie früher sagt ihr die Vernunft, dass Richard die bessere Wahl war. Ein wenig scheint sie Peter zu bemitleiden und wiederum Peter Clarissa ebenso, denn aus seiner Perspektive hat sich eine freie Frau voller Interesse für Kunst und Politik und vor allem deutlich progressivere Ideen stark eingeschränkt und organisiert jetzt vor allem Partys für die High Society. Stärker als in „The Voyage Out“ spielt zudem die Realität des Empires mit in die Geschichte, ohne dass der Text nun durchweg imperialismuskritisch wäre. Zuerst mal ist in einer oberflächlich so netten Geschichte das Empire immer präsent. Der Roman zeigt, wie vom Faktum des Empires durchweg jedes Leben der Figuren berührt wird, und manchmal, etwa in einer Gruppe marschierender Soldaten, die plötzlich alles übertönt, scheint auch die militaristische Realität dieses Empires auf. So hübsch idyllisch Clarissa ihr Leben zu gestalten versucht, ihr London kann keine Idylle sein. Eher freundlich erinnert Peters Rückkehr daran, brutal erinnert uns daran die Geschichte von Septimus Smith, der als Figur ähnlich viel Raum einnehmen dürfte wie Clarissa und Peter und entsprechend als dritte Hauptfigur zählen muss.

Dieser Septimus Smith hat im Ersten Weltkrieg gekämpft und überlebt, aber schwere psychische Schäden davongetragen. Wir begegnen ihm erstmals in der großen auffächernden Szene mit dem Auto des hohen Amtsträgers. Er ist immer in Begleitung seiner Frau unterwegs, die offensichtlich mit der Situation nicht zurechtkommt. Septimus hat “Theorien”, er hört schon länger Stimmen und seit einiger Zeit sieht er Tote, woraus er weitere “Theorien” entwickelt. Manchmal droht er, sich umzubringen, und das wird ihm letztlich zum Verhängnis, denn der Medizin fällt nichts Besseres ein, als die Weltkriegsveteranen, die nicht mehr in die Gesellschaft passen, wegzusperren, wenn auch in ein zumindest dem Vernehmen nach progressives Heim. Es wird aber aus jedem Satz deutlich, dass die Medizin keinen Umgang weiß mit dem, was man heute vielleicht als posttraumatic stress disorder beschreiben würde. Und auch wenn die Autorin selbst ebenso keine Lösung gekannt haben dürfte, man merkt doch jeder Zeile an, dass hier offenkundig etwas falsch läuft. Septimus tötet sich am Ende aus Angst vor dieser Aussicht tatsächlich, und das Gerücht davon dringt noch in Clarissas High-Society-Party ein, sogar diese Idylle erschütternd.

Die sich durch das ganze Werk ziehende Tiefenspannung erwächst nicht allein aus diesem Kontrast, viel mehr sogar aus den kleinen Widersprüchen, dem Ungesagten bzw. besser, dem jeweils nur von dieser Person zu jener Gesagten, aber keinesfalls zu einer anderen. Niemand ist wirklich offen und ehrlich miteinander, aber wir wissen, was die meisten Personen voneinander denken, teils, weil wir in deren Köpfe gucken können, teils, weil sie zumindest gewisse Dinge gewissen Personen sagen. Niemand ist auch wirklich ganz ehrlich mit sich selbst. Wie viel etwa steckt hinter der Jugendepisode, an die sich Clarissa erinnert, als sie ihre beste Freundin Sally Setton küsste, ehe die beiden dummerweise unterbrochen wurden? Und wie kann Sally, nach allem, was wir wissen, der eigentliche Freigeist der Jugendgruppe, ihre alte Freundin so mild-herablassend für diese offensichtlich gemütliche Vernunftehe mit Richard bemitleiden, wo wir zuvor doch erfahren haben, dass ausgerechnet sie es war, die besonders krass die Seiten gewechselt hat und als progressiver Freigeist in altes Geld und einen Titel eingeheiratet hat? Und so weiter. Dabei ist „Mrs. Dalloway“ keiner dieser Romane, der auf das Aufbrechen dieser Widersprüche, auf die große Katastrophe, auf den Eklat zusteuert. Das spürt man im Ton durchweg. Die Tragödie besteht eher darin, dass es immer so weitergehen kann, dem erst seit vier Jahren beendeten und mit so viel Mühe verdrängten Ersten Weltkrieg zum Trotz.

„Mrs. Dalloway“ ist eine perfekte literarische Komposition, doch genau das dürfte der Grund sein, warum nicht nur ich, sondern letztlich im Schnitt Literaturkritik und Literaturgeschichte einige andere moderne Romane, darunter auch Woolfs etwas später erschienenes „To the Lighthouse„, diesem vorziehen. Alles ist vielleicht etwas zu sauber. Das wäre leere Kritik, bloßes Meinen, wenn man es nicht an im Text Behandeltes rückkoppeln könnte. Aber ich denke, mindestens bei den Erzählsträngen rund um Septimus Smith und den Passagen in seinem Kopf werden alle Lesenden mit dem eigenen Kopf darauf gestoßen: da müsste mehr Kontrast sein, ein stärkeres sich Abheben wenigstens dieser Stimme, in einem minderen Grad aber vielleicht auch einiger anderer, von dem plätschernden Plauderton, der Clarissas Welt bestimmt. Das löst „To the Lighthouse“ ein gutes Stück besser, sowohl in den vergleichbaren erzählenden Passagen aus dem erweiterten Familienleben als auch dann mit dem Gewaltakt, mit dem der Krieg als Zeitrafferpassage, die nur die Veränderungen in der kleinen Ortschaft auf der Isle of Skye in den Blick nimmt, wie so ein Brocken quer in der Erzählung steckt. Dennoch ist auch „Mrs. Dalloway“ ein herausragendes Werk und vielleicht der bessere Einstieg in das Werk der Autorin, denn die Virtuosität der Komposition wird hier kaum mit Hürden bezüglich der Zugänglichkeit erkauft. Überhaupt könnte Lesenden 100 Jahre später gar nicht mehr ins Auge springen, was für ein wegweisender Bruch mit bisherigen literarischen Konventionen da vor uns liegt, denn vieles, was Woolf in „Mrs. Dalloway“ macht, hat in der einen oder anderen Weise natürlich Einzug erhalten in zahlreiche spätere Texte. Man stellt dann nur noch fest, dass Woolf es besser kann als die meisten, wenn nicht alle anderen.

Bild: wiki, gemeinfrei.

2 Kommentare zu „Perfekte Polyphonie? „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf.

  1. Tolle Besprechung, die mich daran erinnert hat, wie sehr mich die Lektüre mit- und fortriss, aber in der Wirkung, insbesondere nach dem Tode der Mutter in „To the lighthouse“ an Intensität nicht ganz durchschlug. Aber ich werde das Buch sicherlich wieder lesen, auch mit deinen Gedanken im Hinterkopf. Schön, dass es noch Blogs wie deinen gibt!! Viele Grüße!

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  2. Zunächst mal schließe ich mich der Beurteilung des Vorredners zu deinem Blog an. Es ist sehr erfrischend, hier immer wieder über Bücher wie eben „Mrs. Dalloway“ lesen zu dürfen, als die sechstausendste Rezension von „Yellowface“. :-)

    Was nun die Frage der „Schwierigkeit“ oder „Zugänglichkeit“ dieses Buches betrifft, muss ich persönlich sagen, dass ich das anders empfunden habe. Da ich das Buch von einer ganz zauberhaften Person in Form einer nicht minder zauberhaften Schmuckausgabe geschenkt bekommen habe, habe ich wirklich, wirklich den Versuch unternommen, es zu lesen, letztlich ist es aber beim Versuch geblieben.

    Das Buch ist sprachlich tatsächlich nicht sonderlich fordernd, hat mich dann aber dennoch erschlagen, es hatte irgendwie keine textlichen Haltegriffe, an denen man mal kurz verharren konnte, es ging einfach immer alles irgendwie weiter, ohne dass deutlich ersichtlich gewesen wäre, was da überhaupt denn nun eigentlich weitergeht und wen man denn jetzt nun wieder wobei eigentlich begleitet.

    Daher hab ich es nach vergleichsweise kurzer Zeit aufgegeben. Es mag daran liegen, dass man einen freieren Kopf braucht, als ich ihn zum Zeitpunkt der Lektüre hatte. Es mag sein, dass mir in jeglicher Hinsicht strukturiertere Bücher eher liegen. Es mag aber auch sein, dass es bei mir meistens halt doch nur zur U-Literatur reicht. :-)

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