Der fast vergessene große französische Roman. „Les Thibault“ von Roger Martin du Gard.

Roger Martin du Gard gehört zumindest außerhalb von Frankreich zu diesen beinahe vergessenen Autoren, die einst zu den ganz Großen der Literatur gezählt wurden. Du Gard ist Nobelpreisträger und bekam den Preis wohl vor allem für sein Mammutwerk „Les Thibault“. Ein gut 2000-seitiger Familien- und Gesellschaftsroman, der gern in die Tradition der Familienromane des 19. Jahrhunderts und der Werke von Thomas Mann gestellt wird. Du Gard scheint dauerhaft vergriffen. Als ich vor knapp 20 Jahren durch eine Besprechung in der Jungle World von dem Roman erfuhr, konnte man aber noch relativ günstig an eine alte vierbändige Ausgabe gelangen, die den kompletten Text enthielt. Diese Ausgabe ist mir mit der Zeit leider zerfallen. Anders als bei manchen Autoren, die als vergessen gehyped werden, aber alle zehn Jahre eine Neuauflage erfahren, liegt die einzige Neuauflage von „Les Thibault“ jetzt auch schon wieder über 15 Jahre zurück. Und idiotischerweise wurde dabei nur die erste Hälfte des Romanwerks neu aufgelegt. Zwar wurden sieben Bände von „Les Thibault“ übersetzt, aber die letzten beiden Bände machen über die Hälfte der Seiten des Ganzen aus. Sie ändern auch noch einmal Ton und Form des Romans deutlich. Ich werde hier zuerst die ersten sieben Bände besprechen, die mit dem Tod des Vaters einen gewissen Binnenabschluss liefern und vorerst aus meiner Erinnerung ein paar Sätze zum Folgenden sagen.

„Les Thibaults“ 1-7 erzählt anfangs in relativ abgeschlossenen Einzelromanen die Geschichte der Brüder Jacques und Antoine und den Einfluss, den der Vater auf deren Leben hat. Der erste knapp 100-seitige Text konzentriert sich größtenteils auf Jacques, der unter dem christlich-konservativen Vater leidet. Der Vater bzw. zuerst die Schule entdeckt ein Heft, in dem sich Jacques und ein enger Freund (Daniel) Briefe schreiben, und Jacques, wissend, dass das großen Ärger gibt, flieht mit dem Freund. Schließlich werden sie bei Marseille wieder eingefangen, und Jacques wird in ein Erziehungsheim abgeschoben. Heute vor Rätsel stellt vor allem, was die Eltern den beiden Freunden eigentlich vorwerfen. Man könnte leicht auf die Idee kommen, es gehe um Homosexualität und Homophobie, und vielleicht ist so eine unterschwellige Angst zumindest vorhanden. In den Briefen, die uns vorgelegt werden, findet sich aber nichts in diese Richtung, und Daniel, der Freund, erlebt noch während der Flucht sein erstes Mal mit einer Frau. Tatsächlich scheint den Vater meines Erachtens vor allem die schwärmerische Freundschaft voller Ideale, angestoßen von „problematischen“ Büchern, also etwa den Romanen von Emil Zola und den Gedichten des französischen Ästhetizismus, eine Freundschaft, die Träume hegt, die dem christlichen Konservatismus des Vaters entgegenstehen, das Problem zu sein. Jacques könnte am Ende so ein Utopist, so ein Revolutionär werden. Das ist, auch wenn hier homophobe Untertöne mitschwingen könnten, das im Text ausformulierte Hauptproblem an der Freundschaft. Und diese Interpretation passt auch ganz gut ins Roman-Ganze, denn Jacques wird genauso ein revolutionärer Utopist.
Im zweiten Roman prallen Erziehungsideale aufeinander. Antoine befreit den kleinen Bruder aus dem Erziehungsheim, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Willen problematischer Jugendlicher zu brechen. Mit Hilfe des Beichtvaters des Vaters gelingt es ihm, durchzusetzen, dass der kleine Bruder bei ihm wohnen kann. Doch weder werden Schwierigkeiten ausgespart, die sich ergeben, wenn Bruder Bruder erzieht, noch geht die Gleichung auf, dass das Christentum per se zu schlechter Erziehung führt, der Beichtvater belegt es. Der dritte Roman spannt dann ein weites Feld auf. Er folgt Jacques und Daniel, die wieder vereint sind, durch nächtliche Kneipen und in erste Lieben. Auch Antoine verliebt sich und erlebt eine Liebe zerbrechen. Viel Zeit wird mit der Familie von Daniel und dem von ihr in Trennung lebenden Ehemann der Mutter, einem Schürzenjäger, verbracht. Der fünfte Roman kreist dann vor allem um Antoines Tätigkeit als Arzt. Dieser Roman weist zumindest in der mir vorliegenden Ausgabe einen krassen Bruch auf, indem mitten im Buch plötzlich mitgeteilt wird, dass Jacques seit drei Jahren verschwunden ist, von vielen für tot gehalten wird und nur die Ziehschwester Gise noch nach ihm sucht. Das kommt so unvorbereitet, dass ich mich frage, ob die Übersetzung irgendwo wichtige Passagen ausgelassen hat. Sollte dem nicht so sein, wäre das definitiv eine eklatante Schwäche des Werks. Ein ganz ähnliches Problem hat der Roman mit einigen Affären und Verliebtheiten von Antoine, insbesondere die zu Gise, auf die auch später zurückgeblickt wird, als sei das nichts. Wo die doch gerade in Bezug zu dem, was wir später über Gise und Jacques erfahren, wichtig sein sollten. Ich habe absolut nichts gegen Zeitsprünge, aber die wichtigsten Dinge, die in der ausgelassenen Zeit geschehen sind, erst spät und wie Nebenbemerkungen in die Handlung einzuwerfen, das geht nicht. Der fünfte Roman dreht sich dann vor allem um Antoines Nachdenken darüber, was mit Jacques passiert sein könnte. Der sechste bringt die Familie zum Tod des Vaters wieder zusammen.
Vergleiche mit den sogenannten großen bürgerlichen Romanen und besonders mit Thomas Mann gehen schon allein aufgrund dieser ersten Hälfte von „Les Thibault“ fehl. Schon die Unterteilung in einzelne Romane zeigt es: Das Werk ist strukturell viel weniger geschlossen, auch in seiner Behandlung der Figuren und der mit ihnen verknüpften Thematiken viel zerfahrener. Gerade das Verschieben des Fokus auf die Familie von Daniel im vierten Roman birgt seine Fallstricke. Da gibt es z.B. eine Sterbeszene, die wahrscheinlich anrührend sein soll. Die Mutter von Daniel hat dem Ehemann mit ein paar tausend Francs ausgeholfen und stolpert praktisch in den Tod von dessen Geliebter, worunter die Tochter des Ehemanns und der Geliebten sehr leidet. Wird diese Tochter, wird dieser Ehemann in Zukunft noch eine wichtige Rolle spielen, so dass dieser Tod, der ausgemalt wird wie eine zentrale Szene, aber nicht wirklich wichtig wirkt, da wir die Frau zuvor kaum kannten, zumindest retrospektiv seine Bedeutung entfaltet? Meiner Erinnerung nach nicht. Und es gibt einige Nebenfiguren, die in dieser Art und Weise bedeutungsschwanger in den Text geschoben werden und dann relativ sang- und klanglos wieder fallen gelassen.
Stilistisch dagegen wirkt der Roman sehr viel unmittelbarer von der literarischen Moderne beeinflusst als beispielsweise das Romanwerk Thomas Manns, das allerdings in keiner Weise unmodern ist, sondern sowohl in seiner kompositorischen Struktur als auch später etwa in der Montagetechnik des „Dr. Faustus“ durchaus produktiv die Moderne in sich aufgenommen hat. Allerdings ohne diese Modernität dann in die Welt hinauszuschreien. Auch „Les Thibault“ ist im Vergleich zu Ulysses etwa oder den Romanen Virginia Woolfs noch gediegen, verschiebt allerdings die Erzählperspektive vom Auktorialen schon relativ stark ins Personale, passt den Stil immer wieder stark den Situationen an, etwa wenn wir Antoine gehetzt bei der Arbeit beobachten:

“Neben dem Apparat lag aufgeschlagen der Terminkalender mit dem Programm des heutigen Tages. Ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen, beugte sich Antoine hinunter und las: 1913. Montag, 13. Oktober. 14.30 Madame de Battaincourt. Das kann ich nicht schaf- fen, sie muß warten. 15.30 Rumelles, ja… Lioutin, gut… Madame Ernst, kenne ich nicht… Vianzoni… de Fayelles… Schön… ,,Hallo… 01-32?… Ist Professor Philip da? Hier Doktor Thi- bault…“ Pause.,,Hallo… Guten Tag, Herr Professor… Ich störe Sie beim Essen… Es ist wegen eines Krankenbesuchs. Dringend. Sehr sogar… Das Kind von Héquet… Ja, der Chirurg Héquet… Sehr ernst, ach, keine Hoffnung, eine verschleppte Otitis mit allen. Komplikationen, ich werde Ihnen das später erklären, es ist herzzer- reißend… Aber nein, Herr Professor, er möchte durchaus Sie sehen. Sie können das Héquet nicht abschlagen… Sicherlich, so bald wie möglich, gleich… Ich auch nicht, wegen meiner Sprechstunde, es ist ja Montag… Also, abgemacht: Ich hole Sie um dreiviertel ab… Vielen Dank, Herr Professor.“ Er hängte auf, ging noch einmal die Liste der heutigen Verpflichtungen durch und stieß einen mechani- schen Seufzer der Erschöpfung aus, der zu dem befriedigten Ausdruck seiner Züge in Widerspruch stand.”

So angemessen das in den jeweiligen Passagen wirken mag, so sehr beißt sich dann doch auch manchmal mit dem Gestus des großen bürgerlichen Romans, unter dem der Text zumindest in der ersten Hälfte dann noch im Ganzen steht. Überhaupt lässt sich, zumindest in der deutschen Übersetzung, keine wirkliche stilistische Konsistenz ausmachen, was zusammen mit dem nicht durchgängigen Fokus auf den beiden Brüdern noch einmal dazu beiträgt, dass das Werk etwas zerfahren wird.

Die große verschenkte Chance ist dabei der Vater. Nachdem der im ersten Roman als Patriarch etabliert wird, als Gegenpol zur Antoines Erziehungsideal und zur jugendlichen Aufmüpfigkeit von Jacques, tritt er bereits im zweiten Roman sehr stark in den Hintergrund. Um dann erst im fünften, schon als hinfälliger alter Mann, wieder aufzutauchen, der mit dem Tode ringt. Es wäre so naheliegend gewesen, hier das Zentrum zu verorten: Denn der Vater hat Antoine zahlreiche Auflagen gemacht, damit dieser sich um Jacques kümmern darf. Antoine wirft den Großteil der Auflagen aber bereits in den ersten Wochen nach der Rückkehr des kleinen Bruders über den Haufen. Das hätte doch zu Konflikten führen müssen, die sich durch den zweiten, den dritten und den vierten Roman ziehen und innerhalb derer dann die diversen Handlungen dieser Romane recht gut integriert wirken würden, wäre das ordentlich durchgeführt worden. Aber eben nichts davon. So wie George R. R. Martin im Verlauf von ASOIAF immer stärker vergisst, dass er einen klaren Rahmen mit der Bedrohung aus dem Norden und der Kampagne von Daenerys im Osten geschaffen hat, vergisst auch Roger Martin du Gard bald seinen Rahmen, den er als Konflikt zwischen einem konservativ-christlichen Vater, einem sozialdemokratischen älteren Sohn, einem idealistisch-revolutionären jüngeren Sohn sowie des parallelen Konflikts der beiden Söhne abgesteckt hatte. Und das ist wirklich schade, denn das hätte durchaus sehr viel interessanter werden können, wird doch auch der Vater keineswegs einfach als böser Mensch dargestellt, sondern als einer, der das Ideal der christlichen Nächstenliebe ernst nimmt, daraus aber oft autoritär-paternalistische Folgerungen zieht, die heutige Leser wahrscheinlich ebenso ablehnen dürften wie seine beiden Söhne, die aber innerhalb des Denksystems, aus dem der Vater kommt, durchaus folgerichtig und gut gemeint sind. Auch das spätere Ringen mit den Gefühlen für den Vater durch Antoine hätte mehr Kraft bekommen, wäre der Vater eine stetere Präsenz und kraftvollere Figur geworden.

Hervorheben möchte ich zuletzt die im Großen und Ganzen doch überzeugende sprachliche Gestaltung des Romans, die relativ überzeugenden Figuren, wenn auch nie so plastisch wie bei Mann oder bei Dostojewski, und ein überzeugendes soziales Gefüge, immer wieder auch mit momentanen poetischen Ausmalungen der Atmosphäre von Paris vorteilhaft verknüpft. Die Besonderheit, und damit steht du Gard dann doch wieder ganz in der Tradition des großen bürgerlichen Romans, vielleicht ist das sogar dessen besondere Stärke, ist wie das aus der Haltung des Erzählens ganz organisch vorzugehen scheint, fast als könne es gar nicht anders sein. Modernere Texte, die sich auf das poetische Ausmalen von Situationen fixieren, machen genau das wiederum zum Prinzip. Etwa die Romane des Ästhetizismus, oder die Miniaturen von Else Lasker Schüler und Robert Walser. Du Gard dagegen beginnt ganz nüchtern, und man könnte einen Text erwarten, der vor allem davon getragen wird, was Figuren zueinander sagen.

“An der Ecke der Rue de Vaugirard, als sie schon an den Gebäuden des Internats entlanggingen, blieb Herr Thibault, der während des ganzen Weges noch kein Wort an seinen Sohn gerichtet hatte, plötzlich stehen.,,Nein, diesmal, Antoine, diesmal geht es denn doch zu weit!“
Der junge Mann gab keine Antwort.
Das Internat war geschlossen. Es war Sonntag, neun Uhr abends.
Ein Pförtner öffnete einen Spaltbreit den Schalter.
,Wissen Sie, wo mein Bruder ist?“ rief Antoine. Der andere riß die Augen auf.
Herr Thibault stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. ,,Holen Sie den Abbé Binot.“
Der Pförtner ging den Herren zum Sprechzimmer voraus, zog einen Wachsstock aus der Tasche und zündete den Kronleuchter an.
Ein paar Minuten verstrichen. Herr Thibault war außer Atem und ließ sich in einen Sessel fallen. Wieder brummte er zwischen zusam- mengebissenen Zähnen:,,Nein, weißt du, diesmal, diesmal…!“
„Entschuldigen Sie, verehrter Herr Thibault“, sagte Abbé Binot, der lautlos eingetreten war. Er war sehr klein und mußte sich recken, um Antoine die Hand auf die Schulter zu legen.,,Guten Tag, junger Herr Doktor! Was gibt es denn?“
„Wo ist mein Bruder?“
»Jacques?
„Er ist den ganzen Tag nicht nach Hause gekommen!“ rief Herr Thibault, der sich erhoben hatte.”

Beschreibungen finden wir hier nu als Vermittlung von Fakten über Welt und Figuren. Doch dann finden sich immer wieder ganz unvermittelt solche Passagen:

“Er trat auf den Balkon. Die Dämmerung war noch unentschieden, der Himmel von einem metallischen Grau; die Straße höhlte sich wie eine dunkle Schlucht. Aber über dem Luxembourggarten lichtete sich der Horizont; leichte Nebel stiegen aus der Allee und hüllten die Wipfel der schwarzen Baumgruppen in wattiges Weiß. Gregory spannte die Arme, um nicht zu frösteln, und seine beiden Fäuste klammerten sich um das Gitter. Die Morgenkühle, die ein leichter Wind herantrug, badete seine feuchte Stirn, sein von der Nachtwache und dem Gebet durchfurchtes Antlitz. Schon schimmerten die Dächer bläulich, die Jalousien zeichneten sich hell auf den verräucherten Mauern der Häuser ab.”

Und beides fügt sich zu einem stimmigen Ganzen. Allein dafür lohnt es „Les Thibault“ zu lesen, Denn einen solchen Stil, der quasi aus dem natürlichsten Erzählen heraus zur sprachlichen Schönheit findet, gibt es heute kaum noch. Und kann es vielleicht doch nicht mehr geben, weil die Zeit anderes verlangt Letztlich ist ja der Roman, darin ähnlich Gabriele Tergits „Effingers“ und Silvia Tennenbaums „Die Straßen von gestern“ selbst ein Text darüber, wie die Natürlichkeit des bürgerlichen Erzählens an der Katastrophe zerbricht, die die bürgerliche Gesellschaftsform selbst gebiert. Interessanterweise enthält der Roman dabei selbst ein Beispiel eines bewusster primär auf die sprachliche Erfahrung von Schönheit hin konstruierten Textes, wie er den klassischen Erzähler-Gestus des bürgerlichen Romans abgelöst hat: In der Gestalt der Novelle „Sorelina“ von Jacques, die wir ab Seite 589 in Auszügen zu lesen bekommen:

“Glühende Hitze. Ein Geruch von trockener Erde, von Staub. Der Weg kriecht in die Höhe. Funken sprühen unter den Hufen der Pferde aus dem Fels. Sybil ist voraus. Von San Paolo schlägt es zehn Uhr. Das ausgefranste Ufer hebt sich von dem grellen Blau ab. Azur und Gold. Rechts, so weit man sieht, der Golfo di Napoli. Links hebt sich fest gewordenes Gold aus dem flüssigen Golde: Isola di Capri.”

Bild: Wiki, gemeinfrei

2 Kommentare zu „Der fast vergessene große französische Roman. „Les Thibault“ von Roger Martin du Gard.

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