„Der Menschen Hörigkeit“ von W. Somerset Maugham

„Der Menschen Hörigkeit“ von W. Somerset Maugham ist die Geschichte eines Vollidioten, der dank seiner bürgerlichen Herkunft nie ganz die bitteren Früchte seiner fortwährenden Idiotie zu verdauen hat. Das ist sicherlich nicht, wie der Autor den Roman gesehen hat, aber ich denke, es trifft die Sache deutlich besser.

Philipp hat seine Eltern früh verloren. Er wird von seinem Onkel und seiner Tante großgezogen, auf eine christliche Schule geschickt und soll Priester werden. Doch manchmal lässt er die Schule schleifen, und am Ende reicht es nur für eine Art Wirtschaftsrevisor. Die Ausbildung wird ihm zu dumm, und stattdessen geht er nach Paris, um Kunst zu studieren. Nach knapp zwei Jahren dort stellt er fest, dass er zwar handwerklich begabt ist, ihm aber die künstlerische Vision fehlt. Zurück in London schreibt er sich für Medizin ein und verliebt sich nebenbei in der unerträglichsten Weise. Weil verliebt sein Geld kostet und er statt sich einen Nebenjob zu suchen an der Börse zockt, kann er nach etwa fünf Jahren das Studium nicht beenden und muss sich doch einen Job suchen. Er arbeitet ein bisschen in einem Kaufhaus, der Onkel stirbt endlich, und eine ganze Reihe von Deus Ex Machinas werden in Bewegung gesetzt. Philipp hat wieder Geld fürs Studium, schließt erfolgreich ab, wird als Vertretung zu einem Landarzt geschickt, der ihn gleich als Teilhaber einstellt, und ein junges Mädchen aus einer armen und glücklichen Familie drängt ihm geradezu eine Heirat auf. Das war’s. Ach ja, Philipp ist mit einem sogenannten Klumpfuß auf die Welt gekommen, und manchmal erlebt er deshalb Herabsetzungen. Oft ist es aber eher die eigene Erwartung negativer Reaktionen, die sein Leben schwer macht.

Nachdem ich den Autor mit „Der Magier“ (Rezension folgt), einem relativ kurzen atmosphärischen Roman, entdeckt habe, habe ich mir dieses Hauptwerk aus der Bibliothek besorgt. Es ist leider eine ziemliche Enttäuschung. Der Autor sagt, er habe alles, was er wusste, in dieses Werk gelegt. Das hätte er mal lieber gelassen, denn der Lebensweg ist hanebüchen. Ja, er mag in der Realität vorkommen, der Text ist relativ autobiografisch. Aber nichts als die absolute Unfähigkeit des Protagonisten, einmal bei einer Sache zu bleiben, hält das Ganze zusammen. Der Roman wirkt dabei wie mehrere Romane, notdürftig aneinandergeklebt. Ein typischer Jugend-/Internatsroman in der Art des Törleß auf den ersten 200 Seiten. Dann noch einmal etwa ebenso viele Seiten Pariser Künstlerroman. Dann eine große tragische Liebesgeschichte. Und zuletzt wirkt es, als hätte sich Émile Zola ins Bild gedrängt und Maugham mal schnell gesagt: „Lass mich das fertig machen, du kannst es ja nicht.“ Entsprechend erscheint in einem bis dahin der Gesellschaft recht zynisch gegenüberstehenden Text plötzlich die Anmut des einfachen Lebens als Rettung. Die arme Familie, in die Philipp einheiratet, ist nicht nur arm. Für sie ist es Urlaub, im Sommer drei Wochen in die Hopfenernte zu gehen. Das muss man sich vorstellen: Eine Familie, die in England des späten 19. Jahrhunderts gerade so über die Runden kommt, macht Urlaub, indem sie ihre Stadtarbeit für die wahrscheinlich brutalste Landarbeit eintauscht.

Nun denn. Obwohl kompositorisch misslungen und thematisch teils hanebüchen, liest sich der Text gar nicht so schlecht. Der Roman ist bei Diogenes erschienen, und dieser Verlag hat anscheinend nur ein Auswahlkriterium: Man muss gerade so durch die Seiten fliegen können. Das funktioniert auch hier wieder. Wo man in anderen Texten in der gleichen Zeit 100 Seiten liest, liest man hier 200, ohne etwas Wichtiges zu verpassen. Und es gibt durchaus hier und da ein paar atmosphärische Momente, etwa hier auf Seite 905:

“Aber der Tag war nun zart und blass angebrochen, der Nebel wurde schwächer; er badete alles in weichem Glanz; und die Themse war grau, rosig und grün; grau wie Perlmutt und grün wie das Herz einer gelben Rose. Die Quais und Lagerhallen auf der Surrey-Seite drängten sich in unordentlicher, malerischer Weise zusammen. Die Szene war so schön, dass Philips Herz leidenschaftlich schlug. Er war überwältigt von der Schönheit der Welt. Daneben schien nichts mehr zu zählen.”

Das Internat und der Pariser Künstlerroman sind für sich relativ unterhaltsam, die spätere Liebesgeschichte dann zwar objektiv schrecklich, aber doch in ihrer Melodramatik etwas, das man dann auch nicht mehr weglegt. Hier trifft der Vollidiot Philipp auf seine Meisterin der Vollidiotie. Eigentlich will er nur Freunde ein wenig ärgern, als er mit Mildred flirtet, doch die zeigt ihm die kalte Schulter, so dass er sich gerade deswegen in sie verliebt. Und nun beginnt das, worauf der Titel wohl hauptsächlich verweist. Philipp macht sich immer wieder zum Affen für eine Frau, die einerseits klipp und klar sagt, dass sie nicht viel für ihn übrig hat, aber dann doch mit ihm ausgeht, da er ihr regelmäßig Geschenke macht und sie in Restaurants und Theater ausführt. Sie heiratet dann scheinbar einen anderen, später kommt heraus, dass sie nur die Geliebte ist und jener sie sitzen lässt. Total fertig taucht sie bei Philipp wieder auf, der sie natürlich retten muss, und wenig später setzt sie ihm mit dem besten Freund Hörner auf. Auch das kündigt sie ihm wieder relativ offen an. Ein drittes Mal kommt Mildred zurück, mittlerweile ist sie wohl Prostituierte, und Philipp nimmt sie bei sich auf, bis er irgendwann feststellt, dass sie weiter auf den Strich geht. Sie treffen sich später noch einmal, als Mildred ihn ruft, weil sie schwer krank ist. Ich tippe auf Syphilis, aber sowohl auf die Prostitution als auch die Krankheit selbst wird nur angespielt, sodass ich mich nicht festlegen kann. Diese Liebesgeschichte ist nicht nur aufgrund von Philips unglaublicher Dummheit schwer zu verdauen, sondern vor allem auch, weil wir anscheinend in der zweiten Hälfte Sympathien mit ihm haben sollen. Warum auch sonst sollte Maugham seiner Figur schließlich ein Happy End spendieren? Es liest sich für mich wie eine Art Rache-Fantasie. Der Frau geht es immer schlechter, und Philipp bleibt weiterhin gütig, nimmt sie auch noch platonisch auf, obwohl er sich sonst längst nichts mehr davon verspricht, und sie macht es nochmal und nochmal kaputt.

Das ist der Roman. Habe ich erwähnt, dass er fast 1000 Seiten hat? Wer unbedingt einmal irgendetwas vom Autor ausprobieren möchte, ist sicherlich mit „Der Magier“ besser beraten. Auch ansonsten würde ich mir erst einmal die kürzeren Werke anschauen. „Der Menschen Hörigkeit“ kann man sich vielleicht mit in den Urlaub nehmen, es könnte ein gutes Strandbuch sein. Nicht zu schwer, unterhaltsam, auch irgendwie von historischer Bedeutung, aber nicht wirklich gelungen. Was natürlich den Vorteil hat, dass man nicht mit der allergrößten Aufmerksamkeit lesen muss. Man wird nichts weltbewegendes verpassen.

Bild: Eigenes.

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