War Dostojewskis „Der Spieler“ einst ein ganz anderer Roman?

Dostojewskis „Der Spieler“ könnte der bekannteste Roman des Autors sein. Keine Ahnung, ob es auch der meist gelesene ist. Mir scheint, die Handlung hat sich längst in einer Weise verselbstständigt, wie sich das auch für einige Romane Kafkas und eine Handvoll weitere Texte beobachten lässt. Als Mythos unserer Zeit, als eine einfach „gewusste“ Erzählung. Ein Mann spielt Roulette, verfällt zusehends dem Spiel und verliert alles. Das freilich ist nur ein Teil, und in Wahrheit der kleinste Teil von „Der Spieler“. Wendet man sich einmal wieder tatsächlich dem Text zu, entdeckt man eine Erzählung, die wie so viele Dostojewskis um persönliche Verhältnisse und Machtstrukturen kreist.

„Der Spieler“ ist einzigartig im Werk, denn er spielt weder in Petersburg noch in der russischen Provinz. Vielmehr ist der Erzähler teil einer internationalen, russisch dominierten Gruppe in Roulettenburg, angelehnt an Baden-Baden oder Wiesbaden. Ein General hofft eine Französin zu heiraten, die möglicherweise nur hinter seinem Geld her ist. Der General aber hat gar kein Geld, sondern hofft auf den Tod der alten Tante in Russland. Was er hat, ist beim Spiel draufgegangen. Der Erzähler selbst ist verliebt in Polina und ihr sklavisch ergeben, ein typisches Dostojewski-Motiv. Die hält ihn sich warm, hat aber anscheinend Interesse an jemand anderen. Viele Hoffnungen basieren auf dem Tod der Tante, doch plötzlich steht die quicklebendig in Roulettenburg und verzockt ihr ganzes Vermögen, oder zumindest das mobile, das sich vererben lässt. Und erst jetzt, nach mehr als zwei Dritteln, vielleicht sogar drei Vierteln, der Erzählung beginnt unser Erzähler zum ersten Mal selbst zu spielen und es entwickelt sich das, wofür die Erzählung berühmt ist. Bzw. noch nicht mal. Er gewinnt viel, doch seine Geliebte weist ihn ab, er fährt daraufhin mit der Geliebten des Grafen nach Paris, bringt das Geld durch, kehrt anderthalb Jahre später zurück und stürzt sich nochmal, zögerlich, ins Spiel.

Zwei Dinge sind besonders auffällig: Erstens die Erzählperspektive. Es handelt sich nicht einfach um eine retrospektive Ich-Erzählung, sondern um eine, die mehrfach als unterbrochen und wieder aufgegriffen markiert ist. Was natürlich die immer fragwürdige Glaubhaftigkeit des Ich-Erzählers noch einmal unterminiert, da vieles Spontan, im Rausch der Ereignisse, niedergeschrieben sein soll. Und zweitens: das Verhältnis des Erzählers und aller Anderen zum Spiel.

Darauf wies ich schon in anderen Texten zu Romanen hin, die nur funktionieren können, weil die Autoren die Prämisse ihrer Erzähler selbst zu glauben scheinen (man kann nicht „kafkaesk“ schreiben). In diesem Fall ist das die Möglichkeit, tatsächlich mit den richtigen Verhaltensweisen das Spiel so zu beeinflussen, dass man gewinnen kann. Wo einige halbwegs vernünftig sind (etwa wegzugehen, wenn man viel gewonnen hat), speist sich doch für gewöhnlich die Herablassung gegenüber Menschen, die glauben mit einem System zu spielen, daraus, dass man selbst denkt, es könnte noch ein besseres System geben. Wobei „System“ in diesem Fall nicht bedeutet Rationalität und Wahrscheinlichkeitsrechnung, sondern vielmehr ein besseres Verständnis des geradezu mythisch überhöhten Spiels. Mehrfach weist der Erzähler darauf hin, dass in bestimmten Momenten doch darauf gewartet werden müsste, bis sich das Glück dreht. Und es hat und den Eindruck, er sei fest überzeugt, Erfolg im Spiel stelle sich vor allem ein durch Einsicht in oder besser noch Gespür für die dahinter waltenden schicksalhaften Kräfte. Und auch wenn es sich alleine aus dem Text nicht beweisen lässt, legt doch das Ganze nahe, dass auch der Autor diese Überzeugung teilt. Genau daraus erwächst das immer nur halb rationale hin und her aus Kritik an und Mitgerissenheit durch die Spielwut.

Ein interessanter Nebeneffekt: „Der Spieler“, wie wir ihn heute lesen, ist ein komplett anderer Roman, als der, den Dostojewski schrieb und den wahrscheinlich die meisten Zeitgenossen gelesen haben. Denn nicht nur der Autor, auch die Lesenden, dürften das Spiel noch in einer deutlich mystischeren oder romantischeren Weise betrachtet haben, mehr wie die homerischen Griechen die Launen der Götter als rein als eine Abfolge von Wahrscheinlichkeiten. „Der Spieler“, wie er ursprünglich geschrieben wurde, ist also mehr Tragödie als Farce. Der Protagonist fordert das Schicksal heraus und scheitert an dessen Größe und seiner eigenen Hybris. Für uns dagegen ist es mehr Farce als Tragödie. Der Protagonist ist zu dumm um zu verstehen, dass man gegen die Bank nicht gewinnt und stand von Anfang an auf verlorenem Posten.

Bild: wikiart, gemeinfrei

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