Rilke I – George und Rilke

Bemerkungen zu „Beyond Left and Right: The Poetic Reception of Stefan George and Rainer Maria Rilke, 1933-1945“ (Mark Elliott):

Wenn Literaturwissenschaft kein eigenes ästhetisch-kritisches Bewusstsein entwickelt, kann man viel Richtiges schreiben und doch an der Wahrhheit meilenweit vorbeischießen. Ja, man mag sogar am Verschleiern und Verklären teilhaben. Die Rezeption Rilkes und Georges im NS wird von Elliot wohl weitgehend zutreffend nachgezeichnet als „dionysisch vs apollinisch“, als „formauflösend vs formal streng“. Nicht mal die Frage kommt aber auf, ob die Scheidung überhaupt berechtigt ist, so wird zumindest der Grundgegensatz affimiert. Und so geht’s unter Lyrikfreunden übrigens öfter zu, wenn auch heute oft ablehnend: „George in jedem Fall der formal geschlossenere Dichter.“

Doch ist der gereimte Vierzeiler, den Elliot hervorhebt und u.a. Benn lobt und adaptiert, wirklich höchster Ausweis formaler Strenge? Oder nicht vielleicht eher formaler Faulheit? George ist am größten, wo er über das Drechseln des immergleichen Gedichtkorsetts mit unterschiedlichen Worten hinauswächst. Die Übersetzungen. Der Herr der Insel. Vierzeiler dagegen kann schon das Kindergartenkind basteln, jeder Backstreet Boy beherrscht die Technik. Ist ein wenig wie mit Bauklötzen bauen:

es lässt sich immer reimen
der gleichklang fällt recht leicht
wie wenn von blauen steinen
dir wer die schönsten reicht

die darfst du fröhlich türmen
so wie ein kind im sand
zu trotzen – hoffe – stürmen
auch die: von fremder hand

so wachsen die kastelle
all‘ blau zum himmel hin
und noch an ort und stelle
klagst du: was ist der sinn?*1

Auf der anderen Seite mag Rilke tatsächlich über die längste Phase seines Lebens ein Leierkasten mit (Zeilen-)Sprung gewesen sein. Dass ausgerechnet dieser Rilke weiter verehrt wird, fällt aber vor allem auf seine Fanboys&Girls zurück, die noch immer allein das Rumstolpern des jungen Spätromantikers vom Larenopfer bis zum Buch der Bilder an sich heranlassen. Doch erst in den Neuen Gedichten stehen erste Werke zugleich streng gemeißelt und doch fluid musikalisch, so dass der Vorwurf formaler Inkonsequenz an ihnen sowohl abprallen als auch berührungslos durch sie hindurchgleiten mag. Und zu sich selbst kommt Poesie als radikal durchformtes Textgebilde in den Duineser Elegien, wie weltweit nur unter den Händen ganz weniger anderer Poeten im 20. Jahrhundert. An denen hätte man einen zu messen, der durch seinen Malte selbstkritisch mitteilen lässt, es sei ein einzelner Mensch überhaupt nur fähig nach langem ereignisreichem Leben vielleicht einige wenige große Gedichte zu verfassen.

Könnte die von der Kritik reproduzierte Scheidung in Dionysos-Rilke und George-Apollo womöglich vor allem einer Fetischisierung des Biografischen geschuldet sein? Dass man also dem rechtskonservativen George im Nachhinein eine Poesie unterschiebt, die seiner Haltung entspricht? Und dem politisch-persönlich schwer zu greifenden Rilke auf der anderen Seite eine „verweichlichte“ Leichtfüßigkeit, die vor allem die aufmerksame Lektüre erspart und das Ertragen der Zumutung, darüber überhaupt nachzudenken, was das in der Moderne (und beide SIND sie moderne Lyriker, Rilke und George) überhaupt heißen könnte: Form?

*5-Minuten Gedicht.

Bild: Wiki, gemeinfrei.

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