Macondo beim Entstehen zusehen? Marquez‘ „Das Leichenbegängnis der großen Mama“.

„Das Leichenbegängnis der großen Mama“ ist ein Band mit Erzählungen von Gabriel Garcia Marquez, der einige Jahre vor dem berühmten Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ erschienen ist. Gemeinsam mit dem noch früheren „Laubsturm“ könnte man alle Texte einem Macondo-Kosmos zuordnen. Denn auch für zahlreiche Erzählungen des Leichenbegängnisses ist Macondo explizit oder implizit der Spielort. Nur für einen Text fällt es mir schwer, die Erzählung Macondo zuzuordnen. Ich weiß nicht, wann genau die Texte geschrieben wurden. Sie wirken wie erste Versuche zu dem Größeren, das später entsteht, und sind teilweise etwas unausgegoren. Das könnte darauf hinweisen, dass die Texte vielleicht noch vor „Laubsturm“ entstanden sind, das, wie in meiner Rezension nachzulesen, ein sehr formvollendeter Roman ist.

Auch das Leichenbegängnis hat seine Momente, etwa die erste kurze Erzählung „Dienstag Mittag“, darin eine ältere Frau nach langer ereignisloser Zugfahrt in das Dorf Macondo kommt und unbedingt den Priester sprechen will, um am Grab ihres Sohnes zu beten. Diesen Sohn hat anscheinend das gleiche Schicksal ereilt wie José Arcadio aus „Hundert Jahre Einsamkeit“: Er wurde von einer allein und zurückgezogen lebenden Witwe namens Rebecca aus Versehen erschossen, als er an ihre Tür klopfte. Die Erzählung überzeugt sowohl mit einer gut aufgebauten Geschichte als auch mit starker atmosphärischer Gestaltung. Von den ersten Sätzen an haben wir stets das Gefühl, die Protagonistin durch eine interessante, ein wenig vergessene und unter Hitze leidende Landschaft zu begleiten:

„Der Zug verließ die zitternde Schlucht aus rostbraunen Felsen und fuhr durch die geometrisch angelegten, endlosen Bananenpflanzungen; die Luft wurde feucht, und der Seewind war nicht mehr zu spüren. Eine erstickende Rauchfahne drang durchs Wagenfenster herein. Auf dem schmalen Weg parallel zur Bahnlinie fuhren mit grünen Bananenbüscheln beladene Ochsenkarren. Jenseits des Weges waren auf unbebauten Flächen Bürogebäude mit elektrischen Ventilatoren zu sehen, Baracken aus rotem Backstein und Privathäuser mit weißen Stühlen und Tischchen auf den von staubigen Palmen und Rosenbüschen gesäumten Terrassen. Es war elf Uhr morgens, und die Hitze hatte noch nicht eingesetzt.“

Anderen Texten dagegen fehlt jeglicher roter Faden, der das Ganze im Sinne einer Erzählung zusammenhalten könnte. Der Titeltext, „Das Leichenbegängnis der großen Mama“, etwa ist tatsächlich vor allem eine rückblickende Aufzählung der Taten und Ländereien der großen Mama, die wirkt wie ein konservatives Gegenbild zu den Buendias in Macondo. Da ist nichts drin, das mich dazu bringt zu sagen: „Ich will bis zum Schluss lesen, weil ich dies oder das noch wissen muss.“ Wo die Sprache allein trägt, ist es nicht genug. Aufzählungen können eben nur so und so schön sein; sie sind selten wirkliche Gedichte in Prosa. Auf der stärkeren Seite befindet sich noch „In diesem Dorf gibt es keine Liebe“, eine längere Erzählung über einen Mann, der in einer Kneipe einige Billardkugeln klaut, wobei angeblich in der Kasse auch noch 200 Pesos fehlen, ein Diebstahl, den der Mann bestreitet. Er bringt die Kugeln schließlich zurück, da die Kneipe akut von Schließung bedroht ist. Immerhin schlägt der Mann dort auch seine Zeit tot. Zuvor gehen zahlreiche Streitereien in seiner Ehe voraus, und ein schwarzer Bewohner der namenlosen Stadt war, auch weil sich das ob eines unterschwelligen Rassismus anbot, des Verbrechens angeklagt worden. Das reichte dem Mann aber noch nicht als Grund, die Kugeln zurückzubringen. Der Text ist ganz interessant, mit seinen 34 Seiten aber mindestens zehn zu lang. Zum Ende hin zieht er sich. Ebenfalls zu den stärkeren gehört „Ein Tag nach dem Samstag“, der um einen hundertjährigen Pfarrer kreist, der glaubt, mehrfach dem Teufel begegnet zu sein. Sowie um Rebecca, die wie das ganze Dorf damit zu kämpfen hat, dass ihr Vögel die Fliegennetze zerschießen und dann im Haus verenden, und um einen Neuankömmling in Macondo. Das Setting ist interessant, die Bilder gelungen, das Rätsel der Vögel durchaus spannend. Viel daraus gemacht wird leider nicht. Am Ende glaubt der Pfarrer ähnlich wie in „Hundert Jahre Einsamkeit“ nicht den Teufel, sondern den ewigen Juden gesehen zu haben. Erneut ist rätselhaft, was diese Figur soll und ob sie als Kritik des Antisemitismus gemeint ist oder selbst antisemitisch. Das Rätsel rund um die Vögel bleibt ungelöst, und auch in den Leben der Figuren bewegt sich nichts.

Dieses In-der-Schwebe-Halten des Fantastischen funktioniert deutlich weniger gut als in „Hundert Jahre Einsamkeit“, da die Texte konventioneller gebaut sind und in dem großen Roman durch die Art und Weise, wie sich die Erzählstränge kommentieren, sich normalerweise immer eine Bedeutung des Magischen enthüllt. Auch hat, wie ich in meinem Text zum Roman gezeigt habe, dieser eben durchaus mehrere zentrale Säulen, Geschichten, denen man folgt, in denen sich die Figuren entwickeln, und in denen Fragen beantwortet und neue gestellt werden. Das geht den meisten Texten in „Das Leichenbegängnis der großen Mama“ ab.

Der Band ist durchwachsen, sicherlich keine Pflichtlektüre, auf der anderen Seite aber sehr günstig zu bekommen. Ein Text ist richtig gut, ein, zwei weitere immerhin überdurchschnittlich, einiges zum Vergessen. Interessant dürfte das Ganze besonders für Menschen sein, die wissen möchten, wie sich Macondo für den Autor entwickelt hat. Wer hier nämlich einen einzigen ausgearbeiteten Kosmos ohne Widersprüche erwartet, wird enttäuscht. So wird etwa in „Ein Tag nach dem Samstag“ ebenfalls daran erinnert, dass Rebecca einem Mann auf ihrer Türschwelle erschossen hat, doch hier ist es schon José Arcadio, wie in „Hundert Jahre Einsamkeit“. Die große Mama, anscheinend so unglaublich wichtig für Macondo, deren 92-jähriges Leben sich zumindest teilweise mit Oberst Aureliano Buendia, mindestens aber mit dessen Nachfahren überschnitten haben müsste, kommt bekanntlich im Roman nicht vor. Auf der anderen Seite sind fast alle Verwandten von Rebecca in diesem Erzählungsband abwesend. Der Oberst wird, wie gesagt, erwähnt, auch José Arcadio, aber beispielsweise keine Ursula, obwohl die als langlebigstes Mitglied der Familie das natürliche Gegenbild zur großen Mama sein müsste. Und das sind nur die herausstechendsten Unterschiede.

Bild: Wiki, gemeinfrei.

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