Impressionistische Fantasy ohne Völkergedöns – „Die Türme von Tornor“ (1) von Elizabeth Lynn.

In ihrem letzten Fantasy-Review haben sich Fragmentansichten und Katzenklaue über die Reihe „Die Türme von Tornor“ von Elizabeth Lynn unterhalten. Das klang ganz interessant, und ich suche ja immer noch nach einer wirklich guten, eher klassisch orientierten Fantasy-Reihe. Entsprechend habe ich mir die drei Bücher auch einmal zugelegt. Das Ganze kommt relativ überschaubar daher (zusammen etwa 1000 Seiten) und hat natürlich auch den großen Vorteil, bereits abgeschlossen zu sein.

Der erste Roman heißt in der Ausgabe von Knauer „Die Winterfestung“, im Original „The Watchtower“. Erschienen in den 80ern schon einmal auf Deutsch bei Heyne als „Die Zwingfeste“, war es natürlich unmöglich, einen englischen Titel ins Deutsche zu übersetzen. Und wer erinnert sich nicht an Bob Dylans berühmten Song „All Along the Watchtower“ bzw. „Alles um die Winterfestung“ bzw. „Alles um die Zwingfeste“.

So viel vornweg: Es handelt sich um eine spannende und auch sprachlich interessante Lektüre. Man wird allerdings einige Zeit brauchen, bis man sich darin eingefunden hat, um was für eine Art von Geschichte es sich eigentlich handelt. Am Anfang wirkt es wie ein Text, in dem entweder Feinde Freunde werden oder zumindest gezwungen sind, zusammenzuarbeiten. Der Südländer Col Istor hat die nordische Festung Tornor erobert, und zum Zweck der Stabilisierung stellt er den Getreuen des getöteten Königs vor die Wahl, entweder zu sterben oder für ihn zu arbeiten. Ryke sagt zu, auch um den überlebenden Prinzen Errel zu schützen, der fortan in der Festung als Hofnarr arbeitet. Nachdem durchaus einige Zeit mit dieser Konstellation verbracht wurde, kommen Menschen in die Festung, die angeblich ghyas sind, Boten, Menschen ohne zuordnenbares Geschlecht, zumindest eine, Sorren, wird von Ryke allerdings bald als Frau erkannt. Diese helfen Ryke und Errel zu fliehen, und jetzt zeichnet sich ein Reiseabenteuer ab, bei dem eine Armee aufgestellt wird und zurückgekehrt, um die Festung zu befreien. Auf einigen Umwegen aber findet man gegen Mitte des Romans in die Siedlung Vanima, angeführt von Van, der eine Form des relativ egalitären Zusammenlebens sowie des Kampfes ohne Waffen im Sinne der Selbstverteidigung vertritt. Und gerade, da man denkt, der Roman versage sich komplett den typischen Mechanismen von Macht und Rache und es werde darum gehen, ob dieses Ausweichen gelingen kann, wird doch eine Armee aufgestellt und die Festung zurückerobert.

Durch diese Wechselhaftigkeit der Erzählung kann die Lektüre ein wenig befremdlich wirken. Man wird mehrfach durch das Unterlaufen der Erwartungen an den klassischen Gang des jeweiligen Prototyps der Erzählung leicht vor den Kopf gestoßen, und gerade wenn man sich daran gewöhnt hat, dass das das Prinzip der Erzählung ist, wird die typischste aller Erwartungen doch noch erfüllt, wiewohl mit abweichendem Ende, das ich nicht spoilern möchte. Befremdlich soll hier nicht negativ verstanden werden; die leichte Befremdlichkeit ist vielleicht der interessanteste Aspekt an dem Roman. Sie wird durch die sprachliche Gestaltung noch gefördert, auch wenn es nicht ganz einfach ist, den Finger auf die Gründe zu legen. Das Auffälligste ist die Art und Weise, wie die Bilder im Text stehen: nämlich anders als oft bei Texten, die viel mit Bildern arbeiten. Weniger in einem Rhythmus, der mehrere Sätze Handlungsbeschreibung, Dialog, bildlicher Absatz und so weiter und so fort abwechselt, sondern als einzelne kurze Bilder innerhalb von Handlungsblöcken, etwa:

“Die Sonne schimmerte auf dem braunen Felsgestein. Ryke ritt als letzter, Errel war vor ihm. Norres und Sorren waren um eine Biegung verschwunden oder in irgendeiner Senke. Errel wandte sich um und winkte. Ryke kniff die Augen zusammen. Der Hengst senkte den Kopf, sein Hinterteil spannte die Sprungmuskeln. Ryke gab dem Grauen die Knie. Er erreichte das Ende des Pfades und blickte hinunter. Der Pfad wurde hier breiter. Ryke schaute in ein langes grünes Tal. Er sah dunkelbraune Äcker und die kantigen Strukturen von Gebäuden. Er ließ die Zügel locker und erlaubte dem Grauen, sich selbst seinen Weg den Hang hinab zu suchen.”

Hinzu kommt, dass der Roman weitesten Teils in ausnehmend kurzen Sätzen gehalten ist Auch das befremdet doppelt. Denn einerseits haben wir uns angewöhnt, kurze Sätze vor allem mit temporeichen Passagen zu verbinden, mit Action und Ähnlichem. Und andererseits gibt es zumindest eine Tendenz, dass sich der Kurzsatzstil mit coolen, “edgy”, futuristischen Settings – also Science Fiction, Cyberpunk oder Noir verbindet. Wenn länger ausgreifende Sätze in der neueren Genre-Literatur überhaupt noch ein Zuhause haben, dann in der Fantasy. Meist liest sich das aber in diesem Fall sehr gut, man kann eben durchaus auch kurze Sätze schreiben, ohne dadurch notwendig das Erzähltempo zu erhöhen. Es gibt zugegebenermaßen aber auch Passagen in denen es etwas übertrieben wirken mag:

“Der Himmel war wie ein Juwel: hart, klar und rein. Errel knüpfte die Haspeln seines Hemdes zu. Im hellen Tageslicht wirkten seine Reitstiefel fehl am Platze. Norres kam die Stiege herab. Sie lächelte ihnen zu. Das Hemd stand ihr am Hals offen. Das weiche Gewebe schmiegte sich um sie. Sie wirkte glücklich, jünger und sorgenfrei. Angesichts ihrer Freude verspürte Ryke einen neidischen Stich im Herzen. Sie hob eine Hand zum Gruß und ging hinaus.”

Stark ist Lynn auch darin, eine Welt zu bauen, ohne sie im Detail darzulegen, nach diesem kaum noch erträglichen Reiseführer-Schema, in das Fantasy manchmal gern verfällt. In “Die Winterfestung“ sind die Grenzen der Wahrnehmung unserer Figuren auch die Grenzen unserer Welt. Auf den ersten gut 50 Seiten kennen wir nicht viel mehr als das winterliche Tornor. Die Welt fühlt sich weißlich-grau an, auch sonst in matten Tönen gezeichnet, ein mild-düsteres Pastellgemälde. Gerüchteweise weiß man noch von den nächsten Festungen und die wenigen Dinge, die die Südländer über den Süden fallen lassen. Mit den ghyas erfährt man dann etwas mehr über andere Länder und Städte, aber eben auch nur, was in Gesprächen natürlicherweise vorkommt, und unglaublich viel über die Welt wissen die Reisenden sowieso nicht. Pseudomittelalterliche Reisende haben eben nicht regelmäßig eine ausgedruckte Wikipedia über Land und Leute dabei. Sehr relevant: In „Die Winterfestung“ nimmt einfaches Leben eine relativ große Rolle ein. Wir bekommen mit, wie Menschen am Fluss waschen oder Essen zubereiten, wie in kargen Hütten gelebt wird und welche Sorgen Menschen in den Dörfern plagen. Lynn vermeidet diesen ganzen Völker-Mist in diesem Band vollkommen. Also diese Idee, dass Fantasy Völker braucht und, weil es praktisch unmöglich ist, Kulturen einfach mal so ad hoc zu erfinden, die irgendwie an realweltliche Kulturen angelehnt werden müssen. Aber selbst komplett erfundene Kulturen würden ja noch in diesem Völker-Mist führen. Warum? Weil eigentlich immer mehr Homogenität vorausgesetzt wird, als jemals irgendwo in der Welt existiert hat. “Die XY sind so und so, sie feiern diese und jene Feste, sie haben die Abneigung gegen dies und das.” Leck mich doch. Diese homogenen Kulturbrocken findet man allenthalben in Fantasy-Literatur, während echte mittelalterliche erzählende Literatur spannenderweise relativ unbeleckt davon ist und vor allem Ritter beim Herumrittern zeigt, die an unterschiedliche Orte kommen, wo man vielleicht auch mal unterschiedlich lebt, aber ein „die XY sind so und so“ kommt eher selten vor. Und genauso ist es im Fall von „Die Winterfestung“. Ja, Menschen sind unterschiedlich und unterschiedlich in unterschiedlichen Lebensräumen, für Ryke etwa ist es definitiv ein Kulturschock, dass in Vanima Frauen ganz selbstverständlich kämpfen dürfen. Aber selbst das ist schon wiederum nur eine Abspaltung von Menschen, die sich entschieden haben, sich von bestimmten Einschränkungen frei zu machen, ja freizukämpfen und eine neue Gemeinschaft zu gründen. Es ist nicht der klassische Topos einer ganzen Kultur, in der Frauen kämpfen, Und einer weiteren, in der das auf keinen Fall akzeptiert wird, und einer weiteren, in der Babys Handstand machen und dieses ganze Gedöns. Was es an Kulturräumen gibt und zeigt sich erneut indirekt und in Gesprächen sowohl darüber, was Menschen gerade bewegt, oder, wie im Falle von Sorren, wovon man davongelaufen ist. Dabei vermeidet Lynn es auch, sich bei Themen wie Hautfarbe in festen Analogien zu unserer Welt festzulegen. Die Infos, die wir bekommen, sind, dass manche Menschen dunkler sind als andere und im Süden tendenziell dunkler. Ob und wie sich das in unsere Welt übersetzen lässt? Keine Information. Und auch absolut nicht notwendig. Angeklungen ist bereits, dass Geschlechterrollen zumindest ein Nebenthema darstellen, und auch das ist meines Erachtens interessant gelöst. Innerhalb der Welt kohärent, progressiv, zumal für die späten 70er Jahre, aber erneut nicht durch Predigt und Essentialismus innerhalb des Textes, sondern durch Handlungen, die plausibel sind im Roman-Gefüge.

Ein paar Dinge, die mich abseits der wenigen exzessiven Momente des Kurzsatzstils gestört haben:

– Die Art und Weise, wie lange vor der Ankunft von der Siedlung Vanima bereits gesprochen wird, als handele es sich um eine quasi mythische Gemeinde, scheint mir angesichts der Tatsache, dass diese erst seit zehn Jahren bestehen soll, etwas übertrieben. Da hätte ich eine geheimnisvollere Enthüllung erwartet. Allerdings muss man wohl zugeben, wenn Menschen sich an einem neuen Ort zusammenfinden, um in einer Weise zu leben, die dem Gewohnten nicht entspricht, und wir dann auch noch eine Welt haben, die zu Mythenbildung neigt, so etwas auch schnell gehen könnte. Der Mythos des Haight-Ashbury hat immerhin auch keine zehn Jahre gebraucht, um zu wachsen. Woodstock war Mythos, da waren die drei Tage noch kaum vorbei, und ich denke auch, dass das schwedische Christiania seinen Mythos relativ schnell gebildet hat.

– Dass es plötzlich doch sehr schnell geht, dass sich Van als Anführer dieser nur auf Selbstverteidigung angelegten, beinahe pazifistischen Gemeinde überzeugen lässt, in den Krieg zu ziehen. Ich kann mir Erwägungen dahinter vorstellen, noch fast jeder Pazifist musste irgendwann lernen, dass Frieden und Sicherheit manchmal erkämpft werden müssen. Aber da hätte es ruhig noch mal 20 bis 30 Seiten innere Kämpfe, sowohl geistiger Natur als auch innerhalb der neuen Gemeinde, geben dürfen, bis diese Entscheidung dann getroffen wird.

– Die Figuren werden nicht so richtig plastisch. Man kann streiten, ob das eine Stärke oder eine Schwäche ist. Denn ich denke, es hängt vor allem mit dem gesamten künstlerischen Stil des Werkes zusammen, der mich bei den Bildern, die vor dem inneren Auge entstehen, an mild-impressionistische Pastellzeichnungen denken lässt. Alles ist farblich ein bisschen blass, wobei blass nicht in diesem abwertenden Sinne gemeint ist, in dem manchmal über Literatur gesprochen wird, sondern eben im Sinne einer Pastellzeichnung. Die Figuren sind halb Charakter, halb aber auch einfach ihre Rolle im Gefüge des Ganzen. Sie sind nicht so klar und hart umrissen wie etwa Figuren in „Der Herr der Ringe“. Sie sind zwar klar unterscheidbar, aber nicht in einer Weise individualisiert, die vielleicht auch besser in unsere moderne Welt passen würde als in eine Pseudomittelalterwelt.

„Die Winterfestung“ ist auf jeden Fall lesenswert, nicht nur für Fantasy-Freunde, und präsentiert sich zudem meines Erachtens als abgeschlossener Roman, den man testen kann, ohne sich gleich auf eine Reihe festzulegen. Der Folgeroman scheint zudem mit einem vollkommen neuen Figurenensemble loszugehen. Ich bin gespannt, wie sich diese Serie weiter gestaltet und auf welche Weise am Ende alles zusammengefügt wird.

Bild: Pixabay.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..