Findet kein erzählerisches Zentrum. „Die Träumer von Kendra“ – Elizabeth Lynn, Tornor III.

„Die Träumer von Kendra“ ist der dritte und letzte Teil der Tornor-Trilogie von Elizabeth Lynn. Wie schon der zweite Band ist auch der dritte ein isolierter Roman, mit den Vorgängern nur durch die Welt verbunden und dadurch, dass Geschehnisse aus den früheren Romanen den Figuren ein wenig als historische Ereignisse, Legende oder Mythos präsent sind. Wobei sich auch der dritte Roman stärker auf den ersten bezieht als auf den zweiten. Ich zitiere ausführlich den Klappentext:

“Kendra ist die prachtvollste Stadt im Land Arun, die Metropole der Handelsherren und Kauffahrer. Hier lebt das Mädchen Sorren als Leibeigene einer großen Handelsfamilie, bis sie eines Tages im Traum einen Ruf aus der Vergangenheit erhält. Dort, wo einst ihre Vorfahren herkamen, steht es nicht zum besten, und Sorren muss ihre Stadt und ihre Liebe verlassen, um den Wächtern der sagenumwobenen Festung Tornor in ihrem letzten Kampf beizustehen – dem Kampf gegen das Vergessen ….”

Das nur, um zu sagen, dass der Roman, den wir bekommen, mit dem, was hinten auf dem Buch steht, wenig zu tun hat. Ja, Sorren hat diese Pläne, in den Norden zu gehen, aber über mehr als 500 Seiten hat sie die eben nur, wirklich los geht sie etwa 50 Seiten vor Schluss und die Reise ist schrecklich ereignislos. Aber dazu komme ich später. Den Roman vom Klappentext wird der Verlag wahrscheinlich für besser zu verkaufen gehalten haben als den tatsächlichen Roman, und das dürfte gar nicht so falsch kalkuliert sein. Denn obwohl auch dieser dritte Roman noch einmal viele interessante Momente hat, hat er auch einige Schwächen. Eine der größten: das Fehlen jeglicher aufs Ende gerichteter Spannung.

Welche Geschichten werden also tatsächlich erzählt? Da ist in erster Linie die Geschichte von Arré und Paxe, Anführerin eines der Häuser der großen Stadt Kendra, und ihrer Hofmeisterin, was so viel ist wie eine Anführerin der Wachen. In Kendra sind Schwerter verboten, doch schon relativ zu Beginn lernen wir, dass zumindest ein Haus der Meinung ist, dass sich das tatsächliche Gesetz nur auf Langschwerter bezieht. Nun beginnen auch die anderen Häuser mit Kurzschwertern aus Holz zu üben und es werden Schwerter in die Stadt geschmuggelt. Des Weiteren steht eine Hochzeit bevor, die das Machtgefüge verändern könnte, und die Hexen verlangen Zugang zum Rat. Eher zur Nebengeschichte werden die Frage nach Sorrens Herkunft, höchstwahrscheinlich aus dem Norden, und ihre seltsamen Träumen und das wachsenden Bedürfnis, in diesen Norden zu reisen. Eine weitere Nebengeschichte ist die Liebesaffäre zwischen dieser Sorren und der Hofmeisterin Paxe.

Seine Stärken hat der Roman im atmosphärischen Aufbau der Stadt und in vielen kleinen Beziehungen. Wir bekommen viel Alltag mit: Gänge zum Markt, kleine Streitereien, die Gerüche der Stadt, allerlei solches mehr. Allerdings folgt der Text dabei kaum mehr der in meinen vorangegangenen Rezensionen schon besprochenen ungewöhnlichen Mischung von Handlungen, Gedanken und kurzen Beschreibungen, sondern wechselt viel konventioneller zwischen Beschreibungen und handlungsbasierten bzw. dialogischen Passagen ab, wobei spätestens ab dem zweiten Drittel die atmosphärische Arbeit etwas erlahmt.

Die größte Schwäche habe ich schon angesprochen: keine Spannung. Meine Zusammenfassung sollte deutlich machen, dass eigentlich genügend Konfliktpotenzial vorhanden ist, um spannende emotionale Geschichten sowohl von Liebe als auch von sozialen Verwerfungen zu erzählen, aber nichts davon konnte wirklich entfaltet werden und das meiste wird geradezu antiklimaktisch sofort aufgelöst, wenn sich ja mal Spannung andeutet. Ein paar Beispiele: Die Hofmeisterin und die Leibeigene haben also eine Affäre? Könnte das in irgendeiner Weise problematisch sein? Gibt es irgendwen, der das nicht herausfinden sollte? Und könnte die Hofmeisterin eifersüchtig werden, als Sorren immer deutlicher macht, dass sie sie verlassen und in den Norden reisen würde? Nichts dergleichen. Affären sind an der Tagesordnung, gleichgeschlechtliche Liebe ist an der Tagesordnung, und hey, wenn du gehst, dann gehst du halt. Nicht weiter schlimm. Klar: Liebe muss nicht immer in Drama ausarten, und der Text hätte ja noch andere Themen, um für Spannung zu sorgen. Z.B.: Sorren findet irgendwann heraus, dass sie selbst magische Kräfte besitzt und hat nun die Sorge, dass ihre Reise nicht erlaubt werden könnte, weil die Hexen sie für sich reklamieren. Kurzes Gespräch mit den Hexen: Ach Quatsch, du bist vollkommen frei zu tun und zu lassen, was du willst. Und: Sorren trainiert mit einem Bogen, um auf ihrer langen Reise jagen zu können. In der Stadt sind zwar offiziell nur Schwerter verboten, tatsächlich aber sind außerhalb der Stadtwachen dem Geiste des Gesetzes nach alle Waffen verboten. Könnte man nicht daraus Spannung aufbauen? Große Konsequenzen, falls das entdeckt wird? Nein, wird nicht entdeckt, die Möglichkeit wird nicht einmal angedeutet. Und so geht es weiter: Als relativ spät im Roman sich endlich andeutet, dass der Konflikt um die Schwerter eskalieren könnte, löst sich das innerhalb von zehn Seiten auf. Als herauskommt, dass der Bruder von Arré Mörder auf sie angesetzt hat, löst sich das Problem innerhalb von zehn Seiten. Und als Sorren endlich in den Norden aufbricht, eine Reise von immerhin zweieinhalb Monaten durch spätestens ab der zweiten Hälfte wenig besiedeltes Land, kommt es auf dieser ganzen Reise zu keiner gefährlichen Begegnung. Auch diese Reise wird auf wenigen Seiten abgehandelt. Besonders letzteres ist ein dankbares Beispiel für ein weiteres Problem des Textes: Die Idee eines Landes, in dem es so friedlich zugeht, dass Waffen größtenteils verboten wurden oder ohne explizites Verbot abgeschafft, wirkt nicht so wirklich durchdacht. Nicht nur, dass es nach allem, was wir aus dem ersten und zweiten Buch wissen, weiterhin wilde Tiere geben sollte. Wir erfahren auch, dass es nicht wenige sogenannte Gesetzlose gibt. Wir wissen aufgrund des Mord-Komplettes früher auch, was Gesetzlose sind: Verbrecher, die von jedem und zu jeder Zeit getötet werden dürfen und wir dürfen wohl davon ausgehen, dass die sich deshalb zu Gruppen zusammenschließen. Sorren hat einen Moment Sorge wegen ihrer Reise und fragt, ob die Gesetzlosen denn Waffen haben? Nein, niemand würde ihnen Waffen verkaufen, erfährt sie. Und Waffen gestohlen hätten die doch wohl auch nicht, denn es gibt so wenige Waffen, wo soll man die stehlen? Und ich soll jetzt glauben, dass diese Gesetzlosen, die jeden Tag durch jeden Bürger des Landes in Lebensgefahr schweben, nicht auf die Idee kommen, sich wenigstens mal Stöcke anzuspitzen und im Feuer zu härten oder einen ordentlich angepassten Stein an einem Stock so zu befestigen, dass ein halbwegs stabiler Streitkolben entsteht? Das haben wir in unserer Urzeit-Menschenphase als Grundschulkinder hinbekommen. Ganz davon abgesehen nutzt ein Bauer gegen Ende des Romans eine Heugabel, um sich gegen solche Gesetzlose zu verteidigen. Haben Gesetzlose am Ende einfach nicht genügend Erfahrungspunkte in das Talent Heugabel investiert? Und selbst in Kendra ist das Ganze ein bisschen komisch. Immerhin scheinen die Adelshäuser im Großen und Ganzen, nur notdürftig vermittelt über den Rat, in einem Naturzustand gegeneinander zu existieren, der nach Hobbes zwischen Staaten herrscht, wenn es keine größere Struktur gibt, die die militärische Macht hat, Frieden zwischen diesen Staaten durchzusetzen. In Kendra ist das Ganze noch ein wenig absurder, da jedes dieser Häuser mit Speeren bewaffnete Wachen zu haben scheint, während der Rat selbst keine Armee hat, um für Frieden zwischen den Häusern zu sorgen. Da scheint es mir doch etwas fragwürdig, dass über Jahrzehnte in einem Konkurrenzverhältnis, das durchaus kapitalistisch zu nennen ist, niemand je versucht hat, eine gewaltsame Lösung herbeizuführen. Erst jetzt, da ein Emporkömmling Schwerter in die Stadt schmuggelt.

Nun braucht es nicht dringend aufs Ende gerichtete Spannung, um einen gelungenen Roman zu schaffen, wobei ich behaupten würde, dass viele Romane, die man ins Feld führen möchte, um das zu zeigen, diese Art von Spannung doch besitzen. „Der Zauberberg“ etwa lebt von einer steigenden Gespanntheit zwischen den verschiedenen politischen und philosophischen Positionen. Aber: Wenn das fehlt oder zumindest auf sehr kleiner Flamme gehalten wird, braucht es zwingend besonders überwältigendes im Bereich der Tiefenspannung, im Bereich der persönlichen und sozialen Verhältnisse und/oder im Bereich von Sprache und Komposition. Und da stolpert „Die Träumer von Kendra“, auch gerade im Vergleich mit den beiden Vorgängerromanen. Ja, es gibt ein unglaublich großes Ensemble, aber wirklich Kontur gewinnen doch nur Sorren, Arré und Paxe. Und gerade Sorren tut es nicht gut, dass ihr großer Traum, in den Norden zu gehen, niemals mit irgendeiner Notwendigkeit außer ihrer selbst verknüpft wird, dass sie entsprechend niemals sich zu orientieren hat zwischen von außen an sie herangetragenen und ihren inneren Bedürfnissen. Viele weitere Figuren sind nur so kurz und offenkundig als Demonstrationsobjekte für diesen oder jenen Aspekt der Stadt anwesend, dass es schwer ist, mit ihnen auch Bilder zu erleben. Dass die Charaktere wenig Profil und fast gar keine Fallhöhe bekommen, dürfte dann auch der Grund sein, warum insgesamt von der Stadt Kendra wenig bleibt, man nach der Lektüre schon relativ bald kein Gefühl mehr hat für eine Realität dieser Stadt, und das trotz zahlreicher Beschreibungen.

Die ersten beiden Tornor-Romane waren mindestens weit überdurchschnittliche High Fantasy, die trotzdem so viel gegen die Genre-Konventionen erzählten, dass viele sie vielleicht gar nicht mehr der High Fantasy zuordnen wollten. Insbesondere gelang es der Autorin, eine Welt mit glaubhaften sozialen Verhältnissen zu entwickeln, ohne in irgendwelche Erklärungen über Kulturen und sonstige Reiseführer-Exzesse zu verfallen. Der dritte Roman versucht durchaus, diesen Weg weiter zu beschreiten, hat aber deutlich größere Probleme bei der Balance und ist letztendlich vielleicht auch einfach zu lang geraten. Eine knackigere Entwicklung des Konfliktes in Kendra mit einem deutlich stärkeren Fokus in der zweiten Hälfte auf Sorrens Abreisepläne und der schlussendlichen Reise bei einem Umfang, der stärker an die ersten beiden Romane erinnert, hätte den Roman höchstwahrscheinlich besser gemacht. Nun möchte ich trotzdem nicht empfehlen, nur die ersten beiden Texte zu lesen, zumal es definitiv deutlich schlechtere Fantasy gibt als „Die Träumer von Kendra“. Aber theoretisch könnte man das. Man könnte auch nur den zweiten oder nur den dritten lesen, denn die Texte stehen jeweils doch sehr stark für sich allein.

Zum Schluss die obligatorische Verzweiflung über die Titelwahl der Neuübersetzung. Welche gottverdammten “Träumer von Kendra” denn? Ja, Sorren hat magische Träume, und sie trifft auf eine Hexe, die das auch kann. Das alles zusammen macht vielleicht zehn, mit viel Glück 20 Seiten des Textes aus. Das Original hieß „The Northern Girl“, die Übersetzung der alten Ausgabe „Die Frau aus dem Norden“. Und das war genau richtig, denn die Protagonistin ist nun einmal das: eine Frau aus dem Norden. Und das wird tatsächlich relativ häufig thematisiert.

Bild: wikiart, gemeinfrei.

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