„Alte Meister“ gilt als Thomas Bernhards komplexester Roman. Ich halte dieses sein letztes Werk zumindest für den stärksten unter den späteren, also den Monolog-Romanen. Dabei ist die Ausgangssituation sogar vielleicht noch reduzierte als im zuvor besprochenen „Holzfällen“. Der Erzähler beobachtet den Kunstkritiker Reger, der regelmäßig auf der Sitzbank im Bordone-Saal vor Tintorettos „Weißbärtiger Mann“ sitzt. Er erinnert sich dabei an Dinge, die Reger über Kunst gesagt hat bzw., die er dem oft an seinen Lippen hängenden Museumswachmann Irrsigler gepredigt hat. Über Kunst, den schrecklichen österreichischen Staat, die Menschheit und die Welt. Harsche Urteile in typisch bernhardscher Manier. In der zweiten Hälfte unterhält sich der Erzähler direkt mit Reger, wobei wir dennoch dessen Gedanken immer gefiltert und oft in indirekter Rede präsentiert bekommen. Zum Schluss begeben sich die beiden in eine Aufführung von Kleists „Der zerbrochene Krug“, die – naturgemäß – schrecklich ist.
Das gesamte „Alte Meister“ ist eine Simulation von Nähe, deren eigentliche Distanz sich die Lesenden erst entpacken müssen. Während die Brüche von „Holzfällen“ vor allem aus den Widersprüchen zwischen Erinnerungen des Erzählers und den Geschehnissen auf der Party entstanden, haben wir es hier schon mit einer oft gleich doppelt gebrochenen Erzählhaltung zu tun. Denn regelmäßig bekommen wir Aussagen in einer Form präsentiert, die sich herunterbrechen lässt pressen läßt auf “dies und das … habe Reger gesagt, sagte Irrsigler” oder auch noch einmal zeitlich entrückt etwa in dieser Form (direktes Zitat): “…dachte ich, neben ihm auf der Bordone-Saal-Sitzbank sitzend, denke ich.” Damit soll nicht gesagt sein, dass Bernhard nicht von den Dingen überzeugt ist, die er seinen Protagonisten in den Mund legt, doch er ist klug genug, zu wissen, dass Literatur mehr ist als wütend zu predigen. Für uns als Lesende stellt sich die Situation zumindest deutlich anders da. Denn da sind zwei Figuren, die nur konsumieren und akzeptieren, was die Autorität Reger sagt. Allein dadurch wirken die beiden doch etwas jämmerlich, und durch ihre Jämmerlichkeit wird auch der Prediger, der Kritiker Reger, zu einer etwas jämmerlichen Figur. Will man so sein? Die Predigten einfach eins zu eins schlucken? Und da ist noch mehr. Der Bernhardsche Hass auf den Staat allgemein und besonders auf den österreichischen ist bekannt. Auch in „Alte Meister“ wird der Staat wieder bei jeder Gelegenheit verdammt und alle Menschen, die irgendwie Geld vom Staat erhalten, werden niedergemacht. Außer, wenn es dann um Toiletten geht. Hier wünscht sich der Kritiker Reger nun plötzlich ein Toilettengesetz, dass penibel die Reinhaltung aller öffentlichen Toiletten, auch der in privaten Institutionen, fest schreibt. Hier plötzlich wird im Staat alle Gewalt gewünscht, die der nur entfesseln kann. Für Toiletten. Auch das Verhältnis zur Kunst ist diffizil. Reger hast die alten Meister. Das sei doch alles nur Staatskunst. In einem der reflexiven Ausbrüche aber wird klar: Er hasst alle Kunst. Denn alle Kunst, sogar alle Philosophie, mit der man sich zu intensiv beschäftige, werde ja doch zu Kitsch. Und was ist Reger? Genau: Kunstkritiker. Was macht er beruflich? Er beschäftigt sich intensiv mit Kunst. „Zu“ intensiv. Irgendwann taucht im Bordone-Saal ein Engländer auf, der schwört, genau so einen „Weißbärtigen Mann“ Tintorettos zu Hause hängen zu haben, und auf diese Weise erschüttert Bernhard einmal mehr unser Vertrauen darin, den Augen überhaupt trauen zu können. Und zuletzt lernen wir, dass Reger in Trauer um seine viel zu früh verstorbene Frau immer wieder auf diese Sitzbank zurückkehrt, wo diese ihn einst vor seinem einsamen Leben sozusagen gerettet habe. In der Wut auf einfach alles steckt also auch ein sehr persönlicher Schicksalsschlag.
„Alte Meister“ trägt im scheinbaren Widerspruch zum entfalteten Inhalt den heiteren Untertitel „eine Komödie“. Das ist nur auf den ersten Blick unpassend. Diese grotesk übersteigerte Ablehnung von allem ist lustig, und scheint besonders in „Holzfällen“ und „Alte Meister“ fast bis in die Selbstparodie getrieben. Ich muss nicht unbedingt laut lachen, wenn ich das Buch wieder, mit leichtem Wiener Einschlag, vorgetragen von…, sicher gut einmal jährlich anhören. Aber zum Schmunzeln oder Grinsen bringt es doch oft. Etwa in Regers berühmter Heidegger-Kritik:
“Heidegger ist der Pantoffel- und Schlafhaubenphilosoph der Deutschen, nichts weiter. Heidegger kann ich nicht anders sehen, als auf der Hausbank seines Schwarzwaldhauses, neben sich seine Frau, die ihn zeitlebens total beherrscht und die ihm alle Strümpfe gestrickt und alle Hauben gehäkelt hat. Ich habe eine Reihe von Fotografien gesehen, die ich Ihnen einmal zeigen werde, auf diesen Fotografien steigt Heidegger aus seinem Bett, steigt Heidegger in sein Bett wieder hinein, schläft Heidegger, wacht er auf, zieht er seine Unterhose an, schlüpft er in seine Strümpfe, macht er einen Schluck Most, tritt er aus seinem Blockhaus hinaus und schaut auf den Horizont, nimmt er seine Haube vom Kopf, setzt er seine Haube auf, hält er seine Haube in den Händen, liest er, löffelt er Suppe, schneidet er sich ein Stück (selbstgebackenes) Brot ab, schlägt er ein (selbstgeschriebenes) Buch auf, macht er ein (selbstgeschriebenes) Buch zu, bückt er sich, streckt er sich, und so weiter.
Es ist zum Kotzen.”
Warum Bernhard wahrscheinlich sogar besser gehört als gelesen wird, habe ich schon im Artikel zu „Holzfällen“ erklärt.
Bild: wiki, gemeinfrei.